Samstag, 2. Juni 2007

"Summer of Love" II - 2. Juni 1967 - der Tag, als Benno Ohnesorg erschossen wurde

In lockerer Folge werde ich im Laufe der Sommermonate über den "Sommer of Love" 1967, der in Wirklichkeit ein politisch, gesellschaftlich und kulturell "heißer" Sommer war, schreiben. Eine kleiner ironischer Text zum "Sommer of Love" steht bereits hier in diesem Blog

Irgendwie kommt einem die Situation bekannt vor. Es ist - leider - nicht nur Geschichte, was damals, am 2. Juni 1967 ablief. Auch wenn sich Geschichte nie eins zu eins wiederholt.

Was heute gern "68er-Revolte" genannt wird, der gern von Konservativen und zeitgeschichtlich Ahnungslosen sämtliche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen seit 1969 in die Schuhe geschoben wird, das begann in Deutschland 1967, mit einem Schuss vor der Berliner Oper am 2. Juni. Er fiel Im Umfeld einer Demonstrationen gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Reza Pahlewi und seiner Gattin Farah Diba. Abgefeuert wurde er vom Berliner Oberkommisar Karl-Heinz Kurras, traf einen wehrlosen Studenten: Benno Ohnesorg. Bezeichnenderweise war Ohnesorg kein "Linker", sondern christlich engagierter Pazifist.

Der Schah des Iran war was heute gern vergessen wird, Herrscher einer stramm autoritären Diktatur mit einige "pro-westlich-modern" sein sollenden pseudodemokratischen Verzierungen, für einen Tag das damalige West-Berlin. Schon zuvor war der äußerst stark polizeilich gesicherte Staatsbesuch des Schahs in der Bundesrepublik Deutschland zutreffend als "Polzeistaatsbesuch" bezeichnet worden.

Ich empfehle jedem, den Wikipedia-Artikel über Benno Ohnesorg und die Umstände seiner Ermordung - dann das Kurras in Notwehr oder im Affekt schoss, kann nach Zeugenaussagen ausgeschlossen werden - sorgfältig durchlesen.
Wichtig und auch nach 40 Jahren immer noch schockierend ist der Bericht, der am 7. 6. 1967 in der Zeit erschien: "Die Polizeischlacht von Berlin Von Kai Hermann
Nach der Tragödie: Die Verantwortlichen spielen sich als Unschuldige auf".
Nach diesen Artikel war mir klar, warum sich die junge Bundesrepublik damals schlagartig "politisierte" - in die eine (autoritäre, "rechte") wie die andere (antiautoritäre, "linke") Richtung. Es stand auf Messers Schneide, nein, auf der Schneide einer Rasierklinge, wohin die BRD kippen würde.
Man kann den"'68ern" aus heutiger Sicht vieles Nachsagen. Sicher, sie waren mehrheitlich wohl keine überzeugten Anhänger einer offenen, liberalen Gesellschaft - sie wollten einen "anderen Staat", und dieser Staat wäre sozialistisch gewesen. Vielleicht keine DDR-Kopie - dazu war die DDR doch zu "kleinbürgerlich", kleinkariert, autoritär - aber bestimmt keine liberale Demokratie.
Trotzdem - Die damaligen Unruhen veränderten das gesellschaftliche Klima entschieden hin zu einer liberaleren, toleranteren, demokratischen Gesellschaft. Erst mit den "'68ern" kam die BRD wirklich im Westen an, war der Bann der alten Obrigkeiten wenigstens einigermaßen gebrochen.

In anderen Staaten, z. B. in Frankreich, waren die Unruhen Ende der 60er Jahre weitaus stärker. Dass sie in (West-)Deutschland aber bei einer "schweigenden Mehrheit" als so bedrohlich empfunden wurden - (und im Nachhinein bis heute werden), dass die "´68er-Revolte" "überlebensgroß" gesehen wurde und immer noch wird, dass lag sicher an der alten deutschen "Obrigkeitshörigkeit" - und vor allem an den Medien. Damals vor allem den Medien des Axel-Springer-Verlages.
Eine kritische aber auch Springer gegenüber faire Darstellung des damaligen Geschehens gibt Micheal Jürgs in seiner Biographie "Der Fall Axel Springer".
Es geht nicht mehr um Hochschulreform und überfüllte Hörsäle und alte Naziprofessoren, die immer noch unterrichten, und um die lähmenden Auswirkungen der großen Koalition ohne schlagkräftige Opposition. Nun geht es ans Eingemachte, ans Establishment überhaupt, und wer das angereift, kann ja nur zu "unkontrollierten Kräften" gehören. Viel eher allerdings sieht es, wie die Londoner "Times" kühl analysiert, nach einer "allgemeinen Revolte der deutschen Jugend gegen etwas aus, was sie als eine fette, verrottete, schuldbeladene und nach rechts tendierende Gesellschaft betrachtet, deren Symbol und Produkt der wohlhabende Presselord Springer ist."
Sein Berliner Flakgeschütz "BZ", zuständig für den Luftraum über den Stammtischen, hatte nach den Demonstrationen gegen den Schahbesuch, bei dem dessen Geheimdienst ungehindert prügeln durfte, und von einem Polizisten der völlig unbeteiligte Student Benno Ohnesorg erschossen wurde, zynisch gehähmt:"Wer Terror produziert, muß Härte in Kauf nehmen.". Sicher, das war nichts weiter als Ausdruck der Meinung der Mehrheit. Der schweigenden Mehrheit. Aber die anderen, die nicht schwiegen, wurden immer mehr. Auch wir sind das Volk, nur jünger als ihr.
Weltweit wurde demonstriert, nicht nur in Deutschland. Der Protest unter roten Fahnen und Ho-Tchi-Min-Rufen entzündet sich am amerikanischen Einsatz in Vietnamkrieg. Daraus entwickelte sich der Protest gegen alle Werte, die der Elterngeneration als ewig galten. Die Nachdenklichen unter den Älteren stellen sich in Frage und kommen mit ihren rebellischen Kindern wieder ins Gespräch. Die Betonköpfe, in der Politik und besonders in Springers Blättern, schlagen mit Worten um sich und kennen nur eine Antwort auf die ursprünglich sehr wohl idealistische Frage nach einer sinnvollen Zukunft, die der staatlichen Gewalt. Beim Aufprall kann es schon mal tote geben, so ist das halt, wenn Härte provoziert wird: Tote bei der Demonstration in der Kent State University, erschossen von Nationalgardisten, Tote bei Straßenschlachten in Paris und in Rom, und nun eben auch in der deutschen Weltstadt, in Berlin.
Am Anfang war das Wort: Schon 1966, also ein Jahr vor den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg und zwei Jahre vor dem Attentat auf Rudi Dutschke, nach den ersten großen Demonstrationszügen gegen den Vietnamkrieg in Berlin will "Bild""dafür sorgen, daß in Zukunft ähnlichen Demonstrationen die gebührende Antwort erteilt wird." Falls es stimmt, daß der Mann, der gern auf dem Kopf steht, manchmal blaue Flecken bekommt, wenn er "morgens bei der Lektüre meiner Zeitungen aus dem Bett fällt", muß er bis Mitte 1968 übersäht sein mit Prellungen: Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt - Polit-Gammler Rudi Dutschke dreht an einem dollen Ding - Studenten drohen: Wir schießen zurück - Unruhestifter unter Studenten ausmerzen - Jetzt wird aufgeräumt - Kein Geld für langbehaarte Affen - Abgrund von Gesinnungslumperei - Da hilft nur eins: Härte - Sind wir denn eine Apfelsinen-Republik? - Wer es wohl meint mit Berlin, der jage endlich die Krawall-Radikale zum Tempel hinaus - Eiterbeulen - Schreihälse - Geistige Halbstarke - Berlin wird ihnen eine Antwort geben. Es ist wohl so, daß diese Zeilen alle Springers Meinung entsprechen, denn irgend eine Distanzierung, zum Beispiel eine kleine Rüge an irgendeinen Chefredakteur, die er gern verteilt, ist nicht bekannt. Im Gegenteil, Berlin sei unappetitlich geworden, stellt er angewidert fest, und er meinte die, die gegen ihn auf die Straße gehen.
Wie die "wilde Zeit" Ende der 60er von den jüngeren Geschwistern der rebellischen Studenten erlebt wurde, beschrieb Roland Kaehlbrandt in der Zeit - Vieles kommt mir, obwohl ich jünger als Kaehlbrandt bin und "67/68" noch im Kindergartenalter war, aus den 70ern noch durchaus bekannt vor. "Seltsame Parolen und neue Musik -im Mai 1968 begriffen die kleinen Geschwister der Studenten nur, gegen wen es ging: gegen die Autoritäten..

