Freitag, 6. Juli 2007

E-Mail an Schäuble - Papierpost an den Hessischen Rundfunk

Nach seinen sicherheitspolitischen Vorschlägen, die das Innere nach Außen und das Äußere nach Innen kehrten, erhielt diese Woche der Bundesinnenminister elektronische Post von Tobias Kaufmann:
E-Mail von Kaufmann, Ausgabe 6.7.07
Besorgte Politiker müssten böse, böse Computerspiele, die uns alle zu Terroristen machen, nicht mal mehr verbieten. Denn solange der Staat an meinem Rechner spielt, komme ich selber ja nicht dran.
Allerdings halte ich Kaufmanns Vorschlag, nach den britischen Erfahrungen zwecks Terrorristenbekämpfung gleich die ganze Kassenärztliche Vereinigung vorbeugend in Haft zu nehmen, für bedenklich. So, wie Schäuble manchmal tickt, nimmt er das glatt beim Wort ...
Leider keine Satire ist, dass auf EU-Ebene der Umweltausschuss für den Terrorismus zuständig ist. (Ganz klar, so eine Autobombe setzt ganz schön viel CO2 frei.)

Anderes Thema: Wie Karan per Rundbrief erfuhr, wird die erfolgreiche musikalische Nachwuchs-Show "newcomer-TV" gestrichen. Wer deshalb Protestbriefe an den Hessischen Rundfunk senden will, sollte herkömmliche Briefe, am besten einzeln formuliert und im Umschlag, versenden - weil E-Mails in den Redaktionen kaum gelesen werden.

Die Adresse:
Hessischer Rundfunk
Rundfunkrat
Bertramstr. 8
60320 Frankfurt am Main

Die Chancen sind meines Erachtens zwar gleich Null, aber schon aus Prinzip beteilige ich mich an dieser Aktion.

Mittwoch, 4. Juli 2007

Herr von Randow ist doch Krimi-Leser?

Auf "Zeit-online" erschien ein skeptischer Artikel von Falk Lüke der mit den Fazit schloss:
"Innenpolitiker und Sicherheitsexperten wollen die Freiheit zu Tode sichern."
Darauf schrieb Gero von Randow eine Entgegnung, deren Schlusssatz ebenfalls bemerkenswert ist:
Es kommt, alles in allem, auf die Details an. Falk Lüke freilich schreibt: „Innenpolitiker und Sicherheitsexperten wollen die Freiheit zu Tode sichern.“ Ein derart grobes Raster lässt die Details verschwinden, und zurück bleibt - der Generalverdacht.
Stimmt, allerdings würde ich in diesem Falle eher von "gesundem Misstrauen" sprechen - den "Generalverdacht" hegen ganz andere (siehe die Vorkommnisse um den G8-Gipfel).

Mir fiel auf, dass von Randow nach meinem Gefühl etwas weltfremd argumentiert:
Außerdem soll ja nicht nur der Selbstmordattentäter rechtzeitig erkannt werden. Als Element der Polizeitaktik kann auch die Videoüberwachung den Fahndungsdruck auf Verdächtige erhöhen, dem sich potenzielle Täter nur durch zusätzlichen Aufwand entziehen können - was sie wiederum zu Fehlern verleiten kann.
Dass Videoüberwachung gegen Selbstmordattentäter einigermaßen sinnlos sind, erkennt er auch. Ob zu allem entschlossene Täter durch den durch Kameras ausgeübten "Fahndungsdruck" nervös werden und Patzer machen, ist eher zu bezweifeln. (Bei Ladendieben und Handtaschenräubern mag das so sein, nicht aber bei Tätern, die die Überwachung vorher eingeplant hatten. Und es mag die Frage erlaubt sein, ob jene Sorte Fahndungsdruck, die Terroristen nervös macht, nicht äußerst ungesund wäre.) Kommen wir zum Computer:
Technisch ist es möglich, die Verbindungsdaten eines Nutzers auszuspionieren, ohne dass er es merkt, und anschließend die Verbindungsdaten sowie die Inhalte seiner Netzkommunikation zu überwachen. Gewitzte User können sich dem entziehen, wenn sie am ewigen Wettkampf der Offensiv- und Defensivkräfte teilnehmen. Das aber bringt Aufwand mit sich und verleitet zu Fehlern; die Fahndungslogik ist die gleiche wie im Fall der Videokameras.
Zuerst einmal ist der "Wettlauf" bei den in Rede stehenden Fragen längst entschieden: jedenfalls solange es keine Wundercomputer (etwa einen Quantencomputer) gibt, der eine mit PGP oder einem anderen RSA-Kryptosystem
verschlüsseltes Dokument mit ausreichender Schlüssellänge "knacken" könnte - und das auch noch in sinnvoll kurzer Zeit. Außerdem kann mittels Steganographie jede sensible Botschaft so "verschleiert" werden, dass sie selbst mit enormem Aufwand nicht zu finden ist.
Im Prinzip geeignet ist das Mittel also, und durch ein anderes nicht zu ersetzen, denn Kommunikation via Internet ist der Lebensnerv des organisierten Terrorismus.
Das ist eine unbewiesene Behauptung, die außerdem für den "unorganisierten" Terrorismus ohnehin nicht gilt. Wenn ich für nächste Woche etwa einen Autobombenanschlag planen würde, bräuchte ich dazu weder eine Bauanleitung noch einen Befehl.
Im Falle des Anschlags auf die Vorortzüge in Madrid lief ein Teil der Kommunikation tatsächlich über das Internet. Aber die "Mails" wurden mittels eines elektronischen "toten Briefkastens" übermittelt: Der Absender richtete einen Freemailer-Account ein, z. B. bei Yahoo (um einen besonders überwachungsfreudigen Dienst zu nennen). Er teilte den Empfängern sein Zugangs-Passwort mit. Nun schrieb er seine Mail, speicherte ihn aber nur als Entwurf. Die Empfänger griffen, wohlweislich von Internet-Cafes aus, auf den Account des Senders zu und lasen den "Entwurf". Die Überwachung des E-Mail-Verkehrs wäre ergebnislos geblieben, weil nie eine E-Mail herausgegangen ist. Natürlich wäre es, mit entsprechendem Aufwand, möglich gewesen, die (codierten) Botschaften auf dem Yahoo-Server zu finden. Was allerdings einer Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleicht - bei Entdeckung wäre das Attentat wahrscheinlich längst passiert.
(Ich kann mir ohne Mühe weitere Methoden vorstellen, die noch schwerer zu überwachen sind, aber ich will ja niemanden auf böse Gedanken bringen.)

