Sonntag, 21. September 2008

Wir sind to(l)lerant geworden

Unsere Welt ist bunt. Vielfältig.
Die Art, wie wir uns kleiden und schmücken ist genau so vielfältig geworden. Die Zeiten, als jemand mit Tätowierungen automatisch als "Knacki" eingestuft wurde (es sei denn, er war Seemann), oder der "falsche" Haarschnitt einem den Job kosten konnte, sind vorbei.
Auch die, in der jeder bunt gekleidete Mann damit rechnen muss, als "Schwul" und jeder Frau mit Kurzhaarschnitt als "Lesbe" verdächtigt zu werden.
Genau sind jene Zeiten passé, in denen Nadelstreif-Anzugträger "automatisch" als Spießer, CDU-Wähler, Managertypen, Schwarze-Lederjackenträger als Rocker, Rebellen, Machos, Minirock-Trägerinnen als leichtlebig und Nickelbrillen-Träger als streberhaft galten.

Wir sind tolerant geworden. Toll tol(l)erant. Vor allem in Äußerlichkeiten. Hin und wieder leider auch gegenüber Leuten, denen gegenüber man besser nicht tolerant sein sollte, wenn man die Freiheit liebt.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir Vielfalt und Buntheit nicht vor allem im Outfit, im Musikgeschmack oder beim Essen, sondern vor allem im Denken suchen würden.
Wir haben die Freiheit, zu sagen was man denkt. Aber das besagt nur dann etwas, wenn wir auch selber denken.
Besonders schlimm ist es, wenn man nicht denkt, was man nicht sagen darf, oder glaubt, nicht sagen zu dürfen. "Schere im Kopf", der Zensor ist eingebaut. Der innere Zensor ist wichtig, auch und gerade weil es eine äußere, staatliche Zensur nicht gibt.
Eingebaut wird der innere Zensor durch Erziehung, durch Druck, aber immer wieder und immer auch durch Angst.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig mediale Notiz genommen wird, wenn wichtige politische Entscheidungen getroffen werden. Zum Beispiel soll die Künstlersozialkasse abgeschafft werden. Und wenn das nicht reicht, wenn etwa gleichgültige Politikerdarsteller sich im hohen Bogen über alle Bedenken hinwegsetzen, dann wird auch schon mal ein klares "Nein" der Fachleute zu einem Okay umgelogen. Gutes Verhältnis "zur Politik" ist eben wichtig. Wie auch der gute Draht "zur Wirtschaft". Erstaunlich, wie viele Seiten und Sendeminuten auf "Unpolitik", Machtkämpfe und Parteien-PR, verwendet werden. Inhalte? Welche Inhalte? Es geht bei Unpolitik nicht um die Inhalte, sondern schlicht um Gruppendynamik. Leser? Komisch, die werden immer weniger.
Schön, dass "der Leser" nicht jeden Gammel- und Gefälligkeitsjournalismus toleriert.

Es ist kein Zufall, dass reaktionäres Stammtischgequatsche in pseudo-intellektueller Verpackung fast überall auf Zustimmung stößt - in den Medien wie in der Politik. Weil die Rezepte von gestern bei der Bewältigung der Probleme von heute versagt haben, sind eben die Rezepte von vorgestern gefragt.

Warum? Weil die deutsche Gesellschaft - nicht nur die deutsche, aber die ganz besonders - von Abstiegsängsten geplagt wird und Neues fast nur noch als Bedrohung wahrnimmt, nicht als Chance.

Die schlimmste Angst plagt übrigens unsere politischen Entscheider. Eine Tatsache, die mir Angst macht.

Wir brauchen, anders als es uns Eva "heim an der Herd" Herman, Herwig "demographische Zeitbombe" Birg, Peter "Schluß mit Lustig" Hahne und wie sie alle heißen, vom FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher bis zum medial omnipräsenten Medienwissenschaftler Norbert Bolz erzählen, als es uns angstbeißende Politiker und Polizeifunktionäre weis machen wollen, nicht weniger sondern viel mehr Toleranz, Liberalität und Individualismus.