Und heute? Die Polizeitaktik hat sich geändert. Solche brutalen Prügelorgien wie am 2. Juni 1967, die selbst die berüchtigten "Zoff-Demos" der 70er und 80er bei Gorleben, an der Startbahn West, in Wakersdorf bei weitem in den Schatten stellen, gibt es nicht mehr.
Nach dem heutigen Sicherheitskonzept hätte die Polizei den Staatsbesucher und die Demonstranten sorgfältig voneinander isoliert. Der Schah hätte das gespenstische Erlebnis eines menschenleeren Berlins erlebt - mit zugeschweißten Kanaldeckeln, Anwohnern, die nicht einmal Fenster öffnen dürfen, geräumten Parkplätzen - und Scharfschützen auf den Dächern. Die wenigen Publikumsdarsteller wären vorher sorgfältig gefilzt (selbst Nasenspray, Nagelfeile oder Kugelschreiber wird einem abgenommen), sorgfältig überprüft und sorgfältig gebrieft geworden. ("Bitte vermeiden Sie unbedingt alle plötzlichen Bewegungen. Werfen Sie auf keinen Fall Gegenstände wie Blumensträuße, dies könnte vom Personenschutz als Angriff missverstanden werden. Bitte halten Sie ausreichenden Abstand von den Absperrungen.").
Währenddessen hätten die Demonstranten, wahrscheinlich eingekreist in einen "Wanderkessel", irgendwo weit ab vom Staatsbesuch ihre Runde gezogen - und Frust geschoben.

Es hat sich vieles geändert seit damals. Ein neuer Fall "Benno Ohnesorg" im Umfeld der Anti-G8-Demonstrationen ist nahezu ausgeschlossen. Aber Vieles ist leider wie vor 40 Jahren.

Immer noch - oder wieder - gilt "Härte" seitens vieler Politiker und vieler Medien - auch solcher, die damals auf Seiten der Demonstranten standen - als einzig wirksames, angemessenes Mittel.
Was auch gleich geblieben ist: die Härte nach innen wird durch außenpolitische Rücksichtnahmen gerechtfertigt. Wäre der Schah damals Regierungschef eines kleine Landes ohne Erdöl und ohne Grenze zur UdSSR gewesen, hätte es weder prügelnde "Jubelperser" noch auf Anweisung prügelnde Polizisten gegeben.
Heute bestätigt das OVG Greifswald das weiträumige Demonstrationsverbot um Heiligendamm, da die Duldung von Protestveranstaltungen als "unfreundlicher Akt" von den ausländischen Regierungen empfunden werden könne.

Hauptsache, die Außenwirkung ist positiv!

Manchmal wünsche ich, die "Alt-´68er" und ihre geistigen Erben hätten wirklich den Einfluss, den nicht nur "Konservative", sondern auch "Liberale" ihnen gerne nachsagen.

Freitag, 1. Juni 2007

Wo der Hammer hängt

Ich schätze den Evolutionsbiologen Richard Dawkins sehr. Jedenfalls gilt das für seine wissenschaftlichen Arbeiten. Richard Dawkings ist auch kämpferischer Atheist. Wahrscheinlich ist der kämpferische Atheist Dawkins inzwischen prominenter als der Biologe Dawkins, trotz der immer noch anhaltenden Kontroverse um das "egoistische Gen". (Nebenbei: einer der am häufigsten missverstandenen Begriffe der jüngeren Wissenschaftsgeschichte.)

Kämpferische Atheisten sind mir grundsätzlich nicht unsympathisch, jedenfalls sympathischer als alle religiösen Fundamentalisten. Einige entschiedene Atheisten waren oder sind radikale Aufklärer, andere waren oder sind Zweifler, wieder andere wortgewaltiger Zermalmer von Vorurteilen. Ihre Tradition reicht von Epikur über Diderot, Feuerbach, Marx, Nietzsche bis zu Sartre und Camus.

Dawkins passt allerdings, bei allem Rang als Wissenschaftler, nicht in diese illustre Reihe. Er passt auch nicht in die Reihe der scharfen, und scharfsinnigen Religionskritiker, zu denen ich z. B. Karlheinz Deschner zähle ("Kriminalgeschichte des Christentums") - denn selbst Deschners Gegner kommen an seiner enorme Rechercheleistung nicht vorbei. Tatsächlich bin ich etwas enttäuscht, dass Dawkins mit dem
"Deschner-Preis"
der Giordano-Bruno-Stiftung geehrt wurde.