An anderer Stelle zeigt von Randow mehr Phantasie:
Ein paar Probleme indes sind vertrackt. Wie soll die Forderung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt werden, dass der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ vor Überwachung geschützt wird? Darüber ist zu diskutieren. Vielleicht ist gar nicht ausgemacht, ob die Kommunikation übers Netz, selbst wenn sie verschlüsselt wurde, zu diesem Kernbereich gehört. Da muss man auch ein bisschen auf die soziale Wirklichkeit gucken: Wer, der ins Netz geht, weiß denn nicht, dass darin letztlich alles öffentlich ist?
Selbstverständlich ist das Internet und alles, was darin veröffentlicht ist, öffentlich zugänglich. Aber der Computer des Besucher ist nicht öffentlich. Es geht ja nicht um die Überwachung "des Internets" - auch wenn einige Politiker etwas merkwürdige Vorstellungen von dessen Struktur haben. Es geht darum, dass alle Festplatten durchsucht werden dürfen sollen, die über das Internet erreichbar sind. Mein Computer gehört genau so zu meiner Wohnung wie mein Schreibtisch, und wenn es im Zuge einer polizeilichen Ermittlung gegen mich erforderlich sein sollte, den Inhalt meiner Festplatten auszuwerten, dann ginge das nur auf dem Wege einer ordnungsgemäßen Hausdurchsuchung.

Wunschdenken und Politikerangst

Nicht ganz überraschend: Bundesparanoikerinnenminister Wolfgang Schäuble
will nicht nur das Grundgesetz "ergänzen", nur er hat er auch die Wirksamkeit des Völkerrechts im Kampf gegen den Terrorismus in Frage gestellt und eine internationale Debatte darüber gefordert, wie z. B. Reuters gestern meldete. Überraschend aber doch, wie offen er einen der wesentlichen Gründe für den sicherheitspolitischen Aktionismus (beinahe) beim Namen nennt:
"Wenn dieser freiheitliche Verfassungsstaat nicht in der Lage ist, auch unter neuen Bedrohungen Sicherheit zu gewährleisten, ...läuft er in Zeiten der Krise Gefahr, die Legitimation in der Bevölkerung zu verlieren", sagte der Minister. Dies hätten die Deutschen im vergangenen Jahrhundert lernen müssen.
Legitimation, dass erkennt Schäuble völlig richtig, schöpft ein Staatsapparat (der von Schäuble offensichtlich mit dem von den Bürgern gebildeten Staatswesen verwechselt wird) vor allem daraus, dass er seinen Bürger in Notfällen Schutz bietet. In Krisensituationen, dass ist bekannt, wächst die Verbundenheit der Bürger mit dem Staatsapparat. Nun kann kein Staatsapparat der Welt - selbst ein totalitärer Überwachungsstaat - Sicherheit vor Attentätern bieten, die sich selbst in die Luft sprengen. Gerade ein Staatsapparat, der zuvor drastistische Eingriffe in die persönliche Freiheit seiner Bürger mit dem Schutz vor terroristischen Attacken gerechtfertigt hatte, würde bei einem größeren Terroranschlag in Erklärungsnöte kommen. Also baut Schäuble vor - einmal, indem er von Vornherein dafür sorgt, dass nach einen Anschlag der Schwarze Peter bei jenen liegt, die sich gegen die "notwendigen Sicherheitsmaßnahmen" gesperrt hätten, was einen gewissen Druck erzeugt, immer schärfere Sicherheitsmaßnahmen zu fordern. Zum anderen, indem er die Instrumente schafft, die die in diesem Falle befürchteten Unruhen gleich im Keim zu ersticken. Sehr viele der bereits beschlossenen oder vorgeschlagenen Maßnahmen währen gegen Terroristen nutzlos, im Falle bürgerkriegsähnliche Unruhen jedoch äußerst gut zu gebrauchen. Dass es in der Tat solche Unruhen sind, die Schäuble und andere Politiker fürchten, erkennt man schon daran, dass ein Einsatz der Bundeswehr im Inneren in der Tat nur in Bürgerkriegssituationen sinnvoll ist.

Mit der Frage, das dies die Deutschen im vergangenen Jahrhundert hätten lernen müssen, spielt Schäuble auf die Möglichkeit an, dass die Nazis gegen eine hart durchgreifende Polizei und Justiz und gegen eine im Inneren eingesetzten Reichswehr keine Chance gehabt hätten, die Straße für sich zu "erobern". Nur sind die Nazis nicht durch den Druck der Straße an die Macht gekommen, sondern durch die (bestenfalls!) Naivität jener, die sich von Hitler mehr Stabilität und Sicherheit versprachen.
Wobei sich vergangenen Jahrhundert herausgestellt hat, dass totalitäre Übrwachungsstaaten keineswegs besonders stabil und sicher vor Umstürzen sind.

Der Bundesregierung fehlt nach eigenem Bekunden jede Vorstellung davon, wie heimliche Onlinedurchsuchungen von Computern durch das Bundeskriminalamt (BKA) technisch am besten durchgeführt werden könnten. (Das ergab eine kleine Anfrage der FDP-Bundestagsabgeordneten Gisela Piltz.) Ich vermute, dass die nicht computer-kompetenten Politiker (allen voran Bundesinnenminister Schäuble, der nach eigenen Angaben die Computertechnik nicht einmal ansatzweise versteht) nicht nur mit Kontrollattacken aus Unsicherheit vor dem Unbekannten reagieren. Es ist auch offensichtlich, dass jene, die ständig Online-Überwachungen fordern und sich davon versprechen, terroristischen Anschläge im Vorfeld verhindern zu können, von Computerfachleuten Wunderdinge erwarten, etwa im Stil: “Wieso könnt Ihr das nicht, bei Mission Impossible geht das doch auch?”

Real dürfte Online-Durchsuchungen - vorsichtig gesagt - äußerst schwierig zu realisieren zu seinen, vor allem, wenn der Beschnüffelte nicht merken soll, dass da auf seinen Rechner etwas läuft, was er definitiv nicht dort installiert hat. (Ein Spionageprogramm, das seine Ergebnisse nicht "nach Hause" durchgeben kann, ist Unfug. Und diese Kommunikation fällt auf. Zumindest Menschen, die etwas mehr Ahnung von Computern haben, als unser Herr Minister.) Hierzu, in der Zeit: Hacken für den Staat

Montag, 2. Juli 2007

Gleichstellung für Ymir!

