"Völlig losgelöst / Von den Fakten / Schreibt die Presse / Völlig ahnungslos!"

In Anlehnung an den Refrain von Peter Schillings Schlager "Major Tom": "Völlig losgelöst / Von der Erde / Schwebt das Raumschiff
Völlig schwerelos!"


Die gute Nachricht: es gibt heute in deutschsprachigen Medien sehr viel mehr Artikel zu naturwissenschaftlichen und technischen Themen als vor 20 Jahren. Die schlechte Nachricht: Außerhalb der auf "Wissenschaft und Technik" spezialisierten Medien, Beilagen und Kolumnen lässt das inhaltliche Niveau der Berichte über naturwissenschaftliche und technische Themen sehr zu wünschen übrig.

Ein aktuelles Beispiel, keineswegs besonders schlimm, bewusst nicht aus dem Boulevard-Umfeld gewählt, nicht über ein "brennendes" oder sehr kontroverses Thema und weder ein "Schnellschuss" noch ein Beispiel für tendenziösen "Gesinnungsjournalismus": Ein Bericht der "Netzeitung" über eine geglückte Reparatur an der Internationalen Raumstation (ISS) Nähen mit Fausthandschuhen. Er ist, wie ich mich auf anderen Nachrichten-Websites überzeugt habe, weder ein besonders schlecht recherchierter noch ein besonders schlecht formulierter Artikel. Im Gegenteil, der Artikel ist "gar nicht mal so schlecht".

Der Artikel wird so eingeleitet:
Vordergründig ging es an der Raumstation ISS um die Reparatur eines Risses in einem widerspenstigen Sonnensegel. Doch eigentlich stand viel mehr auf dem Spiel.
Nichts gegen volkstümliche, bildhafte Formulierungen. Das ZDF sprach z. B. von einem "Sonnenflügel". Allerdings denken beim Wort "Sonnensegel" die meisten Menschen wahrscheinlich zuerst an einen Sonnenschutz und nicht an eine Solarzellenfläche.
Zu der Behauptung, das "mehr" auf dem Spiel gestanden hätte, später mehr.

Ein offenbar unausrottbarer Bestandteil des Mediendeutsch, Zweig "Raumfahrt", ist der Ausdruck "Weltraumspaziergang" - in diesem Artikel dankenswerterweise in "Gänsefüßchen" geschrieben.

Das Wort "Weltraumspaziergang" entstand wahrscheinlich anno 1965 anlässlich des Ausstiegs des Astronauten Edward Whites aus dem Raumfahrzeug "Gemini 4". Es ist jedenfalls schon in Pressetexten aus den 1960er Jahren nachweisbar, und beruht auf einer sprachlich korrekten und sachlich falschen Übersetzung von "spacewalk".
Das Arbeiten im freien Fall, in einem hinderlichen Raumanzug, ist harte, gefährliche und schwierige Arbeit - schließlich redet auch niemand bei Berufstauchern, die etwa an Wracks oder an Ölförderanlagen arbeiten, von "Unterwasserspaziergängen".
Schon "spacewalk" stammt aus der bewusst lockeren und tiefstapelnden Piloten- bzw. Astronautensprache: "Let's take a walk into space!" als ironische Umschreibung - man denke nur das legendäre "Houston, we've had a problem".
Hier ein original Mitschnitt des Funkverkehrs nach der Explosion eines Sauerstofftanks im Apollo-13-Gerätemodul, ein Musterbeispiel betont gelassen-professioneller Pilotensprache in höchster Lebensgefahr. Wer genau hinhört merkt am Tonfall, dass die Astronauten durchaus mit der Panik kämpften - und gewannen! Entgegen einem anderen schier unausrottbaren Medienklischee sind Astronauten keine "Männer (bzw. Frauen) ohne Nerven", sondern Menschen, die gelernt haben, in lebensbedrohlichen Situationen trotz Angst überlegt zu handeln. Menschen, die keine Angst empfinden, würden zu viel riskieren und wären als Astronauten ungeeignet.
Tatsächlich hatten die Verantwortlichen bei der Nasa und bei der Europäischen Weltraumorganisation Esa schon ganz grundsätzliche Fragen gestellt. Wäre die Reparatur missglückt, hätte das europäische Weltraumlabor «Columbus» wohl kaum wie geplant Anfang Dezember an der ISS andocken können. Es wäre ein herber Rückschlag für die Europäer gewesen.
Nein: das "Columbus"-Modul hätte sehr wohl andocken können.

Neben den kleineren Solargeneratoren-Auslegern an den beiden russischen Modulen hat die ISS in der Endausbaustufe vier große Solarelemente, von denen bisher drei installiert wurden. Zwei Drehvorrichtungen, genannt Solar Alpha Rotary Joint (SARJ), je eine an Backbord- und Steuerbord, können die Solarelemente in beide Richtungen um 360° drehen, damit sie immer optimal auf die Sonne ausgerichtet sind.

