Sonntag, 12. September 2010

Was ist Kreationismus?

Man kann es sich einfach machen und die wikipedia konsultieren: Kreationismus. Darin heißt es:
Der Kreationismus (von lat. creare „erschaffen“) ist die Auffassung, dass die wörtliche Interpretation der Heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen (insbesondere 1. Buch Mose) die tatsächliche Entstehung von Leben und Universum beschreibt.
Womit schon einmal deutlich zwei von Kreationisten gern verschleierte Tatsachen ausgesprochen sind:
  1. Kreationismus hängt mit der wörtlichen Interpretation der heiligen Schriften zusammen - dass heißt: es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Kreationismus und Fundamentalismus. Ohne die Bereitschaft, mythologische Texte als naturwissenschaftliche Tatsachen zu betrachten, funktioniert Kreationismus nicht. Das trifft sogar für "weiche" Formen des Kreationismus wie dem "Alte-Erde-Kreationismus" zu.
  2. Es handelt sich um die wörtliche Interpretation der heiligen Schriften der abrahamitische Religionen. Kreationismus (im engeren Sinne) ist tatsächlich eine "Spezialität" der drei großen monotheistischen Religionen.
Intelligent Design ist sozusagen "Kreationismus light" in (pseudo-)wissenschaftlicher Verpackung. Abgesehen davon reduziert sie den im klassischen Kreationismus noch großartigen Schöpfergott auf die Rolle eines Lückenbüßers. I. D. lebt davon, dass es Lücken in der wissenschaftlichen Erkenntnis, zum Beispiel in der neodarwinistischen Evolutionstheorie, gibt. Diese Lücken können, glaubt man I.D.-Anhängern, nur mit dem Wirken eines intelligenten Designers (alias Gott) gefüllt werden,was wiederum die Existenz Gottes (aka eines intelligenten Designers) bewiese. (Wäre ich ein Gott, wäre ich mit dieser Lückenbüßerfunktion ausgesprochen unzufrieden. Außerdem würde mit jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis mein Zuständigkeitsbereich kleiner. Mal ganz religiös gefragt: was für ein jämmerliches Gottesbild haben I.D.ioten?)

Dieses Video der AG Evolutionsbiologie belegt am Anfang, welche Befunde der Naturwissenschaft den klassischen Kreationismus widerlegen. Sie zeigen dabei auch, auch wenn es wahrscheinlich nicht die Absicht der AG EvoBio war, wie kleinkariert die Gottesvorstellung der klassischen Kreationisten ist: ein Gott wie aus dem Kasperletheater.
Kurz gesagt ist Kreationismus meiner Ansicht nach nicht nur eine schlechte Parodie auf Naturwissenschaft, sondern auch noch erbärmlich schlechte Theologie. (Wie es überhaupt für Fundamentalisten typisch ist, dass sie nicht allzu viel über die eigene Religion wissen.)


Im zweiten Teil werden einige populäre Argumente gegen die Evolutionstheorie entkräftet, die hauptsächlich aus der Feder der kreationistischen Vereinigung "Wort und Wissen" stammend.

Ein Kritikpunkt an diesem informativen Video ist allerdings, dass der zweite Teil auf die Argumente der "Kreationisten light", also I.D-Anhängern abzielt. Da fehlt mir ein Übergang.

Etwas vertieft, auch von der AG EvoBio: Dieses Video geht auf die Argumente des islamischen Kreationisten Harun Yahya ein, die sich auch bei christlichen Evolutionsgegnern finden.
Evolution: Irrtümer und Beweise 1
Irrtum 1: "nur eine Theorie"
Irrtum 2: "Überleben des Stärkeren"
Irrtum 3: "Drang zum Höheren"
Irrtum 4: "Es gibt keine Übergangsformen, und sie müssten Krüppel sein"
Irrtum 5: "Die Evolutionstheorie stützt sich auf Haeckels Fälschungen"
Beweis 1: Verteilung der Fossilien in den Gesteinsschichten.
Beweis 2: Endogene Retroviren
Beweis 3: verkümmerte Organe
Beweis 4: Übergangsfossilien mit "halbfertigen" Organen

Evolution: Irrtümer und Beweise 2
Irrtum 6: "Der Nationalsozialismus war eine Folge der Evolutionslehre"
Irrtum 7: "Fossilien widerlegen die Evolutionslehre"
Irrtum 8: "Die Evolution ist nicht bewiesen"
Irrtum 9: "Irreduzible Komplexität ist ein Problem für die Evolutionstheorie"
Beweis 5: Pseudogen für Vitamin C
Beweis 6: Pseudogene für Geruchsrezeptoren bei Walen

Ergänzung:
Die hervorragende ARTE-Doku über Kreationisten "Von Göttern und Designern" auf YouTube (2008):
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5

Asymetrische Intoleranz

Ein Nebengedanke, verursacht durch den "Zirkus Sarrazini" und die breite Zustimmung, die die nach Sozialdarwinismus und Oberklassen-Arroganz müffelnden "Erklärungsmodelle" offensichtlich erhalten.

Angeblich sind "die Deutschen" (eine, wie alle derartige Verallgemeinerungen, deutlich diskriminierende Formulierung) ja vorschriftengläubig und tun sich schwer damit, sogar offenkundig sinnlose Verbote zu missachten. Ich muss gestehen, dass ich tatsächlich den Eindruck habe, dass viele meiner Landsleute so gestrickt sind (zum Glück gibt es zahlreiche Ausnahmen).
Ich beobachte aber auch, dass die Neigung, z. B.
Verbotsschilder zu beachten, sehr davon abhängt, ob jemand glaubt, zur "Mehrheit" (egal, ob zur zahlenmäßigen Mehrheit, zur "moralischen Mehrheit", zur Mehrheit der "anständigen Leute" usw.) bzw. zu den "Normalen" zu gehören - oder eben nicht.

Als Radfahrer (natürlich meine ich damit: ich fahre mit dem Fahrrad, es gibt ja auch andere) erlebe ich es zwar, dass Radwege zugeparkt sind oder dass Fußgänger erst nach energischem Klingeln den Weg freimachen. Aber im Großen und Ganzen wird respektiert, dass ein Radweg ein für Radfahrer reservierter Weg ist. Ich habe es jedenfalls noch nie erlebt, dass jemand, den ich per Fahrradklingel vom Radweg gescheucht hatte, mir vorwarf, dass die Straße samt Fußweg- und Radweg schließlich allen gehören würde, und nicht nur den Radfahrern.

