Immer dieses lästige Grundgesetz!

Das scheint inzwischen Konsens unter deutschen Politikern zu sein: das Grundgesetz vor allem als Hindernis bei der "Gefahrenabwehr" zu sehen.
Da wäre zum einen Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), der würde ein für einen Terroranschlag entführtes Verkehrsflugzeug notfalls auch ohne Rechtsgrundlage abschießen lassen:
"Ich wünsche mir eine verfassungsrechtliche Klarstellung. Aber da gibt es noch keinen Konsens in der Koalition."
Jung in einem Interview mit dem Magazin "Focus": Jung würde Befehl zum Abschuss geben.

Doch, es gibt diese verfassungsrechtliche Klarstellung: Leben darf nicht gegen Leben aufgerechnet werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt. Ein vollbesetztes Passierflugzeug abschießen zu lassen, ist Mord. Mord, der - vielleicht - durch extremen Notstand gerechtfertigt werden kann. Aber dennoch muss jeder Minister, jeder Lufwaffenkommandeur und jeder Pilot der Möglichkeit gegenwärtig sein, dass er mit einer Anklage wegen Mordes rechnen muss, wenn er einen Abschussbefehl gibt - oder aus freien Stücken den Feuerknopf drückt. Diese Damoklesschwert der Anklage ist der m. E. einzige Schutz gegen Missbrauch, dagegen, dass vielleicht mal ein entführter Jet "präventiv" abgeschossen wird: "Hätte ja sein können, dass ... "

Auch das berüchtigte "Weltuntergangs"-Interview, das Bundesinnenminister Schäuble der FAS gab, weist darauf hin, dass Schäuble zu mindestens, was seine "instrumentelle" Auffassung des Grundgesetzes angeht, nicht alleine steht:
Der SPD-Vorsitzende Beck hat mehrfach gesagt, wenn einige rechtliche Bedenken, die er offenbar noch hat, beseitigt seien, stehe einem Gesetz nichts mehr im Wege. Da muss ich doch nicht warten, ob ein Landesgesetz vom Verfassungsgericht gutgeheißen wird.
Schäuble im Interview: "Wir sind und bleiben bedroht"

Beck hat also noch "einige rechtliche Bedenken" - wo er eigentlich sagen müsste: "Der Entwurf für das BND-Gesetz ist verfassungswidrig - die SPD kann dem nicht zustimmen." (Denen, die immer noch glauben, dieses Gesetz ginge sie nichts an: Ausführlicher Bericht auf Zeit online, Gesetzentwurf zum herunterladen beim CCC.)

Das nordrhein-westfälisches Gesetz zur Online-Durchsuchung harrt noch eines Urteils durch das Verfassungsgericht - übrigens ein Gesetz, das die verfassungrechtlich gebotene Trennung von Geheimdiensten und Polizei im Gegensatz zum Gesetzentwurf für das BKA-Gesetz nicht infrage stellt.

Faktisch könnte sich ein Terrorist keinen besseren (unfreiwilligen) "Partner" als Schäuble wünschen. Weil der nach Kräften hilft, Angst und Schrecken (sprich: Terror) zu verbreiten. Und nach Kräften dass tut, was ein (dialektisch denkender) Terrorist anstrebt: den Aufbau eines Polizeistaates, das Ende der offenen Gesellschaft.

Schäuble betätigt sich als Angstmacher, obwohl er zur Gelassenheit mahnt:
Die größte Sorge aller Sicherheitskräfte ist, dass innerhalb des terroristischen Netzwerkes ein Anschlag mit nuklearem Material vorbereitet werden könnte. Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, dass es nur noch darum geht, wann solch ein Anschlag kommt, nicht mehr, ob. Wir sind bedroht und bleiben bedroht. Aber ich rufe dennoch zur Gelassenheit auf. Es hat keinen Zweck, dass wir uns die verbleibende Zeit auch noch verderben, weil wir uns vorher schon in eine Weltuntergangsstimmung versetzen.
(Hervorhebungen von mir.)

Ich verstehe Herrn Schäuble so: er rechnet fest mit einem atomaren Terroranschlag. Aber bis es so weit ist, genießen wir das Leben und versuchen, so viele Terroristen wie möglich hinter Gitter zu bringen.