Ein der Aufgaben der Shuttle-Mission STS 120 war es, das bis nur provisorisch nahe dem Zentrum der Station angebrachte Gitterträger-Element P6 in seine endgültige Position am Ende des Backbord Trägers zu verlegen. Hierzu mussten die an diesem Träger angebrachten Solargeneratoren zunächst eingefahren werden. Nachdem P6 wieder angeschlossen war, begann die Besatzung im Inneren der Station mithilfe der Bodenkontrolle damit, die Solargeneratoren am P6-Segment wieder auszufahren. Bei einem der Generatoren verhakten sich, nachdem die Paneele zu 80% ausgefahren waren, einige Paneele mit der Stromführung. Um größere Schäden am Generator zu verhindern, stellte die Besatzung sofort das Ausfahren der Paneele ein und dokumentierten das Problem mit Fotos und Videoaufnahmen. Der erfreulicherweise geringfügige Schaden konnte in einem Außenbordeinsatz von Scott Parazynski und Doug Wheelock repariert und der Solargenerator voll ausgefahren werden. Selbst wenn der Generator nicht voll hätte ausgefahren werden können, wären nur ca. 5 % der Gesamtleistung aller Solargeneratoren ausgefallen. Für "Columbus" wäre das noch kein Problem gewesen, aber mit dem japanischen Labormodul "Kibo" braucht die Station den Strom aller installierter Generatoren.
Solargenerator 1
Der Schaden am Solargenerator - wie man sieht: keine Katastrophe. Photo: NASA
EVA
Scott Parazynski bei der Reparatur - diese Aufnahme verdeutlicht die Ausmaße der ISS. Photo: NASA
Da nahmen die Nasa-Leute schon mal ein «gewisses Risiko» in Kauf.
Grundsätzlich ist jeder Aussenbordeinsatz (Extra Vehicular Activity, EVA) im Weltraum riskant. Die NASA neigt seit dem "Columbia"-Unglück eher dazu "übervorsichtig" zu sein - frühere EVAs, z. B. bei der Reparatur des "Hubble"-Weltraumteleskops, waren weitaus riskanter.
Auch die Gefahr eines 300-Volt-Stromschlags war nicht gering gewesen.
- Ja, und zwar für den Sonnengenerator (Beschädigung durch Kurzschluss). Der Raumanzug besteht aus elektrisch nichtleitendem Material. Es geht um maximal 300 Volt, nicht um Hochspannung!
Scott bei EVA
Scott "Scotty" Parazynski bei der Reparatur des beschädigten Generators. Photo: NASA
Pannen und Pleiten gab es bei der «Discovery»-Mission diesmal reichlich. Der Shuttle war noch nicht im Orbit, da gab es Zwist um einige defekte Hitzekacheln - Nasa-Sicherheitsexperten hatten für eine Verschiebung des Starts plädiert. Dann entdeckte die Crew Probleme mit einem Drehgelenk eines anderen Sonnensegels. Das soll später repariert werden. Schließlich kam die Sache mit dem Riss. Jetzt hoffen viele, dass die «Atlantis»-Mission mit dem «Columbus»-Labor an Bord reibungsloser verläuft. Starttermin ist der 6. Dezember. (Peer Meinert, dpa)
Es gab Pannen, aber keine Pleiten. Von den Hitzeschutzkacheln der "Discovery" wurden von der ISS aus hochauflösende Fotos gemacht und die Fotos an die Bodenstation gesendet, damit Spezialisten die Kacheln auf Schäden überprüfen konnten. Resultat: alles in Ordnung.
Die Pressemeldungen, die NASA hätte angeblich Sicherheitsexperten ignoriert und sei mit einem "beschädigten" Shuttle gestartet, waren grandios übertrieben. Es ging um drei nicht mehr neuwertige Kacheln an der Flügelvorderkante, über die nicht "hinweggegangen" wurde:
"Discovery has flown at least twice with these panels in the current condition, and with no indications of degradation based on thermography. At this point, the Space Shuttle Program has determined that Discovery's astronauts can safely carry out their mission without having to replace the panels."
"Discovery ist mindestens zwei mal mit diesen Kacheln im derzeitigen Zustand geflogen, und ohne Anzeichen für Verschleiß gemäß (Untersuchung mit) Thermographie. Deshalb ist (die Projektleitung des) Space Shuttle Programm(s) zu dem Schluss gekommen, dass die Astronauten der Discovery ihre Mission ohne Austausch der Kacheln sicher ausführen können. (Quelle: NASA-Website)

Das Problem mit dem Drehgelenk, dem oben erwähnten Solar Alpha Rotary Joint (SARJ), liegt darin, dass die Steuerbord-Einheit beim Bewegen vibriert, der Elektromotor mehr Strom als normal braucht, um die Solargeneratoren auszurichten, und es Spuren von Abrieb gibt. Probe des Abriebs werden auf der Erde untersucht werden, um die Art des Defektes anzuklären - wahrscheinlich klemmt ein Lager, das ersetzt werden muss. Also: "kaputt" ist noch gar nichts, es handelt sich um Wartung!

STS 120-Statusreport

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf einen Artikel von Londo hinweisen: In memoriam Laika

Übrigens:
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Quelle: (NASA-Website)

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