Dawkins fundamentaler Fehler ist, dass er auf "Augenhöhe" seiner Hauptgegner, der religiösen Fundamentalisten, bleibt. Was bedeutet, dass er weit unter seinen intellektuellen Möglichkeiten bleibt; man könnte polemisch sagen, im geistigen Tiefflug. Hierzu fand ich, via der Kommentare zu einem ebenfalls lesenswerten Beitrag Raysons Gretchenfrage, persönlich beantwortet - bei ChristianK einen guten Verriss der Fernsehreihe "The Root of All Evil, in der Dawkins seinem aufklärerischen Anspruch nicht so recht gerecht wurde - Bier über Glauben — Richard Dawkins hoffnungsloser Versuch gegen Religion zu argumentieren.

In der Reihe "Die neuen Atheisten" auf hpd-online
erschien ein Aufsatz von Dawkins, in der er sich mit einer spirituellen, nun ja Tradition ("Religion" trift es nicht genau) beschäftigt, der auch ich angehöre. Hoffen wir, dass der Trend anhält. Und es geht dabei um das wichtigste Werkzeug, Attribut und Symbol eines wichtigen Gottes dieser "Tradition": um Thors Hammer.
Anhand dieses Hammers lässt sich zeigen, dass Dawkins den selben Fehler macht, der seinen fundamentalistischen Widersacher - von einer aufgeklärt-kritischen Position her - so angreifbar macht.
Heutzutage ist es für uns selbstverständlich, Atheisten zu sein in Bezug auf Thor und Wotan, Zeus und Poseidon, Mithras und Ammon Ra. Wenn man Sie fragt, warum Sie nicht an Thors Hammer glauben, dann würden Sie wahrscheinlich so etwas sagen wie: "Warum ist es an mir, meinen Nicht-Glauben an Thor zu rechtfertigen, wenn man bedenkt, dass es nicht den allerkleinsten guten Grund dafür gibt, an ihn zu glauben?"
An dieser Stelle gebe ich zu, dass ich in Bezug auf Thor und Wotan, Zeus und Poseidon, Mithras und Ammon Ra kein Atheist bin. Und es gibt gute Gründe für mich, mit diesen und anderen Göttern zu sprechen (es gibt kein besseres Wort dafür, "verehren" trifft es nicht genau). An Thors Hammer glaube ich übrigens nicht. Ich würde auch nicht sagen, dass ich an den elektrischen Strom glaube. Oder an die Schwerkraft. Unter anderem steht Thors Hammer Mjölnir für etwas; er ist ein kraftvolles Symbol, das abstrakte metaphysische Begriffe und wenig anschauliche Naturvorgänge buchstäblich handgreiflich macht. Unter Anderem steht er auch für "elektrische Energie". Auch wenn die alten Germanen noch keine Vorstellung von "elektrischer Energie" hatten, besaßen sie einen Mythos, der ihnen erlaubte, mit Erscheinungen wie Blitz und Donner umzugehen - und der sich, auf seine Art und Weise, in der Praxis bewährte. Heute stehen uns neben dem Mythos auch Philosophie und Wissenschaft zur Verfügung, aber ein Künstler oder Schriftsteller, der nicht mythisch zu denken versteht, hat es, vorsichtig gesagt, schwer. Nebenbei: auch das "Über-Ich", "Ich" und "Es" im Sinne Freuds sind Mythen - wenn man wissenschaftliche Maßstäbe anlegt. Diese Mythen "funktionieren" gut, beschreiben, auch wenn sie keine neurologisch fassbaren Gegenstücke im Gehirn haben, die seelischen Vorgänge auf praktisch brauchbare Art. So wie viele der alten Mythen heute noch "funktionieren". Die Übergänge zwischen Metapher, Gleichnis, Mythos und Gedankenexperiment sind fließend. Und so, wie es schiefe Metaphern und irreführende Gleichnisse gibt, so gibt es auch unbrauchbare Mythen.
Aber weiter mit Dawkins:
Sie könnten fortfahren und hinzufügen, dass Donner, der einmal Thors Hammer zugerechnet wurde, nun besser durch elektrische Ladungen in den Wolken erklärt werden kann. Während wir technisch betrachtet eine agnostische Position gegenüber diesen antiken Göttern einnehmen, sowie auch gegenüber Feen und Kobolden (diese kann man ebenfalls nicht widerlegen), glauben wir doch in der Praxis an keine von ihnen und fühlen uns nicht verpflichtet zu erklären warum.
Hier wird Dawkins fundamentale Verwechslung deutlich, übrigens dieselbe Verwechslung, der auch die Fundamentalisten unterläuft:
Er verwechseln einen der Mythen um Thors Hammer mit einer (vor-)wissenschaftlichen Theorie. Etwa im dem Sinne, wie das heliozentrische Weltbild eines Galileis oder Keplers das als unzutreffend erkannte geozentrische Weltbild eines Ptolemäus ablöste. In der germanischen Mythologie gibt es den Weltenbaum Yggdrasil, der die neun Welten miteinander verbindet. Kein alter Germane wird dabei an einen "realweltlichen", normalen nur riesengroßen Baum, gedacht haben. Ebenso wenig, wie noch heute sibirische Schamanen über den Himmel, Erde und Unterwelt verbindenden Weltenbaum reisen, dabei real-weltlich an einem gigantischen Baum herumklettern - oder sich bei ihren Reisen überhaupt nennenswert von Fleck bewegen. Genauso wenig, wie ein normaler Christ sich "Christi Himmelfahrt" als einen fahrstuhlähnlichen Vorgang im dreidimensionalen Raum vorstellt. (Von besonders vernagelten Fundis vielleicht abgesehen ... auf diesem Gebiet halte ich inzwischen so ziemlich alles für möglich.)
Wenn ein katholischer Gynäkologe an die jungfräuliche Geburt glaubt, dann in aller Regel wohl nicht in dem Sinne, dass er die jungfräuliche Geburt beim Menschen für eine gynäkologische Tatsache halten würde. Er glaubt an den Mythos "jungfräuliche Geburt". Ob so ein Mythos sinnvoll oder hilfreich ist, ist eine andere Frage. Mit den anatomischen Tatsachen kann er ebenso wenig kollidieren, wie der Weltenbaum mit der Geographie.