Dass Minister gern vergessen, was im Grundgesetz steht, ist zumal bei überwachungsfreudigen Innenministern nichts Neues. Neu ist, dass eine deutsche Ministerin nicht nur vergisst, dass da im Grundgesetz etwas von der Trennung von Staat und Kirche steht. Nein, Frau Wolff sieht außerdem nicht nur keinen Widerspruch zwischen der biblischen Schöpfungsgeschichte 1. Moses 1,26, bei der Gott den Menschen "als Mann und Frau" durch das Wort schafft, und der Geschichte 1. Moses 2, 7, in der es heißt: "Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase", sondern auch zwischen dem Schöpfungsmythos der Bibel und der naturwissenschaftlichen Evolutions-Theorie. Anders ist ihre Behauptung, die biblischen Schöpfungsmythen seien kompatibel mit moderner Wissenschaft kaum zu verstehen. Dann hat Thors Hammer auch "erstaunliche Übereinstimmungen" mit der modernen Meteorologie oder die Auffindung des Weltenbaumes Yggdrasil ist legitimes Ziel geographischer Expeditionen. Wenn von Frau Ministerin Wolff schon quasi Grizzlybären und Glücksbärchen gleichgesetzt werden, dann fordere ich für heidnische Mythen Gleichbehandlung! (Und das Universum wurde sowieso aus dem Fleisch, dem Blut und der Knochen des erschlagenen Riesen Ymir geschaffen! Was erstaunliche Übereinstimmungen mit der Urknall-Theorie aufweist, denn auch Ymir bekam ganz gewaltig eine geknallt!)

Übrigens scheint auch Bayerns Innenminister, Günter "Doppelzunge" Beckstein, ein ganz besonderes Verhältnis zur Trennung von Staat und Kirche zu haben: "Staat und Kirche gehören zusammen, es gibt kein Gegen- und auch kein Nebeneinander."

Samstag, 30. Juni 2007

"What is in a name?" oder: das Unterbewußtsein bombt mit

Würzburg. Über diese Stadt gäbe es viel zu sagen und Einiges zu lästern: Wo fängt der Norden an?. Für einen der Faktoren, die mich in Würzburg (im Gegensatz zu anderen Orten Mainfrankens) so unbehaglich fühlen ließen, können die Würzburger nichts: Dafür, dass die Würzburger Altstadt unwirklich-unecht wirkt. Denn Würzburgs "malerische Altstadt" ist fast völlig Nachbau. Weil, im Unterschied zu vielen anderen deutsche Altstädten, nach Sprengbomben und Brandbomben, nachdem der Feuersturm aus Mangel an brennbarem Material endlich erlosch, von "Wiederaufbau" oder auch "Rekonstruktion" keine Rede mehr sein konnte: Den Angriff vom 16. März überstanden in der Altstadt nur sechs Häuser an der Juliuspromenade und ein Haus in der Büttnergasse, alle wiesen erhebliche Brandschäden auf. Darüber, wie viele Häuser noch "wiederaufbauwürdig" waren, habe ich nichts gefunden - nach den Fotos der Würzburger Innenstadt nach dem Angriff zu urteilen, können es nicht allzu viele gewesen sein. Nach Dresden und Pforzheim war Würzburg die meistzerstörte Stadt Deutschlands. Und anders als in Dresden konzentrieren sich die Zerstörungen auf ein vergleichsweise kleines Areal. Wie Hoimar von Ditfurth in seinen Erinnerungen schrieb, gruppierten sich in Würzburg Anfang der 1950er Jahre weitgehend intakte Stadtteile um einen ausgebrannten schwarzen Kern, in dem die Stadtverwaltung, weil dort sowieso niemand mehr wohnte, gar keine Straßenbeleuchtung aufgestellt hatte.
Und in allzu vielen Fällen sind die "wiederaufgebauten" Häuser leider eine schlechte Kopie. Zum Glück lies man sich beim de facto Neubau der zu 98 % zerstörten Würzburger Residenz mehr Zeit (der Aufbau dauerte bis 1987). Das berühmte Treppenhaus mit den Fresken Tiepolos überstand dank einige glücklicher Umstände die Bombennacht - und dank eines umsichtigen
amerikanischer Kunstschutzoffizier, David Skilton, der (noch vor der deutschen Kapitulation!) für eine sofortige provisorische Abdeckung mit Zeltplanen sorgte und darauf hin ein Notdach errichten lies, das bereits ein halbes Jahr nach der Zerstörung die erhaltenen Gewölbe wieder überdeckte. Wozu, wie Vergleiche zeigen, 1945 für einen dieser lästigen "Eggheads", der sich anmaßten, sich wertvolles militärisches Material für irgendwelche alten Schuppen unter den Nagel zu reißen, Einiges an Zivilcourage und Beharrlichkeit gehörte.

Vieles zur Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945 steht in der Wikipedia:
Würzburgs Bombardierung. Was nicht darin steht ist, warum Würzburg zerstört wurde.

Auch wenn einige "Antideutsche" das gerne anders sehen wollen: Der verheerende Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945 war sinnlos und diente keinem strategischen Zweck. Dass den tapferen Männern der Royal Airforce Bomber Group No. 5 keine Verwürfe zu machen sind, gestehe ich ihnen aber ohne Zögern zu. Damals war, angesichts des ebenso offenkundig sinnlosen wie hartnäckigen deutschen Widerstand, unter alliierten Soldaten die Meinung weit verbreitet, der Krieg sei erst dann vorbei, wenn man auch den letzten Deutschen "unschädlich" gemacht hätte. Bei den ungefähr 5000 Menschen, die bei diesem Angriff umkamen, darf man nicht vergessen, dass es keine Luftschutzbunker gab (außer für den Gauleiter Otto Hellmuth ). Außerdem zeigt z. B. das Beispiel von Halle an der Saale, dass Städte, deren Stadtkommandanten gegenüber alliierten Truppen kapitulierten, vom Flächenbombardement verschont bleiben. Weil Würzburg auf der Liste der Ziele für Flächenbombardements eine geringe Priorität einnahm, hätte sich schon eine vorsichtige Kontaktaufnahme wahrscheinlich zugunsten der Stadt ausgewirkt.

Aber wieso um alles in der Welt wurde Würzburg am 8. Februar 1945 an 10. Stelle in die neu ergänzte Liste für "filler targets" aufgenommen und erhielt einen "fishcode" als für Flächenbombardements geeignete deutsche Stadt? Warum wurde, auch nachdem die strategisch bedeutsamen Ziele schon von den Amerikaner "erledigt" worden waren, ein volles Bombergeschwader, das auch noch als Elitegeschwader galt, gegen die Würzburger Innenstadt eingesetzt? Schließlich war Würzburg auch kein Ort mit hohem "Symbolwert", weder für Nazideutschland noch für die Alliierten.

Oder etwa doch?