Etwas anders scheint der Fall bei Reitwegen zu liegen. Eine reitende Freundin erzählte mir, dass mindestens zwei Mal pro Woche Fußgänger, fast immer mit Hund, auf dem Reitweg unterwegs seien. Wenn man sie darauf hinweist, dass ein Reitweg schließlich per amtlichem Schild (weiße Pferdesilhouette auf blauem Grund) für Ross und Reiter reserviert wäre, würden sie "so sicher wie das Amen in der Kirche" herummeckern, dass der Wald schließlich allen gehören würde, nicht nur den Reitern. Wobei in diesem ausgewiesenen Erholungswald stets gut ausgebaute Fußwege parallel zum Reitweg vorhanden sind.

Die Reiterin vermutet, dass die selben Leute sofort per Handy das Ordnungsamt anrufen würden, wenn sie einen Reiter auf dem Fußweg antreffen würden. Was ja nicht grundsätzlich verkehrt ist: Wenn der Reiter jemanden gefährdet, oder wenn er auf stur stellt und uneinsichtig auf dem Fußweg weiterreitet, ist ein Anruf beim Ordnungsamt völlig angemessen - eventuell sogar einer bei der Polizei.

Ein anderes Beispiel sind Menschen, die sich empören und es eklig finden, wenn zwei Männer oder zwei Frauen sich auf "offener Straße" küssen - aber empört wären, wenn sich jemand darüber aufregen würde, wenn sie ihr(e) Ehefrau / Ehemann in der Öffentlichkeit "abknutschen". (Übrigens bin ich nicht schwul.)

Ein weniger mit Fragen der "poltical correctness" behangenes Beispiel: Man vergleiche die Reaktion auf einen mit Badehose Bekleideten am FKK-Strand mit der Reaktion, die ein Nackter am Textilstrand auslöst. Ich habe den Eindruck, dass es erdrückend viel mehr "Badehosensünder" am FKK als "Flitzer" am Textilstrand gibt. (Nein, ich käme nie auf die Idee, nackt an den Textilstrand oder mit Badehose an den FKK zu gehen.)

Natürlich ist das keine deutsche Spezialität. Den größte "Klops" auf dem Gebiet der asymetrischen Toleranz leistet sich zur Zeit die Schweiz. Dem per Volksentscheid beschlossenen Minarettverbot steht (natürlich?) kein Kirchturmbauverbot gegenüber.

Selbstverständlich kenne ich auch rechthaberische, arrogante und rücksichtslose Vertreter von Minderheiten. Das sind meistens Überzeugungstäter, nicht selten mit missionarischem Anspruch - gerade bei religiösen und weltanschaulichen Minderheiten gibt es die unschön häufig. Und es gibt Provokateure: Die meisten "Nackt-am-Textilstrand-Geher" rechne ich zu dieser Gruppe.

Aber das Schema bleibt, dass das Gefühl zur "Mehrheit" zu gehören, "normal" zu sein, dazu verleitet, anderen Menschen Vorschriften zu machen und sogar selbst Verbote zu übertreten.

Mittwoch, 8. September 2010

Sampler zur "Freiheit statt Angst"-Demo

Gestern, am 7. September 2010, erschien “Lauschangriff” – der Sampler zur “Freiheit-statt-Angst”-Demo.

Der Sampler mit 13. garantiert GEMA-freien überwachungskritischen Songs aus verschiedene Genres kann hier oder ersatzweise hier heruntergeladen werden - oder als zip-Datei hier.

Alle Songs stehen unter einer Creative-Commons-Lizenz.

Sonntag, 5. September 2010

Spiritualität (und Religiosität)

Vor einige Tagen machte Joy eine wichtige Anmerkung: Der Unterschied von Spiritualität und Religion würde eigentlich nie deutlich genug gemacht.

Das stimmt. Ich weise zwar oft darauf hin, dass Spiritualität und Religion nicht dasselbe sind, aber wirklich definiert habe ich das bisher nicht.

Ganz einfach ist das nicht, denn der Gebrauch der Worte "Religion" und "Spiritualität" ist alles andere als einheitlich.
Theologen - vor allem der christlich-konservativen Richtung - setzen Religiosität und Spiritualität oft gleich oder sind der Ansicht, dass Spiritualität etwas sei, was sich aus der Religiosität ergäbe. In diesem Verständnis ist Spiritualität etwa gleichbedeutend mit Frömmigkeit.
Anderseits wird Spiritualität aus psychologischer Sicht oft als mehr oder minder bewusste Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen des Daseins gesehen. Damit wäre jeder über die alltägliche Notwendigkeiten, Triebbefriedigung und simple Zerstreuung hinausdenkender und hinausempfindender Mensch spirituell - einschließlich materialistischer Philosophen. Etwa üblicher ist es, als "spirituell" alles zu sehen, was sich auf eine immaterielle, nicht sinnlich fassbare Wirklichkeit (Gott, Götter, Wesenheiten, Geister, "Kräfte" usw.) bezieht, die dennoch erfahr- oder erahnbar wäre. Das Problem bei dieser Sichtweise ist, dass damit auch "Sinnangebote", die oberflächlich, leicht konsumierbar und inhaltlich weitgehend beliebig sind, unter Spiritualität fallen - einer "Spiritualität", wie sie vor allem in der Esoterik-Szene, aber auch unter "Feiertagschristen" gepflegt wird.
Das ruft wiederum - so sicher wie das "Amen" in der Kirche - die "Verteidiger des Glaubens" auf den Plan, die eine "Wohlfühl-Spritualität" heftig kritisieren, die an Gott - und damit "der Verantwortung vor Gott" und damit wiederum an "Moral" - nicht wirklich interessiert sei. Eine unverbindliche Spiritualität, die einfach nur "gut tut wie der frisch gebrühte Kaffee am Morgen", wie es vor gut zwei Jahren in einem ziemlich alarmistischen Artikel aus katholischer Sicht in der "Rheinischen Post" stand: Was glaubt, wer nicht glaubt.
Womit wir wieder bei der Ansicht wären, dass Spiritualität (jedenfalls "echte" und "ernsthafte") sich aus der frommen Religionsausübung ergäbe.
Hinzu kommt noch, dass die Begriffe "Religiosität" und "Spiritualität" vor allem in der englischen Alltagsprache oft synonym gebraucht werden.

Eine sehr brauchbare und nachvollziehbare Definition von "Spiritualität" und "Religion" fand ich in dem Buch Gott, Gene und Gehirn vom Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Vaas und dem Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume. (In ihrer Einführung sprechen die Autoren übrigens über "Götter, Gene und Gehirne", was ich als Polytheist natürlich begrüße.)