Anderes Beispiel: die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist ein lehrreicher Mythos der Bibel - man erfährt aus ihm sehr viel über menschliche Vermessenheit, und auch etwas über die Gründe, an denen menschliche Vorhaben scheitern. Ein Fundamentalist, der wirklich glaubt, die alten Babylonier hätten mit ihrer Ziggurat den Himmel erreichen wollen, oder die Vielfalt der menschlichen Sprachen aus der "babylonischen Sprachverwirrung" zu erklären versucht, verwechselt die Kategorien - und tut dem Mythos Gewalt an.

Mittwoch, 30. Mai 2007

Die Rätsel der "Grönland-Wikinger"

Ich gebe zu, ich bin voreingenommen gegen jemandem, der schreibt: In ihrer eigenen Sprache, dem Altnordischen, bedeutet das Wort vikingär nichts anderes als "Räuber"

(Auf "Wiking gehen" hieß soviel wie sich auf Handelsreise / Raubzug / Kriegsfahrt / Forschungsexpedition begeben. (Die Übergänge waren fließend.) Oder, um es mit Hägar dem Schrecklichen zu sagen: "Wikinger heißt Geschäftsreisender". Nur in kirchlichen Chroniken bedeutete "viking" nichts als "Räuber", ansonsten war der Begriff ambivalent besetzt.)

Wäre das aber der einzige Kritikpunkt, könnte ich Jared Diamond Buch "Kollaps" nur empfehlen. Das Thema des Geografen und Evolutionsbiologen ist nichts weniger als die Suche nach den Ursachen des Untergangs von Gesellschaften. Er stellt die Frage, warum sich angesichts schwieriger Umweltbedingungen manche Gesellschaften als stabil erwiesen - und andere buchstäblich ausstarben. Eine Frage, die Diamond anhand von fünf Parametern (Umweltschäden, Klimaveränderungen, feindliche Nachbarn, Unterstützung durch Nachbarn und Planung und Gestaltung der Zukunft) untersucht. Angenehm ist, dass Diamond kein weiteres "Weltuntergangsbuch" schrieb und auf die gängigen apokalyptisch-metaphysischen Abgesänge entweder auf "unsere Zivilisation" oder gleich die Menschheit als Ganzes verzichtet. Diamond ist Warner, als solcher durchaus Optimist, kein Apokalyptiker.
Das Buch ist schon seit einiger Zeit auf dem Markt. Deshalb wurde seine Schwäche, nämlich die, dass die Beispiele bei genauerer historischer Betrachtung manchmal nicht so recht zu Diamonds Prämissen stammen, schon einige Male thematisiert. Besonders oft geriet das schon lange vor dem Buch zum Öko-Mythos gewordene Beispiel der Osterinsel, deren Einwohner mit dem Abholzen der Palmenwälder angeblich ihren Untergang besiegelten, in den Fokus der Kritik.

Sehr viel breiteren Raum nehmen in Diamonds Buch die normannischen Siedler in Grönland ein. Ende des 10. Jahrhunderts gründete Erich der Rote mit einer Handvoll Siedler aus Island, Norwegen und anderen nordeuropäischen Ländern im Südosten Grönlands eine kleine Kolonie. Die Grönland-Normannen betrieben erfolgreich Viehzucht und etwas Ackerbau, sie exportierten Pelze und Walross-Elfenbein, sie gründeten sogar eine Tochterkolonie in Nordamerika. Das Gemeinwesen der normannischen Grönlander war eine blühende kleine Republik. Ihre Lebensweise entsprachen ganz und gar der in ihrer skandinavischen Heimat. Insgesamt bestand das von Erich dem Roten gegründete Gemeinwesen fast 500 Jahre - und verschwand dann anscheinend plötzlich. 1261 musste Grönland seine Selbstständigkeit aufgeben - vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen. 1350 berichtete der isländische Kirchenmann Ivar Bardarsson, dass die Vesterbygd, die "westliche Siedlung" (die in Wirklichkeit nördlich der Hauptsiedlung lag) aufgegeben sei.
Um 1408 wurde die letzte christliche Hochzeit in Grönland beurkundet. Spätestens um 1550 erlosch die letzte normannische Siedlung in Grönland.
Der Hauptgrund des Niedergangs ist offensichtlich das rauer werdende Klima. Spätestens ab dem 13. Jahrhundert verschlechterten sich die klimatischen Bedingungen in Grönland. Hatte dort um 1000 ein milderes Klima geherrscht als heute, lagen die Temperaturen um das 1400 weit tiefer, auch wenn der Tiefpunkt der "kleinen Eiszeit" erst im 17. Jahrhundert erreicht wurde.

Für Diamond ist klar: die Normannen verstanden es nicht, sich den geänderten Lebensverhältnissen anzupassen und verhungerten dort, wo die Eskimos / Inuit mit ihre an die Umwert angepassten Kultur gut überlebten.
Diamond zeigt, dass der Versuch der Normannen, in Grönland nach von ihren in ihrer Heimat üblichen Verhältnissen zu leben, die Umwelt ihrer Siedlungen veränderte (Bodenerosion) und das diese Veränderungen ihnen als das Klima im 14. und 15. Jahrhundert kälter wurde, schwer zu schaffen machte. So weit, so unstrittig.

Allerdings steht Diamonds zentrale These, die Nordländer hätten sich nicht den geänderten Verhältnissen angepasst, auf wackligen Beinen. Er behauptet z. B., dass sie sich geweigert hätten, sich vorwiegend aus dem Meer zu ernähren (wie die Eskimos) und auf "europäischen" Ernährungsgewohnheiten beharrt hätten. Kurz gesagt: die Wikingernachkommen hielten aus irgend einem Grunde nichts vom Fischessen. Wenn in einer normannischen Siedlung 70% der gefundenen Knochen Seehundknochen waren, so entspricht das ziemlich genau den Verhältnissen bei den Grönländern eskimoischer Abkunft. Diamond deutet den Fund aber so, dass die Normannen lieber Robbenfleisch als Fisch gegessen hätten. Für die Annahme einer so starken kulturelle Abneigung gegen Fisch, dass sogar das Schlachten der Hunde als bessere Alternative erschien, spricht gar nichts. Die Färinger, ebenfalls isoliert lebenden Wikingernachfahren,
lebten bis ins 20. Jahrhundert hinnein fast nur von Fisch und Meeressäugern.