Oft entschied reine Psychologie darüber, was "gebombt" wurde und was nicht. Rothenburg ob der Tauber geriet trotz seine als "kulturell unersetzlich" eingestuften Altstadt deshalb auf die "filler list" (Liste der Ersatzziele, die bombadiert wurden, wenn das eigentliche Ziel wegen Schlechtwetter oder massiver Gegenwehr nicht angegriffen werden konnte), weil bekannt war, dass die NSDAP dort vor 1933 besonders viele Wähler hatte und weil die Stadt in der Nazi-Propaganda ständig präsent war. Am 31. März 1945 wurden etwa 40 % der original erhaltenen Bausubstanz Rothenburgs durch den Angriff einer Staffel der 386. Bombardement Group der US-Luftwaffe beschädigt oder zerstört. Der Bombenangriff galt eigentlich einem Öllager im oberfränkischen Ebrach, dass wegen Vernebelung nicht angegriffen werden konnte.
Es ist der persönlichen Intervention des Leiter der Abteilung für Zivilangelegenheiten (engl. Civil Affairs Division) im Pentagon und späteren Hochkommisars der US-Besatzungszone, John Jay McCloy, beim zuständigen General Devers zu verdanken, dass das geplante Artilleriebombardement unterblieb. Andere "potenzielle Widerstandsnester" wurden in dieser Phase des Krieges ohne mit der Wimper zu zucken "plattgemacht". Das makaberste Beispiel: Am 10. April begann der amerikanische Artilleriebeschuss gegen das fränkische Dorf Ulsenheim. Normalerweise wurden spätestens in dieser Phase die weißen Flaggen gehisst - aber weil statt dessen deutsche Truppen als "Verstärkung" eintrafen, wurde das Dorf am 12. April durch ein amerikanisches Fliegergeschwader mit Phosphorbomben buchstäblich eingeäschert. Kein "Kriegsverbrechen", sondern eine psychologisch verständliche Reaktion. Die wirklichen "Mörder Ulsenheims" trugen deutsche Uniformen, und zwar nicht nur die der SS! (Ein SS-Mann, endlich auf dem Rückzug, hinterlies eine letzte Rechtfertigung: "Ich hab zu Hause auch nix mehr, da kommt es auf so ein lumpertes Frankendorf auch nicht mehr an". Quelle: Sonntagsblatt Bayern.) Auch auf Gollhofen und Herrnberchtheim kam es solchen "Helden" nicht mehr an, auf Hellmitzheim und Nenzenheim, Dornheim, Aub, Weigenheim: Ein Dorf nach dem anderen ging "dank" der "bis zum letzten Blutstropfen" sinnlos weiterkämpfen wollenden, immer noch "Führergläubigen" in Flammen auf.

Aber Würzburg hatte weder einen herausragenden Rang in der NS-Propaganda, noch war es ein potenzielles "Widerstandsnest", noch eine markante "Nazi-Hochburg". Aber es gab einen anderen, brutal zufälligen, aber zutiefst menschlichen, allzu-menschlichen, Grund für die alliierten Bomberpiloten, das Wort "Würzburg" nur mit hasserfülltem Unterton auszusprechen:
Der Physiker Freeman Dyson, im 2. Weltkrieg wissenschaftlicher Mitarbeiter beim britischen Bomberkommando, schrieb 1979 in seinen Erinnerungen "Disturbing the Universe" (dt. "Innenansichten"):
Ich verbrachte die letzten Monate, die der Krieg in Europa noch dauerte, weiter damit, mein Bestes zu tun, die Bomber sicher von ihren Einsätzen zurückzubringen. Doch im Verlauf der Wochen wurde es immer deutlicher, dass unsere Bombardierungen eine sinnlose Verschwendung menschlichen Lebens waren. Vier Wochen nach Dresden griffen wir die alte Bischofsstadt Würzburg an und zerstörten im bischöflichen Palais eine der schönsten Tiepolo-Decken Europas. Die Zerstörung von Würzburg erfüllte die Bomberbesatzungen mit besonderer Genugtuung, weil die tödlichen deutschen Zielsuch-Radars auch Würzburg-Radars genannt wurden. Niemand hatte sich die Mühe genommen, die Männer darüber aufzuklären, dass die Stadt ungefähr gleichviel mit diesen Radarsystemen zu tun hatte wie unsere Bisschofstadt Winchester mit der Winchesterbüchse.
(Hervorhebung von mir.)
Zum Glück irrte sich Dyson hinsichtlich der Tiepolo-Decken. Nachzutragen bleibt: Jeder Zweite der britischen Bomber kehrte nicht heim, insgesamt kamen 55.000 Flieger bei den Angriffen auf Deutschland um. Das Bomberkommando war der Truppenteil mit den prozentual meisten Gefallenen der britischen Streitkräfte. Aus diesem Grund gilt der Luftwaffen-Marschall Arthur "Bomber" Harris längst nicht bei allen Veteranen des "Strategic Bombing Command" der R.A.F. als Held.
Dyson gehörte zu einer Forschungsgruppe, die die Überlebenschancen der Besatzungen verbessern sollte - und deren Vorschläge frustrierend oft "von oben" abgelehnt wurden.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass schon die Auswahl der möglichen Ziele unbewusst vom Hass gegen das Würzburg-Radar beeinflusst wurde.

Freitag, 29. Juni 2007

Wo fängt der Norden an?

Wo fängt "der Norden" an? MomoRules schrieb, wie immer höchst gedanken-evozierend über Licht. Darin meinte er:
Meine Schwester sagt immer, wenn man von Süden nach Nordern fährt, dann würde ab Hannover der Himmel aufgehen. Ist auch so. Süddeutschland beginnt ja für mich eh auf der Deister-Linie, Göttingen ist schon Nordhessen und deshalb nicht mehr Norddeutschland, und es ist immer wieder verblüffend festzustellen, wie Franzosen und Süddeutsche völlig überfordert sind von diesem klaren Licht hier oben.
Nordischer Himmel über Hamburg? Ja, aber nur die abgemilderte Version. Verglichen mit dem faszinierenden Licht des richtigen Nordens, dem Norden jenseits des 60. Breitengrades, Norwegen, (Nord-)Schweden (und wahrscheinlich Island, wo ich leider noch nicht war). Wobei außer dem Breitengrad die Nähe zum Wasser zu diesem Eindruck des reinen Lichts und der scharfen Kontraste beiträgt.
Hamburgs hat mit Berlin Einiges gemeinsam: beides sind Millionenstädte, beide liegen in der norddeutschen Tiefebene, beides sind ausgesprochen "grüne" Städte, was man vor allem aus der Luft gesehen merkt, in beiden Städten glitzern, ebenfalls aus der Flugzeugperspektive, zahlreiche innerstädtische Gewässer zwischen den Häusern und Grünflächen. Beide Städte haben mehr Brücken als Amsterdam und Venedig zusammen.
Berlin hat mit Hamburg viel mehr gemeinsam als z. B. mit München, Köln, Frankfurt oder Düsseldorf.
Trotzdem: das Licht in Berlin ist seltsam anders als das in Hamburg. (MomoRules beschreibt es so treffend, dass ich lieber auf sein Blog verweise.) Berlin ist die Stadt der warmen Grautöne. Hamburg eine Stadt, in der die Kontraste knallen. Hamburg ist tatsächlich weniger dunstig, was am Wetter liegt: Hamburg ist im Schnitt windiger als Berlin. Und an der Größe der Stadt: Berlin hat mehr als doppelt so viele Einwohner, entsprechend mehr Verkehr (aber nicht mehr potenziell luftverschmutzende Industrie).