Die beiden Autoren legen Wert darauf, dass Religiosität und Spiritualität gerade in der empirischen und evolutionären Religionsforschung zunehmend unterschieden würden, und widmeten dieser Unterscheidung daher ein ganzes Kapitel.

Religiosität ist das Verhalten von Menschen gegenüber "übernatürlichen" (im Sinne von naturwissenschaftlich nicht verifizierbar oder falsifizierbare) Akteuren wie Ahnen, Geister, Göttern, Gott. Damit greifen Vaas und Blume auf eine schon von Charles Darwin in seiner "Abstammung des Menschen" von 1871 formulierte Definition zurück. Die relevante Existenz von Ahnen, Geistern, Göttern, Bodhisatvas, Gott (u.a.) wird hierbei angenommen und wirkt sich auf die inneren Erfahrungen und das Verhalten aus. Dabei treten biologische Veranlagung und kulturelle Traditionen in Wechselwirkung.

Religiosität, verstanden als Verhalten zu "übernatürlichen" Akteuren ist gemäß Vaas/Blume (und ich stimme da völlig mit ihnen überein) nicht identisch mit dem Monotheismus. Ahnen, Tier-, Natur- und Menschengeister, die Götter der polytheistischen Religionen, Heilige, Bodhisatvas, aber auch geglaubte Kontakt-Außerirdische werden als wirkmächtige und ggf. rituell zu beeinflussende Personalitäten geglaubt, ohne dass sich deren Existenz verifizieren oder falsifizieren ließe. Dieser Hinweis ist wichtig, da sowohl Religionsverteidiger wie Religionskritiker oft dazu neigen, sich Religionsbegriffe je nach Vorliebe zurechtzubasteln.

Spiritualität beschreiben Vaas und Blume, nachdem sie darauf hinwiesen, dass sich in der interdisziplinären Evolutionsforschung zur Spiritualität ein Konsens herausgebildet hätte, so:
Spiritualität sei die Fähigkeit zu Transzendenzerfahrungen, biologisch unterschiedlich stark veranlagt und kulturell ausprägbar. Unter Transzendenzerfahrung sind hierbei Erweiterungserfahrungen zu verstehen: Die Betreffenden erfahren sich als Teil eines "größeren Ganzen", in dem "keine Grenzen mehr sind", ja, "alles als Eines" erkannt werde. Etwas weniger anspruchsvoll: Spiritualität beschreibt das Verhalten zu "außeralltäglichen" Erfahrungen, wie Entgrenzungs- und Alleinheitserfahrungen, Visionen etc..

Dabei gäbe es Menschen, die sich als tief religiös verstehen, ohne jemals spirituelle Erfahrungen gesucht zu haben und andere, die sehr spirituell orientiert sind, ohne religiös zu sein.

Erste, aber noch vorläufige Befunde z.B. unter Kirchenmitgliedern und auch Pfarrern deuten sogar auf eine Glockenverteilung der Spiritualität hin. Im Buch wird ein 20-Fragen-Ausschnitt des TCI-Tests von Robert Cloninger vorgestellt, den Blume und Vaas z.B. bei (evangelischen) Pfarrerseminaren testeten. Dabei kam tatsächlich eine Glockenkurve heraus - oft lag eine gewisse oder auch stärkere Spiritualität vor, selten eine völlige Abkehr oder aber massive Ausprägung.
Demnach kann sehr wenig Spiritualität ein Hinderungsgrund für religiöse Vergemeinschaftung sein - weil das Ritual, der Gottesdienst ggf. "stumm" bleiben. Das ist es vermutlich, was Max Weber meinte, als er sagte, er sei "religiös unmusikalisch": es fehlt einfach der Sinn fürs Transzendente. .
Umgekehrt kann auch eine sehr ausgeprägte Spiritualität ein Grund sein, sich keiner Religionsgemeinschaft anzuschließen. Intensive, individuelle Spiritualität lässt sich nur schwer in einen gemeinschaftlichen und lehramtlichen Rahmen einpassen. Die großen christliche Kirchen tun sich mit Mystikern und Charismatikern in der Regel sehr schwer. Der Umgang der Religion mit Spiritualität schwankt zwischen Verfolgung und Integration (z.B. in Form kontemplative Orden). Traditionen wie dem Buddhismus fällt die Integration in der Regel leichter. Monotheistische Traditionen stehen dabei vor dem Problem, dass "zuviel" All-Einheit die Gottheit in einem Pantheismus auflöst und damit ihrer Majestät und Handlungsrelevanz entkleidet.
Blume vermutet, dass der religionshistorische Umgang mit Spiritualität ebenfalls die Annahme einer Glockenverteilung untermauert.

Das ist im Grunde nicht überraschend. Bemerkenswert erscheint mir aber, dass genetische und neurobiologische Befunde darauf hindeuteten, dass es zwar Verschränkung, nicht aber eine Gleichsetzung religiöser und spiritueller Veranlagungen gäbe.
Mir ist bei solchen Forschungsergebnissen nicht ganz wohl, denn die Gefahr ist, dass die Folgerungen aus evolutionsbiologischen, genetischen, und neurobiologischen Erkenntnissen in eine biologistische Ideologie umkippen, ist groß. Sogar daran beteiligte Wissenschaftler neigen zu voreiligen und weltanschaulich befangenen Schlüssen. Noch größer ist die Gefahr, dass z. B. Rassisten und Möchtegern-Sozialingenieure sich auf "objektive biologische Erkenntnisse" berufen, wenn sie ihre Ideologie verbreiten. Vaas und Blume jedenfalls maßen sich erfreulicherweise keine vorschnellen und eindeutigen Antworten an.

Ich halte die von Vaas / Blume angeführte Definition von Spiritualität nicht nur für brauchbar und sinnvoll; ihr wissenschaftlich-nüchterner Begriff von Spiritualität stimmt völlig mit meinen Erfahrungen überein.
Künstler sind meistens sehr spirituell - auch wenn sie überzeugte Atheisten sind. Ich gehe so weit, zu behaupten, dass Kunst, die diesem Namen verdient, eine spirituelle Tätigkeit ist: In dem Moment, in dem so etwas wenig Fassbares wie Inspiration oder Intuition ins Spiel kommt, ist der schöpferische Prozess spirituell.
Zwischen Inspiration und kreativem Schaffen besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Spiritualität und Religion. Zwischen beidem gibt es einen Zusammenhang, der allerdings nicht zwingend ist. Nicht jeder, der Inspiriert ist, schafft großartige Kunstwerke oder geniale Erfindungen - und nicht jeder Künstler und Erfinder ist inspiriert.
Dennoch bin ich der Ansicht, dass es ohne Inspiration keine wirkliche Kreativität gibt - auch wenn kreatives Schaffen, wofür Einiges spricht, tatsächlich zu 99 % Transpiration und nur zu 1 % Inspiration ist, "ganz ohne" geht es nicht - jedenfalls dann nicht, wenn das Endergebnis in irgend einer Weise originell sein soll.
Hingegen scheinen mir sehr religiöse, "fromme", Menschen, vor allem Fundamentalisten, oft auffallend phantasielos und "unkreativ" zu sein.