Aus archäologischen Funden ergibt sich, dass die normannischen Grönländer die Bauweise ihrer Häuser dem veränderten Klima anpassten. Sie konstruierten außerdem kälteisolierte Ställe, in denen sogar Rinder und Schweine überwintern konnten. Wichtigste Hausstiere waren aber genügsame Schafe, deren besonders dichte Wolle sogar exportiert wurde. Es spricht vieles dafür, dass jene Grönlandsiedler, die das harte Klima nicht länger ertragen wollten, schlicht ausgewandert sind - denn es gab nach wie vor eine regelmäßige Schiffsverbindung.
Die 3500 Grönländer, die nach der Aufgabe von Vesterbygd ausharrten, ging es wirtschaftlich offensichtlich gut. In den Gräbern von Herjolfsnes wurden aufwändige Kleidungsstücke nach der Mode des späten 15. Jahrhunderts gefunden. Wer ständig den Hungertod vor Augen hat - und das müsste, wenn Diamond recht hat, zu dieser Zeit der Fall gewesen sein - hat normalerweise andere Sorgen als modische Kleider. Es im mittelalterlichen Grönland immerhin 36 Kirchen, viele davon mit teuren Glasfenstern. Der portugiesische Seefahrer João Vaz Corte-Real erreichte im Jahr 1473 Grönland. Nach dem leider nur fragmentarisch erhaltenen Bericht Didrik Pinings existierte dort noch eine kleine europäische Siedlung.
Dennoch - als 1530 vom Kurs abgekommene norwegische Seefahrer Grönland besuchten, fanden sie nur einen toten Normannen. Die Kolonie gab es nicht mehr.
Gegen Diamond und die "Klimatheorie" spricht, dass ausgerechnet die kritische Zeit zwischen etwa 1480 und etwa 1530 eine eher mildere Periode war.

Der klimabedingt dickere Eisgürtel und die kürzere Navigationsperiode behinderten wahrscheinlich die regelmäßige Schiffsverbindung nach Europa. Das Leben in Grönland wurde härter. Während der großen Pest um 1350 könnte die Verbindung sogar völlig abgerissen sein. Allerdings führte das nicht zum Aussterben der Kolonie.
Die Neigung zur Flucht in mildere Gegenden wird allerdings gewachsen sein. Ich nehme an, dass viele Grönländer einfach nach Europa zurückwanderten. Die Möglichkeit, dass einige Grönländer nach Nordamerika ausgewandert seien, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Allerdings müßten diese Siedler vor etwa 1550 ausgewandert sein, weil spätensten nach dieser Zeit die Grönländer keine eigene seetüchtigen Schiffe mehr hatten.
Auch wurde diskutiert, dass die Pest auf Grönland selbst gewütet hätte. Dafür gibt es aber keine positiven Hinweise.

Dagegen, dass sich die normannischen Grönländer mit den Eskimos / Inuit / Skraelingen vermischt hätten, sprechen anatomische Untersuchungen an den auf den Friedhöfen der Normannen gefundenen Skeletten. Dennoch ist es möglich, dass sich einzelne Europäer den Einheimischen angeschlossen und deren Lebensstil angenommen haben. Eine schwer zu verifizierende Hypothese, denn schon mit den Walfangflotten des 17. Jahrhunderts setzte in Südwestgrönland eine "Rassenmischung" ein.
Dass die europäischen Grönländer durch die Inuit ausgrottet wurden, ist auch eine schwer verifizierbare Hypothese. Ein regelrechter Krieg ist schwer vorstellbar. Dass es Plünderungen gab, zeigen Funde von europäischem Hausrat und zerschlagene Glockenteilen in Eskimogräbern. Fragt sich, ob vor oder nach dem Ableben der Normanen.
Eine Außenseitertheorie ist die, dass die letzten normannischen Grönlander von portugisischen Sklavenjägern in die Zwangsarbeit verschleppt wurden. Auch diese Hypothese dürfte nur schwer zu erhärten sein.

Und wieso verschwanden die normannischen Grönländer dann?
Man darf bei all dem nie vergessen, wie klein die euroäische Kolonie in Grönland war - nach der Aufgabe von Vesterbygd waren es etwa 3500 Menschen. So wenige Menschen können auch aus unspektakulären Gründen "verschwinden". Vermutlich trugen alle oben genannten Gründe mehr oder weniger zum "Verschwinden" der Grönlandsiedlungen bei.

Nehmen wir aber einfach an, die Grönland-Normannen hätten alle "ökologisch vernünftig" in Sinne Diamonds gehandelt und sich dem Land so gut wie möglich angepaßt, also die Lebensweise der Eskimos übernommen. Bei so wenigen Menschen - und den nachweislich zahlreich in das Siedlungsgebiet der Normannen einwandernden Eskimos - hätte das kurz über lang dazu geführt, dass die Normannen kulturelll assimiliert worden wären. Allenfalls körperlich wären sie als Nachkommen von Europäern auszumachen gewesen. Sie wären aus historischer Sicht ebenfalls "verschwunden".

(2. Teil: Leif Eriksons Vinlandfahrt - ein einmaliges Unternehmen?)

Montag, 28. Mai 2007

Das Original

Heute starb, nach langer, quälender Krankheit, der Maler Jörg Immendorff. Immendorff litt seit Jahren an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), einer alptraumhaften Krankheit. ALS ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, die im Verlauf weniger Jahre zu einer fortschreitenden Lähmung des gesamten Körpers führt. Der eigene Körper wird zum Gefängnis.
Sein Tod war, so pathetisch das klingt, Erlösung. Es heißt, er sei an Herzversagen gestorben. Sein Erbe geht an eine von ihm gegründete Stiftung mit Forschungsstipendium an der Berliner Charité zur Erforschung von Ursache und Therapie der ALS.

Immendorf war einer der prominentesten Künstler Deutschlands. Sogar die Rundfunk-Nachrichten würdigten ihn.

Ich fürchte aber, dass Immendorf seine Prominenz in erster Linie nicht seinem künstlerischen Schaffen verdankt, sondern den sogenannten Skandalen. So heißt es in der "Netzeitung":
Durch einen Sex- und Rauschgiftskandal im Jahr 2003, den er mit einer Bewährungs- und hoher Geldstrafe büßen musste, war der frühere Beuys-Schüler auch außerhalb der Kunstszene bekannt geworden.
Eine Sorte Prominenz, auf die Immendorf sicher gern verzichtet hätte. Zumal der "Skandal" bei Lichte gesehen vergleichsweise ein "Skandälchen" war, und der Drogenkonsum auch im Zusammenhang mit seiner schweren Krankheit gesehen werden muss.