Ich vermute: das Wasser macht den Unterschied.Es gibt in Berlin auch reichlich Wasser, aber mehr zum Stadtrand hin. Die großen Wasserflächen der Alster und der Elbe mitten in Hamburgs Innenstadt bringen eine für eine Großstadt ungewöhnliche Weite in die Stadt. Wenn man Hamburg an einem klaren Tag nicht nur überfliegt, sondern einen Rundflug macht, dann wirkt die Stadt wie ein glitzerndes Labyrinth aus den zahlreichen Armen und Altarmen der Elbe, kleineren Flüssen, Bächen, Kanälen, Fleeten, Gräben, Seen und Teichen. Eine amphibische Landschaft, Hamburg hat nicht von ungefähr mehr als 2400 Brücken.

Wo aber beginnt "der Norden Deutschlands"? Ich könnte sprachlich argumentieren, und die nach einem Stadtteil Düsseldorfs benannte Benrather Linie anführen. Irgendwie gehört Ostwestfalen und das Weserbergland für mich noch "zum Norden" - aber "nur" kulturell. Da bin ich einer Meinung mit MomoRules Schwester: der "Norden", das Land des hohen Himmels beginnt deutlich nördlich der Mittelgebirge. Nach meinem Gefühl etwa in der Lüneburger Heide.
Sollte ich aber ein imaginäres Gebiet "Deutschlands Norden" beschreiben, dann könnte ich den Verlauf der "Grenze" mit vielen Worten beschreiben. Oder es mir leicht machen, denn ist stieß vor einigen Jahren beim Versuch, eine regionale Gliederung für einen bundesweiten Verein zu finden, auf einen merkwürdigen "Zufall": meine Vorstellung von "Deutschlands Norden" deckt sich ziemlich genau mit den mit "2" beginnenden Postleitregionen und zusätzlich den Postleitregionen 17, 18 und 19. Es ist in etwa der Teil Deutschlands, den man als "See-Deutschland" bezeichnen könnte - Papenburg, als südlichste Seehafenstadt Deutschlands hat ganz richtig die Postleitzahl 26871, obwohl es zum nach Münster ausgerichteten Landkreis Emsland gehört. Hannover gehört nicht dazu, sehr wohl aber die Lüneburger Heide.

Und wo fängt "der Süden" Deutschlands für mich an? Nach einen alten Werbespruch fängt der Süden in Würzburg an. Ich schließe mich dieser Meinung an, obwohl "südliches Flair" diese mainfränkische Stadt nicht wirklich beschreibt. Tatsächlich stimmt die "Mainlinie" als sprachliche Nordgrenze des süddeutschen Raums in etwa mit der von mir gefühlten und gesehenen Grenze zum "Süden" überein.
Wobei: eine der kulturell, sprachlich und mentalitätsmäßig spürbarsten "informellen Grenzen" Deutschlands liegt noch weiter südlich: es ist die Nordgrenze Altbayerns, auch "Weißwurstäquator" genannt. Selbst der "Westfälische Limes" durch Nordrhein-Westfalen, der Rheinländer und Westfalen trennt, oder der Spätzlegraben zwischen den Schwaben und Badensern sind nicht so spürbar. Dagegen verblassen die Nordgrenze Süddeutschlands und die Südgrenze Norddeutschlands zur Unscheinbarkeit.

Mittwoch, 27. Juni 2007

Warum geben so viele Musiker das Musikmachen wieder auf?

Nicht ganz überraschend sind, wie die Musikwissenschaftlerin Dr.
Anja Herold in ihrer Doktorarbeit herausfand, die hohen Ansprüche an die technische Beherrschung des Instrumentes für viele Musiker der Hauptgrund, über kurz oder lang mit dem Spielen wieder aufzuhören. Wenn die Musik nicht mehr lustvoll "gespielt" wird, wird das notwendige Üben nicht mehr als "Spaß", sondern als "Last" empfunden.

Interessanter finde ich, was Frau Herold über diesen eher trivale, aber bezeichnenderweise kaum untersuchten, Zusammenhang (die Musikwissenschaft beschäftigt sich lieber mit der Erfolgreichen, nicht den Erfolglosen) hinaus herausgefunden hat:
"Das Meistern der instrumentaltechnischen Schwierigkeiten macht zu Anfang einen entscheidenden Reiz aus. Später allerdings stehen technische Probleme gepaart mit Ungeduld und hohen Leistungsansprüchen dem lustvollen Spiel immer mehr im Weg."
Das kenne ich von meinem Gitarrenstunden her: weil ich mit (wie ich fand) große Aufwand des Übens kaum "Erfolge" erzielte, verlor ich bald die Lust. Mein (jüngerer) Bruder klampfte munter drauflos, erzielte irgendwann Ergebnisse, die ihn so faszinierten, dass er fleißig und geradezu besessen übte.
Die Arbeit bestätigt meine Beobachtung: "Besonders deutlich war dies beim Thema "Improvisation": Die Ansicht, dass man erst alle Tonleitern beherrschen müsse und erst dann anfangen dürfe zu improvisieren, ist weit verbreitet. So kommt es oft gar nicht mehr zur Improvisation (...)" - Ich "dürfte" nicht einfach drauflosspielen, was zum Teil dem Gittarenuntericht und seiner Systematik, zum Teil aber auch meinen hohen Ansprüchen an mich selbst, zum größten Teil aber dem Umfeld (Eltern, andere Erwachsene, Lehrern) geschuldet war. Mein Bruder war "noch Kind" als er anfing, auf meiner Gitarre zu klimpern, ich schon "ein großer Junge", der nicht mehr einfach spielerisch "rumklimpern" durfte, sondern brav und sauber seine Lektionen zu lernen hatte.