Spirituelle Praktiken sind nicht immer an Religiosität, geschweige denn eine konkrete Religion gebunden. Gute Beispiele dafür sind Yoga und Zen-Meditation. Sonst hätten sie den indischen bzw. ostasiatischen Kulturraum niemals verlassen können. Es ist z. B. auch möglich, dass gregorianische Gesänge außerhalb eines christlichen Kontextes "funktionieren". (Mit fällt leider kein besseres Wort ein.)

Eine weitere spirituelle Praxis, die nicht an eine konkrete Religion gebunden ist, ist der Schamanismus - so etwas wie eine "schamanische Religion" gibt es einfach nicht. Ein Schamane (ich meine jetzt einen "echten" Schamanen aus einer traditionellen Stammeskultur) kann in der Praxis z. B. Polytheist, Buddhist, Hindu, Christ, Agnostiker oder sogar Moslem sein.

Nach meiner Erfahrung - und der Erfahrung von Menschen, die spirituelle Erlebnisse, etwa "Visionen", mystische Gipfelerlebnisse usw. hatte, ist "starke Spiritualität" nicht etwas, worauf man abzielt, sondern etwas, was einem zustößt.

Das Ziel der Spiritualität - wen es denn ein erkennbares Ziel gibt - ist meiner Ansicht nach keine Selbstoptimierung.
Das steht im Widerspruch zu vielen Angeboten auf dem "spirituellen Supermarkt". Aber der Drang, spirituelle Erfahrungen mindestens zur "Selbstverwirklichung" oder ganz direkt zur "Verbesserung der eigenen (auch beruflichen) Leistungsfähigkeit" nutzbar zu machen, wird von außen, von einer leistungsorientierten Gesellschaft, in der die Vorstellung, jeder sei "seines Glückes Schmied", prägend ist, angestoßen.

Stellt sich die Frage, ob Spiritualität nicht einen religiösen (im weiteren Sinne, also nicht auf quasi-kirchliche Religion bezogenen) Halt braucht, um wirklich vollständig funktionieren zu können.
Diese Frage kann ich nur für mich selbst beantworten: für meine Spiritualität ist das nur teilweise richtig. Ich wäre auch spirituell, wenn ich Agnostiker wäre - tatsächlich war das einige Zeit bei mir der Fall - und noch länger versuchte ich, agnostisch zu sein.

(Linktipp für an Religionswissenschaft im Zusammenhang mit Evolution Interessierte: das SciLogs Blog von Dr. Michael Blume: Natur des Glaubens.)

Mittwoch, 1. September 2010

Dampflok BR 50 - Nachtrag aus Anlass des 1. Septembers

In meinem vorherigen Beitrag :Von Dampfloks, Eilzugwagen und Authentizität befasste ich auf eher heitere Weise mit den Güterzugloks der Baureihe 50.

Ich nehme den heutigen 1. September, den 71. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen und damit den Beginn eines in der Menschheitsgeschichte einmaligen Vernichtungskriegs zum Anlass, auf die in historischer und moralischer Hinsicht wichtigsten Tatsachen in der Geschichte der Baureihe 50 und der Kriegsdampflokomotive der Baureihe 52 - einer vereinfachten 50er - hinzuweisen.

Obwohl die "50er" als vielseitige, robuste, auch für Nebenstrecken geeignete und technisch gelungene Lokomotive sehr wahrscheinlich auch ohne den 2. Weltkrieg die am häufigsten gebaute Einheitsdampflokomotive geworden wäre, wären ohne den Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug "im Osten" nicht über 3000 Stück gebaut worden. Die ca. 7000 Kriegsloks der Baureihe 52 hätte es ohne diesen Krieg nie gegeben. Die Hauptaufgaben der nach 1941 gebauten Übergangskriegsloks der BR 50 und der Kriegsloks der BR 52 war es, den enormen Nachschubbedarf der deutschen Wehrmacht in den besetzten Gebieten Osteuropas zu sichern und die erbeuteten Güter "ins Reich" zu schaffen. Auch die Logistik des industriellen Massenmordes war auf diese Lokomotiven angewiesen: die meisten Todeszüge in die Vernichtungslager waren mit 52ern und 50ern bespannt.
Nicht verschwiegen werden darf, dass für die Produktion der BR 52 sämtliche geeigneten Lokomotivfabriken in Deutschland und den besetzten Gebieten herangezogen wurden, wo im großem Umfang Zwangs- und Sklavenarbeiter schuften mussten - fast immer auf Kosten ihrer Gesundheit, oft bis zum Tode.

Ich habe den Eindruck, dass oft vergessen wird, dass zum Kriegführen nicht allein Waffen, militärische Technik im engere Sinne und speziell für militärische Anforderungen konstruierte Fahrzeuge benötigt werden.
Selbst die Diskussion über Technik, die primär für einen zivilen Verwendungszweck hergestellt wurde, aber auch für militärische Zwecke verwendet werden kann ("Dual Use"-Problematik) konzentriert sich nach meinem Eindruck sehr auf "High Tech" - was auf pragmatischer Ebene ja auch zu begrüßen ist, den sonst käme der Welthandel praktisch zum erliegen. Aber vor der Illusion, es gäbe so etwas wie grundsätzlich und immer "militärisch harmlose" Güter muss gewarnt werden.

Anderseits halte ich es für ausgesprochen fragwürdig, Techniken nach moraltheoretischen (fast hätte ich geschrieben: moraltheologischen) Maßstäben zu beurteilen - im diesem Beispiel: dass an den Lokomotiven "Blut kleben" würde, was im Extremfall zur Ansicht führen würde, dass es unmoralisch wäre, Loks der Baureihe 52 und 50 weiterhin zu nutzen. Aus moralischen Erwägungen wären sie zu verschrotten.
Das wirkt im Lokomotivbeispiel so absurd, wie es wirklich ist. Im Falle von weniger alltäglicher Technik, z. B. Raumfahrttechnik, gibt es solche Ansichten aber tatsächlich.
Neben die hypermoralische Ansicht, an einer bestimmten Technik würde "Blut kleben", tritt die dabei aber auch die Überlegung, dass Technik militärischen Ursprungs ja auch mit entsprechenden Zielvorgaben entwickelt wurde. Daher sei es fraglich, ob solche Technologien etwas Neutrales seien, die man ganz unschuldig eben auch zum Nutzen der Zivilgesellschaft gebrauchen könne. Ich denke, man kann sie nutzen, allerdings mit kritischem Blick darauf, ob nicht mit dem Gebrauch dieser Technik eine heimliche Aufrüstung oder gar eine Militarisierung der Infrastruktur verbunden ist. (Das oft genannte Internet ist übrigens ein schlechtes Beispiel, da es zwar mit militärischen Hintergedanken entwickelt wurde, die tatsächlich entstandenen Strukturen sich aber an den Kommunikationsbedürfnissen von Universitäten, Forschungsinstituten und nicht zu vergessen enthusiastischer "Nerds" ausrichten.)