Wobei der zeitweilig den "Jungen Wilden" nahe stehende Beuys-Schüler sicher nicht der Typ war, der sich gerne anpasste oder ständig um sein "gutes Image" und "gute Presse" bemüht war. Aber ein "Skandalkünstler" war er nicht. Er war solide in seinem Werk, glaubwürdig in seinen sozialen und politischen Engagement und wenn er provozierte, dann bestimmt nicht der Provokation willen. Auch wenn es sich manchmal geschickt in Szene zu setzen verstand.

Das erste Immendorf-Werk, das ich im Original sah, war ausgerechnet eine Plastik von Hans Albers.
Hans-Albers-Statue von Jörg Immendorf
"Hans Albers" - Statue von Jörg Immendorf auf dem Hans-Albers-Platz, Hamburg-St.Pauli.
Sie stand in der La-Paloma-Bar auf St. Pauli. Immendorf hatte diese Bar gegründet und für einige Zeit lang geleitet. Als ich erfuhr, dass die Albers-Plastik von dem Immendorf ist, und der Immendorf in den frühen 80ern mal eine Kneipe (den etwas anderes ist das "La-Paloma" nie gewesen) auf St. Pauli hatte, da wusste ich: nicht nur die Plastik, sondern auch ihr Schöpfer ist ein Original.

Ein Original in einer Welt voller gestylter Kopien. Voller geklonter Feen, wie ein anderes (zum Glück nicht totkrankes) Original rappt.

Ich hebe mein Horn auf Jörg Immendorf!

Samstag, 26. Mai 2007

Aufmerksamkeitsökonomie und Realitätsverzerrung

Manchmal ist es erstaunlich, welche Themen in unseren Massenmedien Vorrang genießen.
Damit meine ich jetzt nicht den breiten Raum, den klassische Boulevard-Themen zwischen knatschigen Schauspielerehen und flauschigen Jungeisbären einnehmen. Das fällt mehr oder weniger unter Unterhaltung. Es geht auch nicht um kulturelle Themen zwischen Opernpremieren und verbrennenden Museumsschiffen. Das fällt mittlerweile auch in den Bereich Unterhaltung / angenehmes Werbeumfeld. Wie übrigens auch der Bereich des Wissenschaftsjournalismus (außer bestimmten Umweltthemen und einigen neuen Technologien).

Nein, es geht um ernsthafte Themen. Denen mit 20-Uhr-Tagesschau- oder Titelseiten-Potenzial.

Wie hieß es neulich so schön auf NPD-Blog.Info:
m Mai 2007 war bekannt geworden, dass ein hochrangiger Beamter der Polizeidirektion Dessau versucht haben soll, die Bekämpfung rechtsextremer Straftaten zu bremsen. Wie die Nachrichtenagentur ddp mit Bezug auf den Tagesspiegel berichtete, soll der Dessauer Vize-Polizeichef Hans-Christoph Glombitza drei Staatsschützern der Direktion im Februar 2007 bei einer Besprechung nahe gelegt haben, dass man diesbezüglich nicht alles sehen müsse. Glombitza soll gewarnt haben, dass das Ansehen des Landes Sachsen-Anhalt nachhaltig geschädigt werden könnte.

Offenbar waren seine Befürchtungen übertrieben, die bundesdeutsche Öffentlichkeit interessiert sich zurzeit mehr für angebliche Terroristen beim G8-Gipfel als für verbrannte Flüchtlinge und Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt.(...)
Hervorhebungen von mir. Quelle - NPD-Blog: Eingesperrt, gefesselt, verbrannt - was geschah in Dessau?.

Warum ist das so? Ein Beispiel aus dem April, aus Hamburg. Ein von Neonazis gesprengter Briefkasten eines Antifa-Aktivisten schaffte gerade mal einen Dreizeiler in der Lokalzeitung und eine Notiz auf "indimedia" (bei immerhin erheblicher Personengefährdung): Naziatterror in Hamburg-Harburg, über einen im direkten Vergleich der Folgen "harmlosen" Anschlag auf ein Hotel in Hamburg, bei dem es lediglich Glasbruch und eine durch Farbbeutel verunzierte Fassade gab, wurde ausführlich überregional berichtet.
An sich ist auch das Thema "militante Nazis" immer für eine saftige Schlagzeile gut. Sieht man sich aber das jeweilige Opfer an, dann springt ein gewaltiger Unterschied ins Auge: Ziel des Neonazi-Sprenganschlages war ein unbekannter Antifa-Aktivist. Also ein "medialer Niemand" (ein "uninteressanter Typ!") der sich außerdem direkt mit Rechtsextremisten anlegt (hier setzt gern der "Selber Schuld!"-Reflex ein). Außerdem wird das peinliche Thema "Neonazis" gern seitens der (Lokal-)Politik gern verdrängt. (Siehe oben!)
Der Farbbeutel-Fall steht im Umfeld der ohnehin im Fokus der Medien stehenden Proteste gegen den G8-Gipfel, ist damit automatisch "Thema", die "Opfer" sind u. A. Gäste eines Hotels der gehobenen Kategorie (5 Sterne), also potenziell "wichtig" - und das Thema "Linksextremistische Gewalt" passt in die politische Agenda sowohl des Hamburger Innensenators Nagel wie des Bundesinnenministers Schäuble.

Anderes Beispiel, via Zwischenspeicher. Im Klinikum Essen gibt es einen ungeheuerlichen Verdacht, der sich aber nur in der Regionalpresse niederschlägt: RP: Verdacht auf Organhandel, wogegen der Skandal um Doping-Ärzte im Radsport breiteste Aufmerksamkeit einschließlich Sondersendungen im Fernsehen genießt.

Lange Zeit habe ich angenommen, es gäbe irgendwelche Drahtzieher im Hintergrund, Politiker, Interessenvertreter usw. die dafür sorgen, dass bestimmte Nachrichten unterdrückt und andere dafür gehypet werden. Also: Zensur durch Druck und Korruption. In Einzelfällen mag das so sein, aber inzwischen bin ich mir sicher, dass meistens gar keine äußere Einflüsse auf die Redaktionen mehr vonnöten sind. Es reicht in privatwirtschaftlichen Medien der Seitenblick auf die Anzeigenkunden.
Sehr schön hat MomoRules diese Mechanismen hier skizziert: Das Sagbare und das Unsägliche.
Zurück zu den Sonnenbrillen im Magazin von DIE ZEIT: Klar, im Umfeld einer solchen Story fühlen sich Anzeigenkunden wohl. Qualität? So konzipiert man auch beim Fernsehen ganze Sendungen - eben anhand potenzieller Zielgruppen für Werbung. Berichterstattung als Umfeld für Werbung ist das, was vermeintlichen "Meinungsjournalismus" ersetzt.