Ich stimme Frau Dr. Herold deshalb zu, wenn sie den Grund für diese Entwicklung unter anderem in der traditionellen Musikvermittlung mit ihrer Trennung von Körper und Geist, Arbeit und Spiel sieht.
Nicht ganz mag ich ihr darin folgen, wenn sie die Wertmaßstäbe der westlichen Kultur, in der Musiker an hohen Standards gemessen werde und Musizieren einen hohen Lernaufwand verlange, für den "Musikerfrust" verantwortlich macht.
In vielen Fällen ist es wahrscheinlich eher die geringe Wertschätzung der Musik als "Leistungsfach", oder gar als potenzieller Beruf, der musizierenden Schülern zum Problem wird. Das musste z. B. mein Bruder erfahren: irgendwann mal wurde sein Übungsfleiß und sein Ehrgeiz als Musiker unter "Rosinen im Kopf", als unnötige Ablenkung von Schule, Ausbildung und "Brotberuf", eingeordnet. Eine Erfahrung, die ich auch bei anderen jungen Menschen mit anderen Interessen bemerkt habe: wird ein Interesse (Musik, Sport, bildende Kunst, aber auch Interesse an Tieren, an Technik, sogar an Literatur) so groß, dass die Eltern / Lehrer fürchten, es könne mehr als ein "Hobby" werden (und eventuell zulasten des schulischen Erfolgs gehen), dann wird es von "den Erwachsenen" nicht mehr unterstützt. Ausnahme: sehr tolerante Eltern / Lehrer oder solche, die sich eine berufliche Karriere im Interessengebiet des Jugendlichen gut vorstellen können.
Es sind vor allem die Eltern, die die Karrieren ihrer Kinder zu steuern versuchen: Einer meiner Mitschüler - Arztsohn - war z. B. begeisterter Mofa-Schrauber, aber seine Eltern waren von der Vorstellung, ihr Sohn könne einen "technischen Beruf" ergreifen, geradezu schockiert. Selbst als er Jahre später seinen "Dr. Ing." im Fahrzeugbau machte, war sein Vater immer noch angesäuert. Ein "Dr. Ing." ist eben kein richtiger Doktor.
Ich vermute deshalb, dass Frau Dr. Herold Menschen befragte, denen solche Steine auf dem möglichen Weg zum "professionellen Musiker" nicht in den Weg gelegt wurden.

Ein weiterer Grund für die Abbrüche liegt nach Ansicht der Musikwissenschaftlerin in dem Verlust kultureller und sozialer Einbettung der Jazz/Rock/Pop-Musikpraxis, die junge Menschen in ihrer "Szene" genossen, die aber im Erwachsenenleben verloren gingen.
Wenn sie allerdings fordert, die kulturelle Vielfalt zu fördern und für eine erhöhte Durchlässigkeit institutioneller und informeller Räume zu sorgen (z. B. durch die Kooperation von Musikschule und freier Musikszene), dann wirkt das auf mich schon beinahe hilflos.

Sonntag, 24. Juni 2007

Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme - heute: Die blaue Lagune

Begriffserklärung: Ein "gut-doofer" Film ist ein Spielfilm, der auf eine Art und Weise die Intelligenz des Zuschauers beleidigt, dass er wieder interessant wird. Nein, ich meine nicht "Sabine Christiansen" - die Sendung ist, da sollte man sich von den einstudierten Phrasen der eingeladenen Politiker- und Expertendarsteller nicht täuschen lassen, eine Talkshow und kein Spielfilm!

Anlässlich des frisch begonnen Sommers und der angebrochenen Hauptreisesaison greife ich einen Klassiker aus der Rubrik "schöner Film - abgesehen von Drehbuch, Schauspielern, Regie und Schnitt" heraus, der streckenweise verblüffende Ähnlichkeit mit einem Werbe-Video eines tropischen Urlaubsreiseziels der gehobenen Exklusivitäts- bzw. Preiskategorie hat. Als kleines Extra verrät der Film ungewollt viel über die Zeit seiner Entstehung - und über das, was sich seitdem zum nicht unbedingt Besseren verändert hat.

Das Buch
Vorlage des Films war ein Roman von Henry de Vere Stacpoole (1863-1931), einem Iren, der seine Erfahrungen als Schiffsarzt in seine zahlreichen Abenteuer- und Schicksalsromane einbrachte. Die meisten seiner Bücher sind heute vergessen. "The Blue Lagoon" (erschienen 1907) war sein einzige Bestseller und ist eines der wenigen seiner Bücher, die die Zeit ihrer Entstehung literarisch überlebt haben.
Der Roman spielt in der victorianischen Zeit und erzählt die Geschichte zweier Kinder aus wohlhabenden Verhältnissen, Emmeline und Dick, Cousin und Cousine, beide acht Jahre alt, unterwegs auf einem Segelschiff, irgendwo im Pazifik. Das Schiff gerät in Brand und ist nicht mehr zu retten. Ein alter Seebär namens Paddy Button, der Schiffszimmermann, rettet die Kinder. Im Rettungsboot schaffen sie es bis zu einer menschenleeren, aber bewohnbaren, Insel. Paddy litt schon auf dem Schiff an einer sich immer weiter verschlimmernden Krankheit und er ahnt, dass sie nicht auf baldige Rettung hoffen dürfen. Deshalb bringt er den Kindern bei auch ohne seine Hilfe überleben zu können. Einige Jahre später passiert das was er fürchtete: er stirb und die Kinder sind auf sich allein gestellt.
Der Roman geht von der Voraussetzung aus, dass achtjährige Kinder aus dieser Zeit und von dieser Herkunft nichts, aber gar nichts über Sexualität, körperliche Entwicklung usw. wissen - und dass Paddy aus verschiedenen Gründe zu gehemmt ist, die Beiden selbst aufzuklären. Stacpoole nimmt an, dass "ahnungslose" Kinder wie Emmeline und Dick dennoch "instinktiv" das Richtige tun würden, wenn sie in völliger Isolation erwachsen werden würden. Deshalb verhalten sie sich völlig richtig, als Emmelline schwanger wird, ihr Kind gebiert und sie das Kind aufziehen. (Sie handeln sogar gesünder, weil "naturgemäßer", als die meisten Eltern in der zivilisierten Welt, wie Stacpoole mehrmals anmerkt.)
Das Buch ist nicht allzu dick, flott zu lesen und Stacpooles Gesellschaftskritik milde - sie geht in die Richtung der damaligen Lebensreformer. Als Mediziner bringt Stacpoole vorsichtig naturheilkundliche Ansichten ein, die zu seiner Zeit noch offen angefeindet wurden.
Alles in allem: ein Buch, das zur "seiner Zeit" (1907) für einige Aufregung gut war, heute aber nur eine Robinsonade unter vielen ist.
1949 wurde der Roman in Großbritannien verfilmt; da ich diesen Film nie gesehen habe, schreibe ich nur soviel über ihn: er hielt sich an die damals üblichen "Film Standards",d. h. Sex und Nackheit waren kein Thema.