Zurück zum historischen Beispiel: Ob es bei der Entwicklung der BR 50 in den 1930er Jahren irgendwelche Hintergedanken in Richtung einer Kriegslok gab, wussten allein ihre Konstrukteure - und die sind inzwischen tot. Was es sicherlich gab, war ein wirtschaftlicher Druck auf die Reichsbahn, neue leistungsstarke Güterzugloks entwickeln zu lassen, weil mit der Aufrüstung auch der Transportbedarf wuchs.
Im April 1937 beauftragte das Reichs-Verkehrsministerium das RZA (Reichsbahn-Zentralamt) eine leistungsfähige Güterzuglokomotive für Nebenbahnen entwickeln zu lassen. Sie sollte in der Ebene einen mittelschweren Güterzug befördern können und eine höchste Geschwindigkeit von 80km/h erhalten. Weitere Anforderungen waren die Fähigkeit, Bögen mit 140 m Halbmesser zu befahren, höchstens 16 Mp Achslast, einfache und pflegearme Bauweise, hohe Rückwärtsgeschwindigkeit und die Möglichkeit auf Braunkohlenbrikettfeuerung umzustellen. Diese Anforderungen orientierten sich eng an den Bedürfnissen der Wirtschaft, wenn auch nicht vernachlässigt werden sollte, dass diese Wirtschaft schon zum Teil Rüstungswirtschaft war.

Genau diese auf die zivile Anforderung nach einer möglichst wirtschaftlichen Lok hin konstruierten Eigenschaften machten die "50er" für militärische Zwecke - und zwar konkret: für die Logistik eines Angriffskrieg gegen die UdSSR - interessant.

Vorgaben für die "Kriegsdampflokomotive 1" waren eine Lokomotive mit 15 Tonnen Achslast, die einen 1200-Tonnen-Zug mit 65 km/h in der Ebene befördern konnte. Dabei wurde besonderer Wert auf eine schnelle Herstellung und geringen Materialaufwand gelegt. Auch sollte die Lokomotive robust und wartungsarm sein. Hingegen spielte der Brennstoffverbrauch bei den Kriegsloks eine untergeordnete Rolle, die Langlebigkeit sogar gar keine - die Kriegsloks waren auf eine Nutzungsdauer von 5 Jahren ausgelegt, verglichen mit den mindestens 40 Jahren Nutzungsdauer, die die Reichsbahn forderte, war die 52er also beinahe eine "Wegwerflok".

Die 52er, eine "entfeinerte" und auf schnelle Massenfertigung und geringen Bedarf an Importrohstoffen (vor allem Kupfer) optimierte 50er, übertraft die Anforderungen der Wehrmacht deutlich. (Z. B. erreichte sie die 80 km/h der Baureihe 50, war aber leichter als diese, was wiederum den Achsdruck verringerte. Außerdem lies sie sich mit "Frontmitteln" auf die russische Breitspur umspuren.)
Entscheidend dafür, dass die 52er zu der Kriegslok schlechthin wurde, war allerdings, dass sie wegen ihres geringen Achsdrucks auch mit schlechtem bzw. improvisiertem Gleisunterbau zurecht kam.

Allerdings war eine völlig von Dampfloks abhängende Logistik extrem verwundbar gegenüber Tieffliegerangriffen: die Abdampf- und Rauchfahne machte einen fahrenden Zug praktisch unübersehbar, und Treffer in den Kessel führten unweigerlich zur Kesselexplosion. Nicht von ungefähr betrieb die Wehrmacht mehr Diesellokomotiven als die gesamte Reichsbahn!
In der Endphase des Krieges war angesichts der allierten Luftüberlegenheit ein geregelter Bahnverkehr praktisch unmöglich - was den Krieg um mehrere Monate verkürzt und damit unzählige Menschenleben gerettet haben dürfte. Das sollte man nicht aus den Augen verlieren, wenn es darum geht, über die zumeist blutjungen alliierten Piloten zu urteilen, die offen zugaben, dass es ihnen einen Mordspaß (in makaberer Doppelbedeutung) machte, fahrende Dampfloks mit Muni "vollzurotzen".

Definitiv nicht geplant war, dass die "überlebenden" 52er nach dem Krieg in vielen Teilen Europas beim Wiederaufbau noch lange unentbehrlich waren - auch und vor allem in den von Deutschen ausgeplünderten Ländern Osteuropas. Auch nicht geplant war, dass die robusten Kriegsloks sich als durchaus langlebig erwiesen.
Es war eine modernisierte ("rekonstruiere") 52, die am 6. November 1994 für die letzte regulären Fahrt einer Dampflok durch die Deutsche Bahn AG eingesetzt wurde. In Jugoslawien war eine 52 sogar bis 1997 im Dienst.

Samstag, 28. August 2010

Von Dampfloks, Eilzugwagen und Authentizität

Es geht um die "A"-Frage. Die Frage "Ist das denn authentisch?"
Sie spielt nicht nur - verständlicherweise - im historischen Reenactment eine große Rolle, sondern auch auf und im Umfeld der normalerweise (vorsichtig gesagt) historisch nicht ganz authentischen Mittelaltermärkte. Sogar bei einige Bereichen des LARP (Life Action Role Playing) wird die "A"-Frage gern diskutiert, denn allzu krasse Anachronismen (auch ein A-Wort) stören das Spielvergnügen. Meinungsverschiedenheiten gibt es hier über die Frage, wann ein Anachronismus zu krass ist. ("Wieso soll meine Armbanduhr für einen römischen Senator anachronistisch sein? Die hat doch römische Ziffern!")
Selbst bei Fantasy- und Steampunk-LARPs soll es "A"-Debatten geben. Allerdings hier eher unter den Gesichtspunkten: "Passt es vom Stil her?" und "Ist so was plausibel?"