Ich übergebe das Wort an einen richtigen Schweinepriester.
Stasi 2.0

An einem dieser kalten Tage
Da längst kein Storch mehr fliegt
Besorg ich mir ein Grundgesetz
Solang es noch eins gibt
Das zeig ich meinen Kindern dereinst
Heimlich, bei Kerzenlicht
Und schwör ihnen: Das alles galt
Für jung und alt, für dich und mich!
Und fleh sie an: Verratet
Euren Papa bitte nicht…

Halunken als Parteisoldaten
In Terrors Namen: Vorratsdaten
Es sind die Mittel, die den Zweck verraten…
Und das, was wir da vor uns haben
Das ist die Stasi 2.0

Einst waren die Gedanken frei
Heut spielen sie Freiwild:
Gehegt als freie Meinungen
Im unfreien Weltbild
Das Volk ist frei - nein: freigestellt
Besoffen von der Bilderflut
Und wer noch furzen kann, der findet
Für ein Freibier alles gut
Ja, für ein Freibier findet,
Wer noch furzt, hier alles gut

Halunken…

Was Wirtschaftsaufschwung heißen kann
Das weiß der Aktiengott
Was ich mir dafür leisten kann
Ist Elektronikschrott
Die Ampel steht auf rot, du bremst
Und auch dein Nummernschild
Wird, wohin du auch fährst, gespeichert
In das Bewegungsbild
Das lückenlos beweisen wird
Mit wem du alles so verkehrst
Wenn man so will

Halunken…

Schlangestehen und nichts dafür kriegen!
Auch noch bezahlen für die Lügen!
Ja, ist das die Rache der DDR…?
Nein, mein Herr…!
Das ist die Stasi 2.0
musik & text: duke meyer © 2008

Nachtrag - Webfunde, passend zum Thema:

tp: Das nachträgliche Feigenblatt Nulltolerenz ++ gegenüber ALG II-Antragsteller: Bis zum Beweis des Gegenteils stehen sie unter dem Verdacht des Sozialbetrugs - schon die Tatsache, die Zeit zwischen Antragstellung und Entscheid (das können locker 3 Monate sein) überstanden zu haben, macht verdächtig, denn ohne zusätzliche Einnahmen kann man diese Zeit schwerlich überbrücken.

"Uns fehlen die Parolen" "Zeit"-Campus-Interview mit der Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh. Sie erklärt, warum sie der Wahrheit misstraut und unsere Gesellschaft für hysterisch hält, Verfassungsklage gegen den biometrischen Pass erhoben hat und was sie vom Datenschutz im Allgemeinen hält. (Via: netzpolitik)
Ein Staat, der endgültige Wahrheiten formuliert, ist totalitär, Demokratien haben keinen Wahrheitsanspruch.
Juli Zeh

Direkt auf "netzpolitik": Telekom-Paket: Unsere Wahlempfehlungen. Im Telekom-Paket ein Zeit Paket auf vier verschiedenen Richtlinien und einer Empfehlung an die EU-Kommission, das zur Zeit in der EU diskutiert wird - und in der es viele problematische Stellen gibt, die zusammen genommen einen massiven Eingriff in die Netzfreiheit darstellen. Im Artikel geht es darum, wie man seinen EU-Abgeordneten für die im Paket verteilten Trojaner-Regelungen sensibilisieren und dagegen aktivieren kann.

Und dass im in aller Eile und Heimlichkeit verhandelten Abkommen gegen "Produkt-Piraterie" (Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA)) ernsthafte Einschränkungen der Bürgerrechte und Eingriffe in die Privatsphäre vorgesehen sind, erfährt man bei der Electronic Frontier Fundation: U.S. Trade Office Withholds Documents on Secret IP Enforcement Treaty - (via cynx)

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