Die Sekuritär-Gesellschaft und ihre Opfer

Ich bin nicht immer mit dem einverstanden, was Zettel (meist geistreich) in seinem Blog schreibt. In der Affäre Tauss kann ich mich nur voll und ganz anschließen: Marginalie: Der Abgeordnete Tauss unter "Erklärungsdruck". Nebst zwei Disclaimern und einer Erinnerung an die Unschuldsvermutung.
Im großen und ganzen stimme ich auch der Einschätzung auf "Netzpolitik" zu: Zu den Kinderpornographievorwürfen gegen Jörg Tauss.
Ob an den Vorwürfen gegen den Abgeordneten Tauss etwas dran ist, kann ich nicht beurteilen. Sehr wohl beurteilen kann ich das geistige Klima, in dem nicht etwa "Kinderpornographie im Internet" zielgerichtet und mit wenig Tammtamm bekämpft, sondern politisch instrumentalisiert wird. (Und die aus politischem Aktionismus, Hysterie. Wunschdenken und wahrscheinlich manchen Hintergedanken geborene Idee der "Internetsperren für Kinderpornoseiten" aus Dilettantismus versandet ist, wie Jens schreibt.)

Wie das Klima aussieht, illustrierte die CDU/CSU-Fraktionsvizechefin Ilse Falk, die die Gegner von Internetsperren per Access Blocking beschuldigte, Kinderpornografie zu fördern. Gekoppelt mit dem Vorwurf, die Kritiker handelten verantwortungslos und würden den Interessen skrupelloser Geschäftemacher über den Schutz der Kinder stellen.
Dieses Klima einer "Hysterie mit Hintergedanken" herrscht besonders ausgeprägt auch beim Thema Terrorismus und - in etwas anderer Form - beim Rechtsextremismus.
Allerdings kocht das Thema Neo-Nazis nur saisonal hoch - und auch das Thema "Terrorismus" hat als Begründung für eine Einschränkung der Bürgerrechte an Attraktivität verloren - wenn z. B. keine Statistik z. B. über die angeblich zahlreichen Terroristenvideos vorliegt, oder keine Angaben, wie viele der angeblich wie Pilze aus dem Boden sprießenden Terror-Blogs es gibt, dann klingt es nur noch paranoid, wenn es z. B. in einer offiziellen Stellungnahme der Bundesregierung heißt:
Die hohe Bedeutung sogenannter Social Communities im Internet für die Verbreitung von islamistischer Propaganda und für die Kommunikation islamistischer und terroristischer Netzwerke ergibt sich daraus, dass diese Plattformen für jedermann zugänglich sind und insbesondere von jungen Menschen intensiv genutzt werden.
Ja, und man stelle sich vor: auch islamistische Terroristen benutzen das Telefon, fahren Auto oder schreiben Bücher!

Wie auch immer: die Bekämpfung von Kinderpornographie und Terrorismus eignet hervorragend als Begründung für Zensurmaßnahmen, die mit der Zeit auch auf andere Bereiche ausgeweitet werden können. Man erinnere sich: Auch die Möglichkeit über einen Kontenabruf an Bankdaten von Bürgern zu kommen, wurde mit dem Argument eingeführt, etwas gegen den "Terrorismus" und die "organisierte Kriminalität" zu tun. Heute wird der Kontenabruf routinemäßig eingesetzt, um bei Steuervergehen zu ermitteln. Das mag legitim sein, aber mit dieser Begründung wäre die de facto Abschaffung des Bankgeheimnisses wohl nicht durchsetzbar gewesen.

Der Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk ist der Ansicht, wir seien im neuen Jahrtausend eine "sekuritären Gesellschaft" geworden. Kennzeichen: Allgemeine Schockstarre und Unterwerfung unter Sicherheitsbedenken bis ins Privateste hinein. Daran ist nicht nur die Terrorpanik nach "9/11" schuld, sondern es ist ein schleichender Prozess, an dem auch z. B. die Medien mitgewirkt haben. Und es ist erstaunlich, wie wenig der Verlust an Freiheit beklagt wird. Sloterdijk hat leider recht: Die Menschen sind umdressiert worden, ohne dass sie es gemerkt haben. Aus Bürgern sind Sicherheitsuntertanen geworden.
Übrigens erwartete, fast 30 Jahre ist das her, meine Philosophielehrerin, als wir über die "Zukunft unserer Gesellschaft" diskutierten, dass wir uns auf das "Zeitalter der Sicherheit" zubewegen würden - "Sicherheit" im Sinne von "security", nicht "safety" (sie unterrichtete auch Englisch). Für sie hing das, ähnlich wie für Sloterdijk, mit der "Kultur des Habenwollens" zusammen. Wir würden uns immer mehr vor materiellen Verlusten fürchten und für das Versprechen materieller Sicherheit bereit sein, immaterielle Verluste in Kauf zu nehmen.
Der Umstand, dass mit der Wirtschaftskrise das Versprechen materieller Sicherheit haltlos geworden ist, lässt mich befürchten, dass die allgemeine Verunsicherung weiter wächst - vor allem die Verunsicherung der "politischen Klasse". Die "Angst der Mächtigen" und die verängstigte Haltung der Sicherheitsuntertanen, der Konformismus des "Bloß-nicht-auffallen-wollen", des "Ich-habe-doch-nichts-zu-verbergen", zusammen sind eine ernste Gefahr für die offene Gesellschaft. Anpassen an alles, was einem zugemutet wird.
Der Konformitätsdruck wächst, überall ängstliche Anpasser und Opportunisten. Kein Wunder, dass Sloterdijk sich über jeden Passagier freut, der bei den schikanösen Sicherheitskontrollen am Flughafen ausrastet.

