Donnerstag, 5. März 2009

Die Sekuritär-Gesellschaft und ihre Opfer

Ich bin nicht immer mit dem einverstanden, was Zettel (meist geistreich) in seinem Blog schreibt. In der Affäre Tauss kann ich mich nur voll und ganz anschließen: Marginalie: Der Abgeordnete Tauss unter "Erklärungsdruck". Nebst zwei Disclaimern und einer Erinnerung an die Unschuldsvermutung.
Im großen und ganzen stimme ich auch der Einschätzung auf "Netzpolitik" zu: Zu den Kinderpornographievorwürfen gegen Jörg Tauss.
Ob an den Vorwürfen gegen den Abgeordneten Tauss etwas dran ist, kann ich nicht beurteilen. Sehr wohl beurteilen kann ich das geistige Klima, in dem nicht etwa "Kinderpornographie im Internet" zielgerichtet und mit wenig Tammtamm bekämpft, sondern politisch instrumentalisiert wird. (Und die aus politischem Aktionismus, Hysterie. Wunschdenken und wahrscheinlich manchen Hintergedanken geborene Idee der "Internetsperren für Kinderpornoseiten" aus Dilettantismus versandet ist, wie Jens schreibt.)

Wie das Klima aussieht, illustrierte die CDU/CSU-Fraktionsvizechefin Ilse Falk, die die Gegner von Internetsperren per Access Blocking beschuldigte, Kinderpornografie zu fördern. Gekoppelt mit dem Vorwurf, die Kritiker handelten verantwortungslos und würden den Interessen skrupelloser Geschäftemacher über den Schutz der Kinder stellen.
Dieses Klima einer "Hysterie mit Hintergedanken" herrscht besonders ausgeprägt auch beim Thema Terrorismus und - in etwas anderer Form - beim Rechtsextremismus.
Allerdings kocht das Thema Neo-Nazis nur saisonal hoch - und auch das Thema "Terrorismus" hat als Begründung für eine Einschränkung der Bürgerrechte an Attraktivität verloren - wenn z. B. keine Statistik z. B. über die angeblich zahlreichen Terroristenvideos vorliegt, oder keine Angaben, wie viele der angeblich wie Pilze aus dem Boden sprießenden Terror-Blogs es gibt, dann klingt es nur noch paranoid, wenn es z. B. in einer offiziellen Stellungnahme der Bundesregierung heißt:
Die hohe Bedeutung sogenannter Social Communities im Internet für die Verbreitung von islamistischer Propaganda und für die Kommunikation islamistischer und terroristischer Netzwerke ergibt sich daraus, dass diese Plattformen für jedermann zugänglich sind und insbesondere von jungen Menschen intensiv genutzt werden.
Ja, und man stelle sich vor: auch islamistische Terroristen benutzen das Telefon, fahren Auto oder schreiben Bücher!

Wie auch immer: die Bekämpfung von Kinderpornographie und Terrorismus eignet hervorragend als Begründung für Zensurmaßnahmen, die mit der Zeit auch auf andere Bereiche ausgeweitet werden können. Man erinnere sich: Auch die Möglichkeit über einen Kontenabruf an Bankdaten von Bürgern zu kommen, wurde mit dem Argument eingeführt, etwas gegen den "Terrorismus" und die "organisierte Kriminalität" zu tun. Heute wird der Kontenabruf routinemäßig eingesetzt, um bei Steuervergehen zu ermitteln. Das mag legitim sein, aber mit dieser Begründung wäre die de facto Abschaffung des Bankgeheimnisses wohl nicht durchsetzbar gewesen.