Es gibt eine weitere Gruppe Menschen, die leidenschaftlich und endlos über "A"-Fragen diskutieren können: die Modelbahner. Womit wir endlich fast beim Thema wären.

Aber eigentlich hat es doch eher mit Steampunk-LARP zu tun. Genauer gesagt, mit der Suche nach möglichen Locations. Beim Steampunk bietet sich natürlich alles an, was mit Dampf zu tun hat, womit die Brücke zwischen "Location" und "Lok" geschlagen wäre.

Auf dem Gelände der Tolk Schau, Deutschlands nördlichstem Familien- und Freizeitpark (unweit von Schleswig) wird eine Güterzug- Dampflokomotive der Baureihe 50 ausgestellt - vor zwei Eilzugwagen.
Allerdings hat eine Güterzuglok ja eigentlich nicht viel vor Eilzugwagen zu suchen. (Unzählige Modelbahner werden dem zustimmen.)

Schlepptender-Dampflokomotive 50 3552
Schlepptender-Dampflokomotive 50 3552 (Baujahr 1942) - Berliner Maschinen-Bau AG
Urheber: Heidas. CC-Lizenz: Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported.

Es ist unstrittig, dass es im realen Bahnbetrieb kaum etwas gab, was es nicht gab. Wenn keine andere Lok zur Verfügung stand oder man eine Leerfahrt vermeiden wollte, lief dann mal schon eine alte P8 (BR 38 bei Reichsbahn und Bundesbahn), eigentlich eine Personenzuglok, vor einem schweren Erzzug (auf der "letzten Rille"), eine schwere Güterzuglok der BR 44 vor einem Nahverkehrszug oder eine Schnellzuglok der Baureihe 01 vor Kesselwagen. Vor allem in der Nachkriegszeit, als viel improvisiert werden musste, und gegen Ende der Dampflokzeit gab es ungewöhnliche Einsätze - vom späteren Museumsbetrieb gar nicht zu reden. Die technische Möglichkeit (Achsdruck etc.) natürlich vorausgesetzt. Und sicher wird eine Lok der BR 50 mit Eilzugwagen "fertig".

Aber wurde die 50er wirklich planmäßig vor Eilzügen eingesetzt?

Dass sie für Nahverkehrszüge auf Nebenstrecken gut geeignet war, steht außer Frage.
Die 50er hat einen Achsdruck von nur 15 Tonnen und eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h. Ihr Fahrwerk ist so konstruiert, dass sie, obwohl sie fünf gekuppelte Antriebsachsen hat, Bögen mit 140 Metern Radius durchfahren kann. (Schon daran erkannt man, dass die wenigsten Modellbahnanlage "authentisch", bzw. vorbildgetreu sind: 140 Meter Gleisbogenradius wären im Maßstab 1:87 (Spur H0) ca. 161 cm, im 1:120 (Spur TT) ca. 117 cm, in 1:160 (Spur N) immerhin noch 87,5 cm. Und das ist Nebenbahn! Auf dem meisten Modellbahnen fahren Schnellzüge auf Gleisradien, die allenfalls bei Straßenbahnen glaubwürdig wären.) (Nachtrag: der minimale Gleisbogenradius für eine BR 50 sind sogar nur 100 m.)
Aufgrund der "kleinen" Räder (1400 mm - bei Schnellzugloks 2000 mm und mehr) hat sie eine gute Beschleunigung, was für den Betrieb im Nahverkehr mit seinen vielen Haltestellen günstig ist. Mit einem geeigneten Tender konnte sie rückwärts und vorwärts gleich schnell fahren, und musste daher in Endbahnhöfen nicht gewendet werden. Damit konnte sie so flexibel wie eine Tenderlok eingesetzt werden, bei größerer Reichweite und mehr Zugkraft als fast alle Tenderloks. Da auf vielen Nebenbahnen die Streckenhöchstgeschwindigkeit sowieso nicht höher als 80 km/h lag, war die 50er die ideale Zugmaschine für lange Nahverkehrszüge.
Die BR 50 wurde daher häufig für die Bespannung schwerer Berufspendlerzüge auf nicht elektrifizierten Strecken herangezogen.

Aber wie sieht es mit Eilzügen aus? Tatsächlich zog die 50er in der Nachkriegszeit bis in die fünfziger Jahren sogar Schnellzüge - denn auf vielen nur notdürftig reparierten im Krieg beschädigten Hauptstrecken reichten ihre 80 km/h völlig aus. Besonders galt das für die DDR, wo bis auf einige Hauptstrecken bei zweigleisigen Strecken jeweils ein Gleis demontiert wurde - als Reparationsleistung an die UdSSR, die mit den Schienen zumindest einen Teil der von Deutschen im 2. Weltkrieg zerstörten Bahnstrecken wiederherstellten. (Die Bundesbahn der alten BRD hatte das Glück, dass die deutschen Truppen im Westen weit weniger Gleisanlagen zerstörten als beim Rückzug im Osten.) Bei der Bundesbahn zog die BR 50 Anfang der 1950er Jahre sogar internationale Schnellzüge auf der Strecke zwischen Hamburg und dem Fährhafen Großenbrode-Kai.
Wegen ihrer Nebenstrecken-Tauglichkeit war sie auch vor Reisebüro-Sonderzügen anzutreffen. Der Fremdenverkehr spielte auch beim regulären Einsatz der 50er eine große Rolle - ein Beispiel ist die Strecke von Goslar nach Altenau im Oberharz, eine echte Nebenbahn, wo sie lange Reisezüge mit Wintersporttouristen zog.

Damit ist klar: Eilzugwagen passen hinter die Güterzugdampflokomotive der Baureihe 50.

Die Baureihe 50 war eine der besten Konstruktionen unter den deutschen Einheitsdampflokomotiven. Es wurden insgesamt ca. 3200 dieser Maschinen gebaut. Auch die letzte Regelspurdampflok, die 1960 in Deutschland neu gebaut wurde, die 50 4088 der Deutschen Reichsbahn der DDR, war eine 50er. Zählt man die ca. 7000 "Kriegsloks" der Baureihe 52 dazu, die eine vereinfachte BR 50 war, könnte sie durchaus die meistgebaute Strecken-Lokomotive der Welt sein.

Auch übrigens: den Tolk-Schau-Park halte ich für ein Steampunk-LARP ziemlich ungeeignet.