Der Film
Aus dem Romanstoff könnten ein guter Drehbuchautor und ein guter Regisseur so Einiges machen: Einen spannenden Abenteuerfilm, eine herzergreifende Romanze oder einen Softporno.
Statt dessen wurde "The Blue Lagoon" das filmische Gegenstück zur Palmenstrand-Fototapete.

Die Logikfehler, Anschlussfehler, Regiefehler und schlechten Tricks des Filmes sind zu zahlreich, um sie hier aufzuführen. Ich verweise da auf Wikipedia und vor allem die weiterführenden Links. Die Dialoge sind, auch unter der Annahme, dass sie von Teenagern, die auf dem Entwicklungsstand von neunjährigen stehengeblieben sind, stammen, selten dämlich. Dennoch: der Film hat, dank guter Kameraarbeit, einer wunderschönen Location und nicht zuletzt guter Musik seine ästhetische Qualitäten. Man könnte ihn gut an einem verregneten Feiertag ansehen - wäre er nicht so entsetzlich langweilig. Der Film war allerdings 1980 ein Kassenschlager. Und zwar nicht zufällig, sondern dank geschickter Promotion.

Doch zunächst zum Film selbst. Mit Sexualität und Nacktheit konnte er, nach der "Sexwelle" der 60er und den lockeren 70ern gedreht, offener umgehen als seine Vorgänger. Allerdings ergab sich aus den allgemeinen Tabuabbau auch, dass die Prämissen Stacpooles von 1907 kaum noch zu vermitteln gewesen wären. Die Filmbearbeitung versuchte es auch gar nicht - übernahm aber Situationen aus dem Buch, die 1980 und angesichts der "modernisierten" Handlung des Films übertrieben wirkten - z. B. Emmelines entsetzte Reaktion auf ihre erste Menstruation. Denn die Kinder dürften im Film nicht völlig ahnungslos sein: sie kennen z. B. Paddies "erotische Bilder", er spricht sehr viel offener über "die Dinge des Lebens" als sein Buchvorbild - und es gibt im Film kaum Hinweise auf "victorianische Verklemmtheit".
Paddy ist im Film übrigens Schiffskoch, hat im jeden Hafen eine Geliebte und zahlreiche außereheliche Kinder, denkt gar nicht daran, die Insel zu verlassen - und säuft sich nach dem Fund einer Kiste mit Whiskey buchstäblich zu Tode. Auf diese Weise ist der Tod des alten Seebären weniger tragisch, und die Moral des Films ist auf diese Weise "Hollywood-Konformer": "Gut, dass der Bursche tot ist, was hätte er den Kindern alles antun können!" (Reaktion meiner damaligen Freundin beim Ansehen des Films.) Damit entspricht der Film den moralischen Vorgaben seiner Entstehungszeit und seines Entstehungsmilieus.

Viel nackte Haut - und trotzdem "verklemmt"
Interessant ist das Verhältnis des Films zur Nacktheit. Davon gab es nämlich für einen US-Film, der nicht ausdrücklich "nur für Erwachsene" gemacht war, erstaunlich viel.

Die meisten Nacktszenen, sowohl der Kinder wie der jungen Erwachsenen, spielen im Wasser. Wobei die Genitale der Kinder durchaus zu sehen sind - etwas, was "The Blue Lagoon" zumindest in den USA heute den Verdacht der Kinderpornographie einbringen könnte. An Land verhalten sich die Akteure weitaus "züchtiger" - bis auf eine der wenigen kurzen "freiwillig komischen" Szenen des Films, in dem die beiden Kinder nackt vor Paddy davonlaufen, der sie dazu bringen will, Hosen anzuziehen. Ansonsten gibt es nur einige kurze Nacktszenen Christopher Atkins', die hinsichtlich der "inneren Logik" des Films einige Fragen aufwerfen:
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Nahtlose Bräune ohne Lendenschurz-Streifen - Christopher Atkins in "The Blue Lagoon"
In Stacpooles Buch setzt sich Mr. Button nach einer Weile zumindest so weit durch, dass die Kinder in seiner Gegenwart wenigstens eine "Minimalbekleidung" tragen - er schreibt aber auch, dass Dick fast immer nackt herumläuft. Mit den Anbruch der Pubertät entwickeln die Kinder, glaubt man Stacpoole, ein natürliches Bedürfnis, sich bei bestimmten Gelegenheiten zu bedecken, Dick trägt "zu Hause" meistens ein Lendentuch, ist am Meer jedoch immer nackt. (Die kurzen Nacktszenen deuten darauf hin, dass der Film ursprünglich in dieser Hinsicht werkgetreu werden sollte.)
Stacpoole war der Ansicht, dass die beiden, nachdem sie ihre Sexualität entdeckt hatten und promt freudig auslebten, nicht wie läufige Hunde übereinander herfallen, sondern sich menschlich, beinahe zivilisiert, jedenfalls zärtlich und rücksichtsvoll, wie ein "typisches verliebtes Paar", verhalten würden. Stacpoole glaubte, dass der Mensch von Natur aus Kulturwesen ist.
So tiefsinnig ist der Film nicht, auch wenn es ein Leichtes gewesen wäre, in den Dialogen diese Entwicklung anzudeuten - eine wegen der fixen Idee des Drehbuchautors, zwei Halberwachsene wie Kleinkinder sprechen zu lassen, versäumte Chance, ein klein wenig Niveau in den Streifen zu bringen.
Glaubt man Atkins legte der Regisseur großen Wert auf die nahtlose Bräune seiner Hauptdarsteller. Schon drei Wochen vor Drehbeginn reisten er und Brooke Shields zum Drehort Nanuya Levu, einer kleinen Fidschi-Insel, wo sie nichts anderes zu tun hatten, als sich am ganzen Körper bräunen zu lassen. Die Pflege der Bräune während des Drehs machte Atkins keine Probleme:
Let me tell you something: if you're on an island for three and a half months and you're four and a half hours by boat from the nearest store, and there's nobody but 30 crew members on the island, I guarantee that you'd be running around without your clothes on.
- Im Gegensatz zu Brooke Shields bzw. ihrer wachsamen Mutter. Brooke Shields (Unterwasser-)Nacktszenen wurden alle mit einem Body-Double gedreht, und ihre lange Haare so festgeklebt, dass ihre Brüste stets züchtig bedeckt waren.
Mit aller Vorsicht lässt sich vermuten, dass dem Regisseur ursprünglich ein weitaus "freizügigerer" Film vorschwebte, dass aber "äußere Umstände" - Mrs. Shields und die Rücksichtnahme auf das Teenagerpublikum, das bei einer Freigabe "ab 18" weitgehend ausgefallen wäre - einen halbwegs "züchtigen" Film erzwangen.