Der Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk ist der Ansicht, wir seien im neuen Jahrtausend eine "sekuritären Gesellschaft" geworden. Kennzeichen: Allgemeine Schockstarre und Unterwerfung unter Sicherheitsbedenken bis ins Privateste hinein. Daran ist nicht nur die Terrorpanik nach "9/11" schuld, sondern es ist ein schleichender Prozess, an dem auch z. B. die Medien mitgewirkt haben. Und es ist erstaunlich, wie wenig der Verlust an Freiheit beklagt wird. Sloterdijk hat leider recht: Die Menschen sind umdressiert worden, ohne dass sie es gemerkt haben. Aus Bürgern sind Sicherheitsuntertanen geworden.
Übrigens erwartete, fast 30 Jahre ist das her, meine Philosophielehrerin, als wir über die "Zukunft unserer Gesellschaft" diskutierten, dass wir uns auf das "Zeitalter der Sicherheit" zubewegen würden - "Sicherheit" im Sinne von "security", nicht "safety" (sie unterrichtete auch Englisch). Für sie hing das, ähnlich wie für Sloterdijk, mit der "Kultur des Habenwollens" zusammen. Wir würden uns immer mehr vor materiellen Verlusten fürchten und für das Versprechen materieller Sicherheit bereit sein, immaterielle Verluste in Kauf zu nehmen.
Der Umstand, dass mit der Wirtschaftskrise das Versprechen materieller Sicherheit haltlos geworden ist, lässt mich befürchten, dass die allgemeine Verunsicherung weiter wächst - vor allem die Verunsicherung der "politischen Klasse". Die "Angst der Mächtigen" und die verängstigte Haltung der Sicherheitsuntertanen, der Konformismus des "Bloß-nicht-auffallen-wollen", des "Ich-habe-doch-nichts-zu-verbergen", zusammen sind eine ernste Gefahr für die offene Gesellschaft. Anpassen an alles, was einem zugemutet wird.
Der Konformitätsdruck wächst, überall ängstliche Anpasser und Opportunisten. Kein Wunder, dass Sloterdijk sich über jeden Passagier freut, der bei den schikanösen Sicherheitskontrollen am Flughafen ausrastet.

Es gibt übrigens einen einfachen Test darauf, wie konformistisch man ist. In einer Kolumne von M & M, die ab und an durchaus recht haben: Der Konformisten-Test:
Jeder Zeitgeist hat seine Tabus und Dinge, die man besser nicht ausspricht. Heutzutage droht gottlob keine Inquisition mehr, aber durchaus eine Menge Ärger. Doch was genau straft der heutige Zeitgeist ab? Bei der Antwort hilft eine einfache Frage: Gibt es irgendwelche Dinge, die Sie ausgesprochen ungern öffentlich äußern würden? Wenn sie öfter Sachen denken, die sie nicht laut auszusprechen wagen, müssen sie sich aber nicht unbedingt Sorgen machen. Sie können sie ja für sich behalten und in stiller Distanz zum Zeitgeist verharren. Eher nachdenklich sollten Sie werden, wenn sie alles, was sie denken, überall gefahrlos hinausposaunen können. Höchstwahrscheinlich reden sie dann genau das, was man so reden sollte. Die Wahrscheinlichkeit ist dann ziemlich hoch, dass sie auch in der Vergangenheit stets das geglaubt hätten, was der Zeitgeist vorschrieb.
(Hervorhebungen von mir, MM.)

Musiker nehmen Gefühle in der Stimme besser wahr als Nicht-Musiker

Musiker hören selbst feinste Gefühlsnuancen aus der Stimme eines Gesprächspartners heraus: Ihr Gehirn ist durch die musikalische Ausbildung darauf trainiert, äußerst effizient komplexe akustische Signale zu erfassen und zu verarbeiten, hat ein amerikanisches Neurologenteam gezeigt. (Mehr: wissenschaft.de: Klingendes Sprachgefühl.)

Schon die Alltagserfahrung spricht dafür, dass Musiker im Durchschnitt Gefühle in der Stimme besser wahrnehmen können als Nicht-Musiker. Im Durchschnitt: denn sonst gäbe es keine Musiker, die hinsichtlich der Gefühle ihrer Mitmenschen die Sensibilität einer Abbruchkugel haben.
Anderseits habe ich die Erfahrung gemacht, dass Musiker oft besseren Zuhörer als Nichtmusiker sind. Allerdings: diese Alltagserfahrungen sind rein anekdotisch und für die Wissenschaft von geringem Wert.

Von geringen Wert ist, unabhängig davon, wie plausibel oder "überraschend" ihre Ergebnisse sind, aber auch diese Studie: An ihr nahmen gerade einmal 30 Probanden teil. Mehr als einen "ersten Eindruck" kann sie nicht geben. Übrigens beruhen viele der "sensationellen wissenschaftlichen Erkenntnisse", die durch die Massenmedien geistern, auf fragwürdigen bis unseriösen Untersuchungen.

Es fällt mir außerdem auf, dass neurowissenschaftliche Erklärungsmodelle zumindest bei den Massenmedien momentan "große Mode" sind. So wie vor einigen Jahren es "etwas mit Genen" zu tun haben musste, um Schlagzeilen zu machen, oder früher "was mit Computern" oder noch früher "was mit Atom".
Typisch scheint mir zu sein, dass die "Modeverfahren" eher mechanistische Ansätze haben - die gelten bei einem Teil des Publikums als besonders objektiv, während sie den eher metaphysisch bzw. religiös orientierten Teil der Publikums vorhersehbar auf die Palme bringen. Beides ist gut für Schlagzeilen.

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