(Schon der dritte Dampflok-Beitrag dieses Jahr. Interessant, welche Weichen durch mein Steampunk-Interesse gestellt werden ... )

Freitag, 27. August 2010

Das Hartz IV-Klischee und die erfolgreichen Lügner

Wieder einmal zeigte eine repräsentative Befragung von mehr als 10.000 Hartz-IV-Beziehern durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), wie wenig das Klischee des faulen "Sozialschmarotzers" der Realität entspricht:
Jeder zweite Hartz-IV-Empfänger geht einer nützlichen Tätigkeit nach Mehr als die Hälfte der Arbeitslosengeld-II-Empfänger zwischen 15 und 64 Jahren geht mindestens 20 Stunden pro Woche einer nützlichen Tätigkeit nach. Sie erziehen Kinder unter sieben Jahren, pflegen Angehörige, arbeiten und benötigen dennoch ergänzendes Arbeitslosengeld II, bilden sich weiter oder befinden sich in einer Fördermaßnahme.

Sicher entspringen die weit verbreite Vorurteile gegenüber "Hartzies" auch dem Hang, auffällige Extremfälle zu verallgemeinern - "jeder" kennt "jemanden", der sich mit ALG II plus Schwarzarbeit "ein flottes Leben macht" oder "jemanden", der die Tage bei Billig-Bier mit Dauernfernsehn verbringt und dabei die eigenen Kinder vernachlässigt. Solche Menschen geben natürlich mehr Gesprächsstoff her als der unauffällige Nachbar, der schon zwei Jahre lang eine vergebliche Bewerbung nach der Anderen losschickt.
Sicher hat die beflissene Abgrenzung gegen die "Unterschichtler" seitens der "Mitttelschichtler" sehr viel mit verdrängten Abstiegsängsten zu tun. Zugespitzt und stark verallgemeinert: sehr viele angsterfüllte "kleinbürgerliche" Deutsche sehen sich von "unten" von "Sozialschmarotzer" und von "oben" von "Heuschrecken" bedroht. Ihre Hoffnungen setzen sie dabei auf "anständige Menschen" aus der "Oberschicht"; einer Gruppe, zu der die meisten "Mittelschichtler" ohnehin gerne aufsteigen würden, und mit der sie sich gern solidarisieren - mit den "nicht heuschreckigen" "Oberschichtlern" (die es, z. B. durch ererbten Reichtum, gar nicht nötig haben, sich durch unseriöse Geschäftspraktiken zu bereichern) gegen die "Unterschichtler".
Das Dumme ist nur: Es ist gesamtgesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich wenig relevant, ob jemand, der zur Elite gehört, "anständig" oder ein Kotzbrocken ist. Noch dummer ist, dass manch ein Kotzbrocken dank geschickter Öffentlichkeitsarbeit als "anständiger Kerl" dasteht.
Es hat auch sehr viel mit moralischer Selbstentlastung zu tun. Wenn die Armen und Arbeitslosen etwas falsch machen, unfähig sind, Charakterfehler wie Faulheit haben, kurz: selber Schuld an ihrer Lage sind, dann kann es ja nicht an den fleißigen und ehrgeizigen "Leistungsträgern" der "Mittelschicht" liegen, wenn es der "neuen Unterschicht" dreckig geht (und wohl auch nicht an den Fehlern der Eliten, der Entscheider in Wirtschafts- und Politik). Ein prima Mittel gegen schlechtes Gewissen wegen der eigener Rücksichtslosigkeit, und ein Betäubungsmittel für Bedenken wegen der eigenen Selbstausbeutung und Selbstoptimierung - und vor der Angst vor dem Abstieg.

Wie die Stimmungsmache bzw. Hetze gegen "Unterschichtler" und "Außenseiter" funktioniert, verrät in dankenswerter Offenheit der "Medienliebling", Feind moslemischer Einwanderer und mit guten Ratschlägen an Arme wie "kalt duschen" und "Pullover tragen, wenn die Bude nicht geheizt werden kann" großzügige Thilo Sarrazin. Sie funktioniert mit Halbwahrheiten, Lügen, Ablenkungsmanövern; einem "taktischen Verhältnis zur Wahrheit".

Dass das, was es so sagt und schreibt, nicht der Wahrheit entspricht, erfährt man sogar schon bei Tagesschau.de Was ist dran an Sarrazin Thesen? (In einem Satz zusammengefasst: Fast gar nichts!)
Bisher hieß es noch "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Sarrazin ist noch ein Stück weiter: er erspart sich die mühsame Arbeit des Frisierens statistischer Daten und erfindet nach Gutdünken die zu seiner Ideologie passenden Zahlen, was er sogar offen zu gibt. Ich sage: Guido, Thilo - Maul halten (sz-magazin)
Warum er so frech ist und sich so weit aus der Deckung der wohlklingenden Phrasen traut, ist relativ einfach zu beantworten: Die geschickte Vermarktung des Thilo Sarrazin - Thilo Sarrazin: Maßlose Kritik an Hartz-IV-Empfängern oder „Wie verkaufe ich mein Buch?“
Weniger einfach ist die Frage zu beantworten, wieso Sarrazin mit seinen offen eingestandenen Lügen durchkommt. Ich vermute, weil sich zu wenige Menschen die Mühe machen, das, was er und andere Propagandisten behaupten, zu überprüfen. Selbst Journalisten hinterfragen zu selten, was "wichtige" Menschen und "Experten" in die Welt setzen. Aber danke Thilo Sarrazin, dass Sie in diesem Punkt ehrlich sind!

Auch sonst ist Sarrazin ehrlicher als die meisten anderen Stimmungsmacher: er hält sich nicht mit "Sozialgedöns" auf, er ist kein Kreidefresser. Wer Sarrazin (und mehr noch "Öchsperten" wie Gunnar Heinsohn) aufmerksam liest, der merkt, was Sache ist: Der Wert eines Menschen hängt für sie davon ab, wie ökonomisch nützlich dieser Mensch ist. In dieser Hinsicht bricht er wirklich Tabus: er weigert sich, der Menschenwürde wenigstens geheuchelten Respekt zu erweisen.
Er (Sarrazin) sagt, mit Schule kann man weder Menschen noch soziale Schichten verändern. Doch das ist falsch. Sonst würden alle Arbeiterkinder immer noch auf dem gleichen Stand sein wie ihre Eltern seit Beginn der Industrialisierung. Bildungsaufsteiger und eine wachsende Mittelschicht hätte es dann in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben.
Wer das sagt, ist ausgerechnet Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, und als Vertreter der These "Multikulti ist gescheitert" oft in einem Atemzug mit Thilo Sarrazin gennnt. (Zu Unrecht, wie SteffenH Karsten darlegt: Buschkowsky statt Sarrazin.)