Marketing und Reaktionen
Dass es tatsächlich das jugendliche Publikum war, auf das die Produzenten von "The Blue Lagoon" wert legten, lässt sich an der Filmwerbung erkennen, die klar auf das Thema "erste Liebe" bzw. "natürliche Liebe" abzielte.
(Bild: filmplakat)
Filmplakat
"Natural Love" - Werbung für den Film "Blue Lagoon" (1980)
Das war, angesichts der eher unromantischen und nicht unbedingt "natürlich" wirkenden Liebesspiele der Hauptdarsteller, zwar ein glatter Etikettenschwindel, aber es traf den Nerv des (damaligen) jungen Publikums. Nicht nur wegen des zeitlosen Themas "romantische Liebe in romantischer Landschaft", sondern auch, weil das Thema "zurück zur Natur" nebst einer diffusen Zivilisationskritik um 1980 unter jungen Menschen "in" war. Der unbestrittene Bestseller der unter 20-jährigen in der Bundesrepublik Deutschland war damals ein schier allgegenwärtiger dünner Band mit dem Titel "Der Papalagi". In ihm klärt uns ein vermeintlicher Südseehäuptling in simpler Bildersprache über die grundsätzlichen Fehler der Zivilisation auf. Dem erdachten "Wilden" legte 1920 Erich Scheurmann, ein Freund Hermann Hesses, zivilisationskritische und satirische Reden in den Mund. Ich fand es schon damals erstaunlich, wie viele meiner damaligen Altersgenossen die Satire nicht als Satire erkannten und glaubten, die Lästereien des Häuptling Tuiavii aus Tiavea seien authentisch. Ich habe im nachhinein den Eindruck, dass es den meisten Fans dieses Buches nicht um die übrigens eher zahme und oberflächliche Zivilisationskritik ging, sondern um eine Projektionsfläche für ihre Ängste (vor Umweltzerstörung, Krieg und einem Dasein als "Rädchen in der Staatsmaschine") und Sehnsüchte. "Die blaue Lagune" traf, als "Robinsonade zu zweit", genau diesen Zeitgeist. Weder in der "Hippie-Ära" der 60er und frühen 70er, in der zwar auch vom naturnahen Paradies geträumt wurde, aber der Versuch, anders zu leben als der "Normalspießer" im Vordergrund stand, noch in den Jahren nach 1982 mit ihrer aktionsorientierten Protest- und Alternativkultur hätte der Film so gut funktioniert. Der Film ist ein Zeitdokument der späten 70er Jahre, in denen "Aussteiger" ein Modewort war; der Zeit einer noch sehr romantischen und politisch unausgegorenen "grün-alternativen" Basisbewegung, in der die auf Selbstverwirklichung abzielenden "Anders-Leben"-Ideen der Hippies aber schon verblasst waren.

Es versteht sich beinahe von selbst, dass der Film vor allem in den USA als lüstern und schamlos verrissen wurde. Schließlich berührte "The Blue Lagoon" "heikle" Themen wie Teenager-Sex, Alkoholismus, Selbstbefriedigung und Nacktheit - und entbehrte dabei (angeblich) einer moralischen Botschaft (sprich: einer entschieden ablehnenden Darstellung der "heiklen" Punkte).
Noch heute gilt "The Blue Lagoon" einigen christlich-konservativen Filmkritikern als Vergleichsmaßstab, wie "unmoralisch" ein Film sei, besonders in Hinblick auf Teenager in sexuellen Situationen.

Interessant ist, wie weit die Altersfreigaben in den unterschiedlichen Ländern, in denen "Die blaue Lagune" lief, auseinander lagen: die niedrigste Altersfreigabe erhielt der Film in Schweden (ab 11), in der BRD hat er die FSK-Einstufung "frei ab 12", in Kanada: ab 13, ebenso in Spanien, in Brasilien ab 14, in Australien PG (für Minderjährige nur in Begleitung der Erziehungsberechtigten), in Großbritannien ab 15, in den USA "R" (was etwa FSK "ab 16" entspricht). Nicht ganz überraschend: in Singapore dürfte man den Film erst ab 18 sehen.

Und heute?
Aus den oben genannten Gründen dürfte ein Film wie "The Blue Lagoon" heute längst nicht mehr so erfolgreich sein wie 1980. So wie auch der "Papalagi" heute kein Jugendkultur-Bestseller mehr ist. Ich vermute auch, dass heute "die Südsee" auch weniger Raum für Aussteigerphantasien bietet als damals: damals gab es praktisch keine Nachrichten aus dem Südpazifik, heute sind es zwar auch nur wenige, aber die wenigen, die es in unsere Zeitungen und auf unsere Bildschirme schaffen, sind schlechte Nachrichten: über Tsunamis, Volksaufstände, Grundwasserknappheit, Korallensterben, radioaktive Verseuchung durch Atombombentests und drohende Überflutung durch den ansteigenden Meeresspiegel. (Das "Radio Africa"-Phänomen, benannt nach dem Latin Quarter Song Radio Africa" - aus Afrika (bzw. "der 3. Welt") erreichen uns nur die schlechten Nachrichten.)

Hinsichtlich der "heiklen Punkte" des Films - insbesondere der Nacktheit - ging die Entwicklung in Deutschland und in den USA unterschiedliche Wege. Heute dürfte die FSK-Altersfreigabe niedriger liegen als 1980 - schließlich lief "Die Blaue Lagune" mehrere Male ohne Schnitte und offensichtlich auch ohne Einwände nachmittags im Fernsehen. Als ich das vor etwa einem Jahr in einem US-amerikanischen Film-Forum postete, erhielt ich ungläubige Kommentare. Vor allem wegen einem geradezu hysterischem Pädophilie-Diskurs (der uns nur in abgeschwächten Ausläufern und aktionistischen Gesetzesinitiativen erreicht) erschien es mehreren Kommentatoren grob fahrlässig, einen Film, in dem nicht nur Kinder in "full frontal nudity" zu sehen seien, sondern auch "teenage sex" propagiert würde, im Familienprogramm zu senden.
Aber auch in Deutschland ist ein Gesinnungswandel in Richtung "traditioneller Moral" zu beobachten. Wer weis, vielleicht darf die Film gewordene Fototapete in einigen Jahren auch bei uns nicht mehr im Nachmittagsprogramm laufen.

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