So sind einst die Erotik-Magazine aus dem Privatfernsehen verschwunden: Sie hatten gute Quoten, aber die die Werbeblöcke verkauften sich nicht gut, weil Titten und Ärsche offenkundig dem beworbenen Produkt nicht gut bekommen. "Titten und Ärsche" wäre mir übrigens bei annähernd jeder Zeitung aus dem Text redigiert worden im Namen der Qualität, weil's nach Gosse riecht für den gemeinen Bildungsbürger und es dessen Dünkel ist, der eben auch über Sagbares und Unsägliches bestimmt. Und noch hat der ja Geld, der Bildungsbürger.

Im Gegensatz zum unappetitlichen Hartz IV-Empfänger, a priori unter Sozialbetrugsverdacht gestellt - ein zentrales Motiv aktueller Quasi-Journaille, die Verdächtigung. Spitzel-Schreiberlinge und -Filmer von Schäubles Gnaden, sozusagen. Die dann als Protagonisten im sogenannten "Unterschichtenfernsehen" sich Sozialamtsschnüffler wählen - würde man sie aus sich heraus verstehen wollen, diese Objekte der Berichterstattung da auf ihren Otto-Katalog-Sofas, könnten ja ebenfalls Werbekunden ausbleiben.

Weil das eben gegen aktuelle Selektionskriterien verstieße, wie man solche Leute zu behandeln hat. Bei Entscheidern in den Sendern löste sowas Unbehagen aus, das käme nicht durch, weil's eben nicht mehr bunt wäre. Da brauchte noch nicht mal ein Werbekunde anzurufen, das passiert schon ganz von selbst.
Bei öffentlich-rechtlichen Sendern mag das mit den Werbekunden nicht ganz so schlimm sein, dafür müssen dann eben Rücksichten auf die im Rundfunkrat vertretenen "gesellschaftlichen Gruppen" genommen werden. Also: Kritik und Sendezeit immer schön gleichmäßig auf die politischen Parteien verteilen - und ja kein zu böses Wort über den Papst. (Letzteres war letztens anlässlich einer skandalösen Rede, die Ratzinger in Brasilien hielt, sehr auffällig.) Und egal ob öffentlich-rechtlich oder privat: es ist klar, auf wen "man" Rücksicht nehmen muss - und wen man ruhig mal gepflegt in die Pfanne hauen darf.
Der einzige Grund, warum Schwule in Deutschland nicht mehr so offenkundig diskriminiert werden, ist wohl, daß sie als werberelevante Zielgruppe gelten. Für Kanacken, Asylanten und Flüchtlinge gilt das nicht. Die sind allenfalls als "Schicksalsbericht" erlaubt. Oder als antagonistisches Prinzip zur je eigenen Kultur. Willkommen in Zettels und di Lorenzos schöner, neuer Welt der Qualität und Scheinprobleme!
Das ist das Stichwort: Scheinprobleme! Medienphantome. Wobei es im Effekt nur wenig Unterschied macht, ob es um einen politischen Jurasic Park geht (wo aus einer Mücke ein Tyrannosaurier gemacht wird), oder es ob die "große Katastrophe" real im befürchteten Verlust von Werbeeinahmen besteht.

Mittwoch, 23. Mai 2007

Kulturgut Segelschiff

Sie trug 3047 Quadratmeter Segeltuch an ihren Rahen. Ironischerweise bedeutete ihr Name "Cutty Sark" im Schottland des 18. Jahrhunderts "kurzes Hemd". Doch der Name paßt. In Robert Burns 1791 geschriebenen Gedicht Tam o' Shanter gerät der Tam, als er betrunken nach hause reitet, in einen Ceilidh (keltisches Musik- und Tanzfest), auf dem Hexen tanzten. Unter ihnen war eine besonders schöne junge Hexe namens Nannie, bekleidet mit einem (zu) kurzem Hemd:
Her cutty sark, o' Paisley harn,
That while a lassie she had worn,
In longtitude tho' sorely scanty,
It was her best, and she was vauntie.
Ah! little kend thy reverend grannie
That sark she coft for her wee Nannie
Wi' twa pund Scots ('twas a' her riches)
Wad ever graced a dance of witches!
Cutty Sark
Clipper "Cuttty Sark" im Trockendock, Greenwich - Foto:pixelio.de

Bilder zum Brand der "Cutty Sark" vom "Guardian": Cutty Sark fire

Die nun bei Restaurierungsarbeiten ausgebrannte "Cutty Sark" ist ein britisches Nationaldenkmal, und zwar eines der sperrigen Sorte. Der 1869 in Dumbarton, Schottland, erbaute Teeclipper ist in mancher Hinsicht ein Art Gegendenkmal zur Victorianische Denkmalskultur, die sehr auf England fixiert, deutlich militärisch, unverfroren imperialistisch, sehr pompös und stets aus "Upper Class"-Perspektive angelegt war. In Großbritannien sind viele faszinierende Schiffe als Denkmäler konserviert worden - aber die berühmstesten dieser historischen Schiffe, von Nelsons Admiralsschiff "H.M.S. Victory", über die hölzernen Fregatten "H.M.S.Trincomalee" und "H.M.S. Unicorn" und die stählerne Fregatte "H.M.S. Warrior" bis zum Kreuzer "H.M.S. Belfast" aus den 2. Weltkrieg, sind Kriegsschiffe.
Der Ruhm der "Cutty Sark" lag darin, empfindlichen Tee in Rekordzeit von China nach Großbritannien gebracht zu haben - viel schneller und wirtschaftlicher, als es kohlenfressenden Dampfer ihrer Zeit geschaft hätten. Weil sie sowohl den amerikanischen wie den englischen Clippern davonsegelte, wurde sie zum Symbol schottischen Nationalstolzes. Nicht zufällig trug sie den Namen einer Gestalt aus einem Gedicht des "schottischen Nationaldichters" Burns, und in einer extrem "verklemmten" Zeit, in der es sogar verpönt war, in der Öffentlichkeit das Wort Hose auszusprechen, muß es ausgesprochen provokativ gewesen sein, ein Schiff nach einer erotischen Hexe zu benennen - das als Gallionsfigur auch noch eine hölzerne Plastik diese knapp bekleideten jungen Dame trägt!