Schäuble antworte auf die Frage: "Begreifen die Menschen die Gefahr auch deswegen nur schwer, weil die Bedrohung vielfältig ist?"
Der Mensch lebt ja auch von der Hoffnung: Mich wird es schon nicht treffen. Im Übrigen ist die Gefahr, Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden, nach wie vor um ein Vielfaches höher als das Risiko, durch einen Terroranschlag getötet zu werden. Vielleicht lässt die Unübersichtlichkeit der Bedrohung auch Ängste entstehen.
Womit Schäuble meines Erachtens seinen eigenen Gemütszustand genau beschreibt: Er begreift die Welt nicht mehr und begreift sie deshalb als Bedrohung. Womit er unter politischen und militärischen Entscheidern leider keine Ausnahme ist.
Ich vermute aufgrund dieses Interviews, dass Schäuble sich darüber im Klaren ist, dass diffuse "Weltuntergangs-Ängste" genau das sind, was Terroristen erzeugen möchten. Aber sein Weltbild und seine Ängste lassen ihm nicht die Wahl, entsprechend dieser Einsicht zu handeln.
Hinzu kommt die ausgeprägte "Angst vor der Moderne", die mit (technischen) "Mitteln der Moderne" bekämpft werden soll. Damit ist Schäuble, vom Denkstil her, gar nicht so weit entfernt von religiös motivierten Apokalyptikern wie der "Religous Right" in den USA, aber auch einer bestimmten Gruppe islamischer Dschihadisten. Ich halte Schäuble "nur" für einen besonders ausgeprägten Vertreter dieses Denkens, es dürfte einer der häufigsten Persönlichkeitstypen der "politischen Klasse" sein.

Leider gibt es sogar Politiker, die nicht einmal Angst vor Terroranschlägen haben müssen, um das Grundgesetz zu ignorieren: Manchmal reicht schon aus, die Bedeutung von makaberem religösen Wandschmuck zu überschätzen.
reformstau(b) (Gast) - 16. Sep, 23:20

Diese überhebliche Geringschätzung des Grundgesetzes hat auch etwas mit der Konstellation einer großen Koalition zu tun. Offenbar scheint die knappe 2/3-Mehrheit von den Akteuren so interpretiert zu werden, dass auch das GG keine wirkliche Schranke mehr darstellt. Ohne die komplizierte Prozedur der Grundgesetzänderung tatsächlich auf sich nehmen zu wollen, fühlen sie sich doch an die geltende Verfassung nicht mehr gebunden. Trotz aller Streitereien ist die große Koalition eine machtvolle Regierung. Und Macht ist vor allem eines: das Privileg nicht lernen zu müssen.

Gregor Keuschnig - 17. Sep, 15:23

BVerfG

Vorsicht. Das BVerfG hat unter Punkt 130 des (verlinkten) Urteils gesagt:

Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten vielfach nicht gänzlich vermeiden lassen, ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten.

Soweit wird dies immer wieder zitiert. Es heisst aber weiter - direkt im nächsten Satz:

Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären...

Und dann:

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist allein entscheidend, dass der Gesetzgeber nicht durch Schaffung einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis zu Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG geregelten Art gegenüber unbeteiligten, unschuldigen Menschen ermächtigen, solche Maßnahmen nicht auf diese Weise als rechtmäßig qualifizieren und damit erlauben darf.

Das bedeutet: Jung (und/oder Schäuble) dürfen sehr wohl unter Berücksichtigung eventueller strafrechtlicher Verfolgungen den Befehl zum Abschuss geben. Es darf nur nicht als quasi Automatismus in einem Gesetz festgeschrieben werden.

Jung kann also sehr wohl artikulieren, dass er den Befehl zum Abschuss geben würde - müsste sich dann jedoch ggf. einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen.

Wenn Jung und Schäuble jedoch das Grundgesetz entsprechend ändern wollen, also quasi durch die Hintertür diese Erlaubnis gesetzlich verankern wollen (aus begreiflichen Gründen; s.o.), so stellt dies allerdings gemäss dem Urteil des BVerfG ein Verfassungsbruch dar.

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