Andere Hartz-Propagandisten lügen geschickter. Einige der Tricks wie man aus Opfern Übeltäter macht und aus Übeltätern famose Menschen beschreibt Holdger Platta: Die Psychotricks der Hartz-IV-Parteien Die Tricks stammen nicht zufällig aus der Produktwerbung.

Es widert mich an, angelogen zu werden. Und es schockiert mich, wie einfach es hier und heute ist, mit infamen Lügen durchzukommen - wenn man in der richtigen Position ist.

Mittwoch, 25. August 2010

Der böse, böse "neue" Atheismus

Ein Vortrag von Dr. Kissler:
Galle, Gift und Gotteswahn. Der Neue Atheismus auf dem Vormarsch.
Der Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. kritisierte den Bundespräsidenten für seine öffentliche Wertschätzung der Bibel scharf und Richard Dawkins will Papst Benedikt wegen Verletzung der Menschenrechte festnehmen lassen. Die Aktionen des „Neuen Atheismus“ werden immer aggressiver und medienwirksamer.
Ein durchaus hörenswerter Vortrag, weniger, weil Kissler die Tricks des neuen Atheismus entlarvt, als dadurch, dass er ungewollt die Tricks der alten Theologen entlarvt.
Es ist meiner Ansicht bezeichnend, dass Dr. Alexander Kissler den "Neoatheismus" als "politisches" oder "quasi-religiöse" Bewegung bezeichnet. Damit hebt er diese Denkrichtung auf einen Ebene, die Kissler vertraut ist, mit der er umgehen kann.
Eine scheinbare Nebensächlichkeit ist bezeichnend: Kissler nennt Robert M. Pirsing, der von Richard Dawkins in dessen Buch Der Gotteswahn zitiert wird, einen "Buddhisten, also Atheisten". Denn Pirsing lehnt sich in seiner Philosophie zwar an den Zen-Buddhismus (und den Daoismus) an, damit ist aber noch lange nicht gesagt, dass er tatsächlich Buddhist war. Ob er Atheist war, ist ebenfalls fraglich. Es ist Dawkins, der das Zitat Pirsings
Leidet ein Mensch an einer Wahnvorstellung, nennt man es eine Krankheit. Leiden viele Menschen an einer Wahnvorstellung, nennt man es Religion.
in einen atheistischen Kontext stellt.
Ich kenne zu viele tief gottgläubige Menschen, die sich zur Religion ähnlich äußern, als das ich darin ernsthaft einen Beweis für Atheismus sehen könnte. (Typischer Spruch: "Mit Gott habe ich keine Schwierigkeiten - aber umso mehr mit seinem Bodenpersonal.") Bissiger Spott über organisierte Religion und Atheismus sind nicht dasselbe. In diesem Missverständnis gleichen sich Dawkins und Kissler.

Das Buch Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, aus dem das Zitat stammt, enthält eine deutliche Kritik an den dualistischen Philosophien, die laut Pirsing auf Platon und noch mehr Aristoteles zurückgehen.
Es ist genau dieses, von Augustinus noch erheblich verschärftes und schematisiertes, dualistische Denken, dass meiner Ansicht nach viele "neue Atheisten" und fast alle kirchliche Kritiker des "neuen Atheismus" auszeichnet. Nur in diesem Denken ist jemand, der sich vom christlich geprägten, "abendländischen" dualistischen Denken abgewandt und dem Zen Buddhismus zugewandt hat, automatisch Buddhist, und der Buddhismus ist, da er die Existenz eines ewigen, allmächtigen und personalen Gottes bezweifelt, eben atheistisch.
Ich vermute aber, dass Dr. Kisslers auf mich streckenweise in seiner Schwarz-Weiß-Logik absurd wirkender Vortrag für Menschen, die es gewohnt sind, alles in Gegensätzen zu sehen, völlig folgerichtig wirkt. Übrigens denkt Dawkins, ich vermute, weil er als Naturwissenschaftler schon berufsbedingt Zweifel an endgültigen und ewigen Wahrheiten hat, im Großen und Ganzen nicht dualistisch: "Der Gotteswahn" hat Grautöne.

Schon die Abgrenzung zwischen "altem" und "neuen" Atheismus ist meiner Ansicht nach völlig willkürlich. Denn militante Atheisten gab es schon lange vor Dawkins et al., und worin die besondere Militanz zum Beispiel der Girdano-Bruno-Stiftung liegen soll, müsste man mir erst einmal erklären.
Vergleiche ich die tatsächliche Militanz fanatischer Moslems, fanatischer Christen und fanatischer Atheisten miteinander, dann ergibt sich ein Bild, das ziemlich genau dieser Karikatur entspricht:
Miltants
Der gern gebrachte Hinweis auf die angeblichen Atheisten Hitler, Stalin und Mao stimmt nicht. Bei Hitler, der ständig von der "Vorrrsähungg" und dem "Härrrgottt" redete und ausdrücklich sagte, dass die Ausrottung der Juden ein gottgefälliges Werk sei, von vornherein nicht. Stalin und Mao waren zwar Athetisten, aber der Atheismus war nicht die treibende Kraft und nur ein Bestandteil unter vielen in ihrer völkermörderischen Ideologie. Tatsächlich haben Stalinismus und Maoismus stark religionsähnliche Züge.

Was "neu" ist - und von Dr. Kissler auch benannt wurde - ist das breite Medienecho, das die neuen Atheisten genießen. Das dürfte aber nicht allein an Autoren wie Dawkins, Hitchins oder Schmidt-Salomon liegen, sondern daran, dass militanter religiöser Fundamentalismus seit einigen Jahren an Bedeutung gewinnt.

Trotz allem gebe ich Dr. Kissler in einem Recht: beim "neuen Atheismus" steht nicht die Religionskritik im Mittelpunkt. Wenn es sie gibt, wirkt sie nur da schlüssig, wo es um konkrete Missstände, etwa in den Kirchen, geht. Ich vermute, weil viele neue Atheisten sich gar nicht vorstellen können, wie ein religiöser oder spritueller Mensch - das ist nicht dasselbe - eigentlich denkt. (Außer, dass einige von ihnen gläubigen Menschen einen massiven Dachschaden zuschreiben.)
Bei der Auseinandersetzung mit religiösen Fanatismus und dem Phänomen des Fundamentalismus ist Dawkins jedenfalls ebensowenig hilfreich oder erhellend wie z. B. Schmidt-Salomon.

Das Buch Heilige Einfalt von Olivier Roy könnte, wenn ich "Gregor Keuschnigs" ausführlichen Rezension folge, vielleicht genau die Religionskritik sein, die ich in der hektischen Auseinandersetzung mit dem religiösen Fanatismus so sehr vermisse.

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