Ihre Dauerhöchstgeschwindigkeit war 15 Knoten (28 km/h), bei sehr gutem Wind 18 kn (33.3 km/h), die Strecke China-Großbritannien schaffte sie in durchschnittlich 110 Tagen.
Aber diese glorreiche Zeit war kurz - nach der Eröffnung des Suezkanals 1869 konnten Dampfschiffe auf der kürzeren Route über das Mittelmeer in den fernen Osten fahren, für Segler war diese Route wegen der widerigen Windverhältnisse ungünstig. Die Teefahrten mit Clippern wurde unwirtschaftlich, ihre letzte Teereise unternahm die "Cutty Sark" 1875-76.
Auf der Langstrecke von und nach Australien konnten die Segelschiffe den Vorteil ihrer nahezu unbegrenzten Reichweite beinahe ein letztes Mal ausspielen. Bis 1895 segelte die "Cutty Sark" im australischen Wollhandel, später führ sie, unter portugiesischer Flagge bis 1921 vor allem nach Südamerika. Seitdem war sie zunächst britisches Schulschiff, seit 1954 liegt sie als Museumsschiff in einem Spezialdock in Greenwich.

Kann ein altes Schiff, über seinen Wert als Denkmal einer bestimmten Phase der technischen Entwicklung hinaus einen eigenständigen kulturellen Wert haben?
Ich erinnere mich an entsprechende Diskussionen, als in Hamburg der Verein "Windjammer für Hamburg" gegründet wurde. Als der Verein schließlich die "Rickmer Rickmers" auftriebt und aufwendig restaurieren ließ, da gab es heftige Kritik, weil der "rostige alte Kahn" zuwenig historischen Bezug zu Hamburg und zuwenig Originalität als technisches Denkmal hätte. Auch heute werde ich den Verdacht nicht los, dass viele Hamburger Kommunalpolitiker die Bedeutung dieses Schiffes ausschließlich in seinem Wert als Touristenattraktion sehen.
Und was schon für Hamburg gilt, das gilt erst recht für die "meerfernen" Teile Deutschlands. Alte Schiffe - ganz hübsch, aber keinesfalls mit historischen Bürgerhäusern, Kirchen, Schlössern zu vergleichen. Allenfalls Zeitdokumente, wie alte Fabriken eben.

In der alten Seefahrtsnation Großbritannien sieht man das glücklicherweise anders.

Zum Brand des Schiffes: BBC NEWS
Cutty Sark fire remains a mystery
Ananova: Cutty Sark probe 'inconclusive'
The Guardian: Police declare burned Cutty Sark stern a crime scene.

Allerdings rückt durch den - hoffentlich reparablen - Brand der "Cutty Sark" die Rettung des einzigen anderen erhaltenen Composite-Clippers, der 1864 gebauten "City of Adelaide", stärker ins öffentliche Bewußtsein. Diesem historischen Großsegler droht nämlich die Abwrackwerft: "A campaign to raise funds for a full restoration has so far failed to gain much ground with a final decision on whether or not to demolish the vessel expected later this month." The Age: Campaign to save Cutty Sark sister ship.

Ich habe gezögert, dieses Thema hier zu bloggen. Weil ich Angst hatte. Angst vor dem aus humanistischer Sicht allzu berechtigten Vorwurf, es sei zynisch, angesichts der Brandes eines alten Schiffs sozusagen in Tränen auszubrechen, wenn anderswo Menschen getötet, gefoltert, verfolgt, um elementare Menschenrechte betrogen werden - letzteres auch in Deutschland.

Überzeugt, es doch zu bloggen, hat mich eine kurze Notiz bei Che2000: Flames over Greenwich.

Dienstag, 22. Mai 2007

Realität mit Braunfilter

Erschreckend, was in Deutschland passieren kann, wenn sich eine Siebenjährige bei einer Auskunft gegenüber deutschen Behörden irrt: Deutsche Behördengründlichkeit beim Menschenzermahlen, auch in der Türkei.
Die Haltung des niedersächsischen Innenministeriums zu dem Fall ist die, die man leider von einem deutschen Innenministerium erwarten muß: die "familiäre Lebensgemeinschaft" könne doch "in der Türkei oder im Libanon" wieder hergestellt werden. Da bekommt man direkt Lust auf die NPD-lere, die geben wenigstens zu, dass ihren scheißegal ist, was mit abgeschobenen Ausländern passiert und das Humanität nur für deutsche Volksgenossen da ist.

Ja, und auch in einer anderer Angelegen scheinen viele, nicht nur, aber auch Deutsche, nicht zu merken, wie braun-getönt die Brille ist, durch die sie die Welt sehen. Z. B. beim "Nahost-Konflikt" - Die Logik des Irrsinns. Es tut mir leid, die Besessenheit der Interpretierer, jeden Konflikt der zahlreichen Konflikte im "Nahen Osten" partout in die Israel-Palästina Schublade quetschen zu wollen, kann ich mir nur noch als uneingestandenen Antisemitismus erklären. Denn mit dem, was sich zwischen Libanesen und islamistischen Fundis in den Palästinenserlagern abspielt, hat Israel nicht einmal am Rande etwas zu tun. Am Ostrand des Mittelmeers selbst mag Lila recht haben, dass der Haß auf Israel gewissermaßen der gemeinsame Nenner zwischen Todfeinden ist. Bei uns, mit deurlichem geographischen und politischem Abstand zum Geschehen, kann man die anti-israelische Haltung nur als mutwilliges Ausklammern von Tatsachen, ideologische Verblendung, bezeichnen. Und mit der Bedienung immer noch populärer antisemitischer Klischees.

Wie weit die "braune Brille" immer noch die politische Argumentation in Deutschland bestimmt, zeigt dieser Artikel auf dem NDP-Blog Bürgermeister spricht Klartext: "Überfremdung ist Nazi-Jargon".

Und wenn jetzt noch jemand fragt: "Wieso Nazi-Jargon?", dann verweise ich ihn auf die wikipedia.:
Nur in der Wirtschaftswissenschaft dient der Begriff als Fachterminus. (...) Besonders Rechtsextremisten benutzen ihn als Kampfbegriff, um religiöse, ethnische, rassische oder kulturelle Minderheiten als Gefahr für die „Einheimischen“, ihre Kultur und/oder Nation darzustellen. Damit verbinden sie politische Ausgrenzungsforderungen. Diese Verwendung stammt aus der Volkstumsideologie und Völkischen Bewegung des 19. Jahrhunderts in deutschsprachigen Ländern.

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