Es gibt übrigens einen einfachen Test darauf, wie konformistisch man ist. In einer Kolumne von M & M, die ab und an durchaus recht haben: Der Konformisten-Test:
Jeder Zeitgeist hat seine Tabus und Dinge, die man besser nicht ausspricht. Heutzutage droht gottlob keine Inquisition mehr, aber durchaus eine Menge Ärger. Doch was genau straft der heutige Zeitgeist ab? Bei der Antwort hilft eine einfache Frage: Gibt es irgendwelche Dinge, die Sie ausgesprochen ungern öffentlich äußern würden? Wenn sie öfter Sachen denken, die sie nicht laut auszusprechen wagen, müssen sie sich aber nicht unbedingt Sorgen machen. Sie können sie ja für sich behalten und in stiller Distanz zum Zeitgeist verharren. Eher nachdenklich sollten Sie werden, wenn sie alles, was sie denken, überall gefahrlos hinausposaunen können. Höchstwahrscheinlich reden sie dann genau das, was man so reden sollte. Die Wahrscheinlichkeit ist dann ziemlich hoch, dass sie auch in der Vergangenheit stets das geglaubt hätten, was der Zeitgeist vorschrieb.
(Hervorhebungen von mir, MM.)
Rayson (Gast) - 6. Mär, 19:46

Ach, wie gerne hätte ich diesen Beitrag bei uns gelesen ;-)

Und nicht nur, weil du m.E. einen richtigen Punkt triffst. Ich würde die "sekuritäre Gesellschaft" auch auf die Art unseres Sozialstaats und der Ansätze der Krisenbewältigung beziehen: Statt Wandel zu begleiten, soll er am liebsten ganz verhindert werden.

Internet? Neue Formen der Kommunikation? Neumodisches Zeugs, das wir schon noch in die alten Schablonen reinpressen werden.

Globalisierung? Aufstieg von ehemaligen Entwicklungsländern zu Industrienationen? Abschotten und einen Weltstaat herbeiträumen.

Mal eine gewagte These meinerseits: Die Sehnsucht nach "security" hat auch etwas mit der Verdrängung der Begrenztheit der eigenen Existenz und der steigenden Lebenserwartung zu tun.

Wirr-Licht - 9. Mär, 11:30

wobei

es mich doch wundert, das Tauss der polizei anscheinend keine angaben gemacht hat, DAS er solches material hat. wenn man bei mir neonazi-propaganda finden würde, würde man mich ja auch verdächtigen, "so einer" zu sein.

oder, stell dir vor, man würde bei der bätzing einen haufen gras finden, und sie würde dann behaupten, sie hätte es nur zu anschauungszwecken. würed ja auch kaum jemand glauben.

wobei man "anschauungszwecke" bei bildmaterial auch falsch verstehen kann.

ich bin misstrauisch.

MMarheinecke - 9. Mär, 13:14

Misstrauisch gegenüber wem?

Tauss könnte tatsächlich KiPo "zum nichtdienstliche Gebrauch" besessen haben. Damit hätte er sich selbstverständlich strafbar gemacht. So weit, soweit in Ordnung.
Komisch allerdings, dass die Presse fröhlich aus den Akten zitiert (oder den Eindruck erweckt, sie täte das), und dass Tauss' Anwalt nach eigenen Angaben erst ab Mittwoch Akteneinsicht hat: http://kritik-und-kunst.blog.de/2009/03/07/tauss-update-5713287/

Ich finde Verschwörungstheorien normalerweise bekloppt - aber manche Dinge kommen einfach wie bestellt, denn damit ist Tauss, egal, ob er sich wirklich KiPos ´reinzog oder nicht, weg vom Fenster.
Die Vorverurteilung ist massiv, von der "Unschuldsvermutung" scheinen viele Journalisten und Politiker wirklich noch nichts gehört zu haben.

Wenn er tatsächlich KiPo-Sammler wäre, wäre Tauss nicht nur kriminell, sondern auch selten leichtsinnig, bzw. er hätte sich saudämlich verhalten - immerhin ist er einer der wenigen Abgeordneten, die sich wirklich mit dem Internet und Fragen der Datensicherheit auskennen.

Nachtrag: Der dringende Tatverdacht geht einer Hausdurchsuchung bzw. Bürodurchsuchung voraus. Man würde mich, um bei dem Neonazi-Vergleich zu bleiben, zuerst verdächtigen, dass ich ein rechtsextremistisches Propagandadelikt begangen hätte - und dann Durchsuchen bzw. etwas finden können.
Der Vergleich hinkt aber, denn der bloße Besitz von Neonazi-Propaganda ist nicht strafbar - sonst säßen bald die meisten politischen Journalisten und jeder Zeitgeschichtler im Knast, nebst mehr als der halben Antifa. Es kommt bei Propagandadelikten auf die Verbreitung an, bzw. auf das, was ich in der Öffentlichkeit sage und schreibe. Bei KiPo ist die Rechtslage weitaus schärfer.
Wirr-Licht - 10. Mär, 17:11

wisstrauisch gegenüber

allen, allen. der presse, tauss, der polizei...

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