Montag, 30. Juni 2008

Gedankenexperimente ( 1 )

Man kann sich heute nur noch schwer vorstellen, wie die Evolutionstheorie auf die Zeitgenossen von Alfred Russel Wallace und Charles Darwin gewirkt haben mag. Am ehesten geht es noch, wenn man an christliche Fundamentalisten denkt, die mit allen Mitteln versuchen, ihre Kinder davon zu bewahren, in der Schule Darwins "gottloser" Lehre ausgesetzt zu werden.

Christopher Schrader fragt sich in seinem SZ-Artikel Weltbild in Trümmern, welche Theorien (ohne Rücksicht auf reale Erkenntnisse der Wissenschaft) heute einen ähnlichen Umsturz auslösen würden, wie Darwin und Wallace von 150 Jahren.
Dabei griff er auf Ideen zurück, die bereits ohne viel Widerhall diskutiert oder in der Science-Fiction behandelt werden.
Astrophysik: Die Menschheit entdeckt im Weltraum ein intelligentes Volk, das unsere Probleme wie Klimawandel, Überbevölkerung und menschlichen Egoismus seit langem gelöst hat. Aber es weigert sich, auf unsere Signale zu antworten, ignoriert uns wie eine lästige Fliege.

Medizin: Krankheiten entstehen nur, wenn das Gehirn es zulässt. Viren, Bakterien, gebrochene Beine und Blutfette in den Adern sind keine Auslöser von Leiden, sondern Symptome.

Hirnforschung: Freier Wille und Bewusstsein sind Illusionen. Tatsächlich reagiert der Körper autonom auf physiologische Reize. Und wenn wir glauben, wir erlebten etwas gemeinsam mit jemand anderem, was uns unser Bewusstsein zu bestätigen scheint, bilden wir uns auch die Reaktion des Anderen nur ein.

Biologie: Dass Menschen bei Tieren und sich selbst zwei Geschlechter erkennen, beruht auf einer durch Hormone verursachten Wahrnehmungsstörung. Homo- und Transsexuelle sehen etwas klarer. Manche Naturvölker kennen Drogen, mit denen der Konsument das wahre Einheitsgeschlecht erkennt oder sogar dauerhaft die Illusion wechseln kann, die ihn umgibt.
Ich bin, angesichts dieser Hypothesen, eher enttäuscht. Sie werden als Hypothesen z. T. schon seit Jahrzehnten diskutiert, und zwar nicht nur in der Science Fiction. Wenn sie sich erhärten und zu tragfähigen Theorien ausbauen ließen, würden sie wohl tatsächlich heftige Kontroversen hervorrufen - ob sie in der Größenordnung der Evolutionstheorie lägen, oder doch "nur" das Ausmaß der Kontroverse um Einsteins Relativitätstheorie hätten, hängt meines Erachtens sehr von den sozialen und medialen Rahmenbedingungen ab.

Mein Weltbild würden sie übrigens - bis auf eine! - nicht erschüttern.

Der Reihen nach: Dass uns hochentwickelte außerirdische Intelligenzen einfach ignorieren würden, halte ich für das weitaus plausibelste Szenario im Falle eines Kontaktes mit Extraterrestriern. Ich kann keine Gedanken lesen, und erst recht nicht die von Ausserirdischen - aber Szenarien wie einer "ersten Direktive", die die Beeinflussung primitiver Kulturen (wie uns) verbieten, die Möglichkeit, dass wir für "sie" nur eine Art Ameisen sind, oder die, dass "sie" von uns so verschieden sind, dass ein tiefer gehender Kontakt einfach unmöglich ist, erscheinen mir sehr viel plausibler als "brüderliche Hilfe vom anderen Stern" oder gar eine kolonialistische "Invasion aus dem Weltall" (die dann auch interstellare Raumfahrt voraussetzen würde - alles andere ginge auch ohne direkte Begegnung per Funk, Laser, gepulsten Gravitationswellen, Quantenkommunikator usw.).

