Montag, 3. Dezember 2007

Prestigeobjekt "bemannte Raumfahrt"? - In Europa eher nicht!

Am 6. Dezember wird, wenn alles nach Plan geht (und es sieht gut aus) die Raumfähre ATLANTIS starten. An Bord: das Weltraumlabor COLUMBUS, das zweite Forschungsmodul der internationalen Raumstation ISS.
Raumfahrer.Net: Nikolausgeschenk für Europas Raumfahrt.

Dirk Lorenzen schrieb aus diesem Anlass einen ausführlichen Artikel auf FTD.de: ISS wird endlich ausgebaut.

Dabei weist er auf den oft übersehenen Umstand hin, dass es nach der vorhergesehenen Einstellung der Flüge des "Space Shuttles" schwierig sein wird, die ISS zu versorgen, geschweige denn, weiter auszubauen. Schlimmer noch:
Wenn der Shuttle nicht mehr fliegt, sind die Astronauten jahrelang allein auf die russische Soyuz-Kapseln angewiesen - der amerikanische Shuttle-Nachfolger ist frühestens 2015 startbereit. Sollte auch das russische System einmal länger ausfallen, droht unter Umständen das Ende der ISS, denn ohne Besatzung ist die Station nicht lang im All zu halten.
Zur Versorgung der ISS wurden, neben den altbewährten russischen automatischen Transportraumschiffen vom Typ "Progress" zwei erheblich leistungsfähigere automatische Versorgungsschiffe entwickelt, und zwar absichtlich nach zwei unterschiedlichen Konzepten: das in Japan entwickelte H-2 Transfer Vehicle (HTV) und das in "Europa" (Deutschland, Italien, Frankreich) entwickelte Automated Transfer Vehicle (ATV).
ATV beim Ansteuern der ISS
ATV beim Ansteuern der ISS (künstlerische Darstellung). Wie die Progress M und im Gegensatz zum Shuttle oder dem HTV kann das ATV vollautomatisch andocken. Zur Zeit wird das erste ATV, das den Namen "Jules Verne" trägt, in Kourou auf den Start vorbereitet. Der Start auf einer "Ariane 5" ist für den 14. Februar 2008 vorgesehen. - Bildquelle: NASA-Website

HTV und ATV ergänzen sich in ihren jeweiligen "Spezialfähigkeiten", außerdem hat gerade die Geschichte des Space Shuttles gezeigt, wie gefährlich es sein kann, auf einen Typ Raumfahrzeug allein zu vertrauen. Gegenüber einer Progress M1 der neuesten Bauart mit maximal 3,2 t Nutzlast (Progress M: 2,3 t) kann das das HTV immerhin 6,0 t Fracht zur Raumstation bringen, das ATV hat sogar eine Kapazität von 7,6 t. (Der Shuttle kann theoretisch 10 t Versorgungsgüter transportieren.) Allerdings können HTV und ATV keine Mannschaften zur ISS befördern.
Jedenfalls wenn nach den bisherigen Planungen geht. Das könnte sich ändern:
"Ich setze auf eine europäische bemannte Rakete", sagt der deutsche Astronaut und DLR-Vorstand Thomas Reiter. "Das würde unseren Stellenwert gegenüber anderen Raumfahrtnationen wie Russland, USA und in Zukunft auch China und Indien erhöhen." Bisher ist Europa nur bei den Materialtransporten gut platziert: Im Februar bringt erstmals das unbemannte Transportraumschiff "ATV" knapp zehn Tonnen (sic!) Material zur ISS. Ein bemannter Zugang ins All ist politisch noch unerwünscht. Doch das technische Vermögen hat Europa: Columbus ist ein bemanntes Raumschiff ohne Antrieb. Das "ATV" hat einen exzellenten Antrieb, ist aber unbemannt. Man müsste nur beide Geräte geschickt kombinieren. "Eine eigene bemannte Rakete ist machbar", sagt Reiter. "Wenn nicht jetzt, wann dann?"
Ansätze für einen europäischen bemannte "Zugang zum All" gab es schon mehrere. Meistens liefen sie nach dem Schema ab, dass Frankreich ein Projekt anschob, das dann an deutschen Bedenken scheiterte. Ohne deutsches Know-How geht in der europäischen Raumfahrtbehörde ESA wenig, ohne deutsches Geld gar nichts. In einem Fall - dem Raumgleiter "Sänger II" - wurde von deutscher Seite ein ebenso technisch perfektionistisches wie aufwendiges Konzept vorgeschlagen - das schon die erste "Technologiefolgenabschätzung" politisch nicht überlebte: die "Sänger"-Befürworter hatten ihr ehrgeiziges Projekt zu offensichtlich " schöngerechnet".
Ein deutsches Argument gegen "eigene" europäische bemannte Raumschiffe war lange Jahre, dass man nicht unnötig die gewünschte enge Zusammenarbeit mit den USA durch ein "Konkurrenzprojekt" gefährden wollte. Das wichtigste Argument war aber immer: "Raumfahrt gilt bei unseren Wählern als teures Prestigeunternehmen, bemannte Raumfahrt sogar als glatte Geldverschwendung, das bekommen wir nicht durch."
ATV an der ISS gedockt
Risszeichung eines an der ISS angedockten ATVs. Man erkennt deutlich, dass das ATV einigen "begehbaren" Raum bietet. Bildquelle: NASA-Website.

Tatsächlich ist "bemannte Raumfahrt" auch heute noch ein Prestigeobjekt. Weniger für Russland oder die USA, die schon seit gut 45 Jahren "im Geschäft" sind. Für die aufstrebende Macht China umso mehr: chinesische Raumfahrt. Mit dem bemannten Shenzhou-Raumschiff demonstrierte China seinen Anspruch, auch auf technischem Gebiet die "kommende Supermacht" zu sein. Chinesische Medien werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass China als einer von nur drei Staaten die technischen Fähigkeiten für die bemannte Raumfahrt hätte (dabei mitgedacht: "... und Japan und die Westeuropäer nicht!"). Die Tatsache, dass Shenzhou in hohem Ausmaß auf russischem Know-How beruht, wird dabei allerdings gern verschwiegen.

Sind die "Westeuropäer" in der Lage, ein bemanntes Raumschiff zu bauen?
Thomas Reiter meint "ja" und er weiß, wovon er spricht.
Das ATV ist ein frei fliegendes Raumfahrzeug, das alle Sicherheitsanforderungen bemannter Systeme erfüllt. (Also kein Raumstationsmodul wie "Columbus" oder das in der Shuttle-Payloadbay mitfliegende "Spacelab".) Es ist also wie ein bemanntes Raumfahrzeug konstruiert und gebaut. Das muss es auch, da es ja die meiste Zeit Bestandteil eines bemannten Komplexes, der ISS, ist. So genügt z. B. das gesamte Antriebssystem den Ansprüchen an ein bemanntes Fahrzeug, schließlich wird es auch benutzt, um die gesamte ISS auf eine höhere Umlaufbahn zu bringen und dabei auch die Lagekontrolle zu übernehmen.
Was fehlt, sind Untersysteme, die ein bemanntes Raumschiff auszeichnen, am wichtigsten wohl das Lebenserhaltungssystem. (Die nötige Technik ist aber vorhanden und wird z. B. bei "Columbus" genutzt .) Und - es gibt keine Rückkehrmöglichkeit.

Auf Basis des ATV ließe sich also durchaus ein bemanntes Raumschiff entwickeln, sogar recht kurzfristig, allerdings mit einigem Aufwand: Die Ariane 5 Rakete müsste "man rated" werden, d. h. sie muss den Sicherheitsanforderungen für bemannte Flüge entsprechen. Das dürfte in relativ kurzer Zeit machbar sein, denn die Ariane 5 wurde u. A. als Träger für den (aufgegebenen) europäischen Raumgleiter "Hermes" entwickelt und ist, nach anfänglichen Schwierigkeiten und Fehlstarts, eine zuverlässige Trägerrakete geworden. Schwieriger ist das Problem der Rückkehrkapsel. Man könnte, wie China, einen "Lizenzbau" der Sojuz-Rückkehrkapsel erwägen, aber auch die Entwicklung einer eigenen "europäischen" Kapsel (oder eventuell eines Gleiters) ist, rein vom technischen Können her, möglich (siehe Atmospheric Reentry Demonstrator). Letzten Endes ist alles eine Frage des Budgets.

ATV-Progress-Apollo
Größenvergleich des ATV mit einer russischen Progress (die bemannten Sojus-Raumschiffe sind genau so groß) und einem US-amerikanischen "Apollo"-Raumschiff. Das ATV hat 45 m³ unter Druck stehenden Innenraum, gegenüber nur 8,50 m³ bei einer Sojus TMA (5,0 m³ in der Orbitalsektion, 3,50 m³ in der Kommando- bzw. Rückkehrkapsel) und 6,17 m³ in der Apollo-Kommandokapsel. (Zum Vergleich: Space Shuttle Orbiter, Flugdeck und Wohndeck zusammen: 73 m³. Das chinesische Shenzhou-Raumschiff hat, dank seiner gegenüber der Sojus stark vergrößerten Orbitalsektion, 14.00 m³ Kabinenvolumen). Bildquelle: NASA-Website.

Vom technisches und industriellen Können, vom "Know How", her, hinkt "Europa" in der Raumfahrt keineswegs hinterher, auch nicht in der bemannten Raumfahrt. Ginge es allein um einen Propagandaerfolg, hätte die ESA schon vor 25 Jahren eine eigene Raumkapsel in die Erdumlaufbahn bringen können - das Know How war vorhanden. Wäre das Budget bewilligt worden, gäbe es seit einigen Jahren einen bemannten europäischen Raumgleiter (den "Hermes") und vielleicht eine eigene Raumstation auf Basis des Columbus-Moduls. (Auch das "Harmony"-Verbindungsmodul der ISS ist eine "europäische", d. h. überwiegend italienische, Entwicklung, allerdings im Auftrag der NASA.)

Anders als in den Jahren des "Space Race" zwischen den USA und den UdSSR - und anders als heute in China - können Weltraumprojekte nicht mehr allein mit Hinweisen auf das Prestige der Nation "verkauft" werden, die Industrie, die Wissenschaft und nicht zuletzt die Steuerzahler wollen einen erkennbaren Nutzen sehen.

Allerdings dürfte die Art und Weise, wie in den meisten populären Medien Deutschlands über Raumfahrt (und andere "spektakuläre" Gebiete der Technik und Naturwissenschaft) berichtet wird, wenig hilfreich dabei sein, den Nutzen dieser "technischen Abenteuer" zu vermitteln: "Völlig losgelöst ... .

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