Dass Krankheiten nur dann entstünden, wenn das Gehirn es zulässt und Viren, Bakterien, gebrochene Beine und Blutfette in den Adern keine Auslöser von Leiden, sondern Symptome seien, halte ich in dieser übergeneralisierten Form für extrem unwahrscheinlich - vor allem im Fall der gebrochenen Beine. Ich nehme aber in der Tat an, dass "psychische" Faktoren bei der Heilung eines gebrochenen Beines eine wichtige Rolle spielen. Ich nehme zwar nicht an, dass Viren und Bakterien "nur" Symptome, nicht Ursache, von Krankheiten sind, allerdings hängt es nicht allein von der Anwesenheit bestimmter Krankheitserreger ab, ob jemand erkrankt oder nicht. Sonderlich erschüttert wäre ich von dieser Theorie jedenfalls nicht.

Freier Wille und Bewusstsein sind Illusionen. In gewisser Hinsicht halte ich das, aufgrund des derzeitigen Forschungsstandes der Neurobiologie, für recht wahrscheinlich. Was aber nicht bedeutet, dass unser Verhalten neurobiologisch determiniert ist.
Selbst wenn der "freie Wille" ein reines Artefakt des Gehirns ist, und die Vorstellung "nun treffe ich eine bewusste Entscheidung" reine Illusion, wären wir keine "fest programmierte” Wesen mit rein reflexartigen Handlungen. Wenn ich bei meinem Gegenüber das selbe Gefühl beobachte, wie ich es mir vorstellte und ich es erwartet habe, dann ist das eine durch Erfahrungen gedeckte Vorhersage - unabhängig davon, ob es mir bewusst ist oder nicht. (Gerade Gefühle anderer Menschen erkennen wir oft eher auf der nicht-bewussten als auf der bewussten Ebene. Wir erkennen z. B., dass ein Lächeln nur gespielt ist, können aber in der Regel nicht sagen, warum. Das Bewusstsein ist nur ein Teil unseres Selbst.) Eine gut untermauerte Theorie, dass wir lediglich nach "Programm" funktionierende Bio-Roboter wären, würde allerdings in der Tat mein Weltbild erschüttern.

Zur Theorie, dass Menschen bei Tieren und sich selbst zwei Geschlechter erkennen, nur einer durch Hormone verursachten Wahrnehmungsstörung beruht, würde ich sagen: das stimmt. Es liegt allerdings wohl nicht in erster Linie an den Hormonen.
Leider gibt es im Deutschen keine Unterscheidung zwischen "sex" (biologisches Geschlecht) und "gender" (soziales Geschlecht).
Sogar beim biologischen Geschlecht ist die Sache nicht so klar, wie es in unser Kultur gewöhnlich geglaubt wird, es gibt z. B. das genetische Geschlecht, dass nicht identisch sein muss mit dem gonadales Geschlecht (der hormonelle Ausstattung), die beide vom genitalen Geschlecht, der Ausstattung mit primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, abweichen kann.
"Gender", das soziale Geschlecht, ist im hohem Maße sozial konstruiert - und auf nichts anderes läuft die vorgestellte Theorie hinaus. Klassifikationen wie "heterosexuell", "homosexuell", "bisexuell" oder "transsexuell" sind rein kulturell bedingte Kategorien, kulturelle "Schubladen"; schon innerhalb der "westlichen" / "abendländischen" Kultur gibt es in dieser Hinsicht gewaltige Unterschiede - und z. B. ein "alter Grieche" würde diese Kategorien entweder nicht verstehen oder für totalen Blödsinn halten.
Ich wäre im Gegenteil sehr verstört, wenn nachgewiesen würde, dass es nur genau zwei "Gender" gäbe, und wenig erstaunt, wenn es auch ein biologisches "drittes Geschlecht" gäbe (womit ich keine Zwitter meine).

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6745 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren