Umwelt

Freitag, 4. August 2006

"Beinahe GAU" - oder: dick aufgetragen

Im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark gab es einen sehr ernsten Störfall: den Ausfall der internen Stromversorgung.
TP: Fast-GAU in Schweden Durchaus einen, der wieder einmal die Frage nach der Zuverlässigkeit solcher Anlagen aufwirft. Sind wir haarscharf einem "zweiten Tschernobyl" entkommen, wie manche Kommentoren meinen?

Was ist passiert? Es kam bei Wartungsarbeiten in einem Umspannwerk außerhalb des Kraftwerks einem Kurzschluss mit "Lichtbogenüberschlag". Deshalb mußten zwei der drei Reaktoren am Standort Forsmark vom Netz genommen werden. Auch die Betriebsstromversorgung der von Netz genommenen Blöcke für die Kühlwasserpumpen und die Überwachungseinrichtungen fiel am 26. Juli in Forsmark aus, denn der heftige Kurzschluss (den man sich wir ein Miniaturgewitter vorstellen kann) war auf einen Teil der Anlagen des Kraftwerks "durchgeschlagen". Auch zwei der vier dieselbetriebene Notstromaggregate sprangen nicht an. In der Folge war die Betriebszentrale eines Blockes für rund 20 Minuten "blind", die elektronische Überwachung der Betriebszustände des Reaktors war ausgefallen. Erst dann gelang es der Betriebsmannschaft, die Notstromversorgung vollständig in Gang zu bringen und den Reaktor ordnungsgemaß herunterfahren.umweltschutz-news: Störfall in Schweden - vier Atomkraftwerke abgeschaltet

Ein schwerwiegender, gefährlicher Vorfall, der nahelegt, dass die Kraftwerke dieses Typs Konstruktionsfehler aufweisen. Es erstaunt mich ehrlich gesagt auch, wieso nach dem Ausfall der Überwachungsanlage nicht sofort die Notabschaltung ausgelöst wurde. (Übrigens würde sie bei völligen Stromausfall "von selbst" ausgelöst werden, da bei einem Druckwasserreaktor die Bremsstäbe an Elektromagneten aufgehängt sind - fällt der Stom völlig, aus "rutschen" die Bremsstäbe in den Reaktor und bringen die Kettenreaktion zum Erliegen. Auch scheinen die Umwälzpumpen der Reaktorkühlung noch gearbeitet zu haben. Also herrschte die gefährliche Situation, dass der Reaktor lief, aber nicht überwacht werden konnte, die eigentlich in jedem Fall verhindert werden muß.) Laut "Greenpeace" sagte der ehemalige Forsmark-Direktor Lars-Olov Höglund, es sei jedoch "reines Glück gewesen, dass es nicht zu einer Kernschmelze gekommen" und kein Unfall wie 1986 in Tschernobyl eingetreten sei.
Auch wenn Höglung inzwischen entschiedener Gegner der Kernernergienutzung ist und das Risiko einer Kernschmelze theoretisch durchaus bestand, bezweifle ich, dass er den Vergleich mit "Tschernobyl" selbst gezogen hat. Mit dem rein mechanisch arbeitenden Notkühlsystem (im wesendlichen hochgelegene Wasserbehälter) auch beim Ausfall der Kühlpumpen ein Kernschmelze abgewendet werden können. Bei der teilweisen Kernschmelze im AKW Three Mile Island, einen Vorfall, der einige Parallelen zum Forsmark-Störfall hat, war dieses Notkühlsystem nicht betriebsbereit gewesen. Beim notabgeschalteten Reaktor würde übrigens auch "nur" die Resthitze der Brennstäbe wirken.

Welche Folgen eine ungebremste Kernschmelze in Forsmark gehabt hätte, läßt sich nur schwer abschätzen. Wahrscheinlich hätte, wie in Three Mile Island, der Sicherheitsbehälter das Schlimmste verhindert.(Zur Erinnerung: es gab dort damals weder Tote, noch Verletzte, noch eine schwerwiegende radioaktive Belastung der Umgebung.)
Aber selbst wenn es zum "Super GAU" gekommen wäre, also das "Containment" versagt hätte, wären die Folgen für die unmittelbaren Umgebung sehr schlimm gewesen - jedoch: zu einer radioaktiven Kontamination ganzer Landstriche, ja halb Europas, ware es nicht gekommen. Ein Unfall, der auf keinen Fall achselzuckend als "normaler Industrieunfall" hätte abgetan werden können. Aber eben kein "zweites Tschernobyl".

Ich vermute, dass hier wieder einmal die sattsam bekannten Mechanismen des Journalimus wirken, die man auch auf anderen Gebieten "bewundern" kann: che: Das Fachwissen deutscher Kriegsberichterstatter
Ich vermute, dass sich hier echte Unwissenheit, die Mediengewohnheit, alles ein bißchen aufzublasen ("Mann beißt Hund") und dezidierte Absichten zu einem trüben Brei vermischen.
Wobei es übrigens nicht besser wird, wenn es, wie bei Greenpeace, in bester Absicht geschieht.

Nachtrag: Wie nicht anders zu erwarten, wurde in Forsmark mit dem Stromausfall tatsächlich ordnungsgemäß die Schnellabschaltung des Reaktors ausgelöst. Das ging aus den Pressemeldungen, die mir beim Abfassen meines Artikels vorlagen, nicht hervor. (Also kein "Blindflug" des Reaktors.) Damit ging es "nur" noch darum, die Restwärme zu beherrschen bzw. der Reaktor richtig herunterzukühlen. Der Reaktorkern hätte also schlimmstenfalls "zusammenschmelzen" (aber nicht "durchschmelzen") können, was bei weitem kein "GAU" (Größter Anzunehmender Unfall, besser: größter Unfall, für den den Anlage ausgelegt ist, "Auslegungsunfall"), sondern "nur" ein "schwerer Unfall" mit Totalschaden des Reaktors wäre. Von der IAEO wurde der Unfall in die Kategorie 2 eingestuft - Tschernobyl war Kategorie 7 auf der International Nuclear Event Scale (INES), Three Miles Island Kategorie 5. Wäre die Kühlung in Forsmark völlig ausgefallen, wäre der Unfall auf der INES auf Stufe 4 gelandet. (Einen vergleichbaren Unfall mit Totalschaden des Reaktors gab es 1977 im deutschen Kernkraftwerk Grundremmingen, Block A.)

Gute Darstellung des Störfalls auf Wikipedia: Kernkraftwerk Forsmark.
Ebenfalls gut, in der NZZ online vom 6. August: Kein Beinahe-GAU

Montag, 10. Juli 2006

2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-Dioxin

Oder kurz TCDD gilt gemeinhin als der giftigste unter den bekannten künstlich erzeugten Stoffen (gemessen an an der tödlichen Dosis). Es ist ein erbgutschädigendes und krebserzeugendes Zellgift. Kontakt führt zu Chlorakne, schweren Organschäden, neben der Haut insbesondere der Leber, Erbgutschäden, Missbildungen von Ungeborenen, Krebs.

Vor 30 Jahren erlangte dieses Gift unter dem Namen "Seveso-Dioxin" eine traurige Bekanntheit, als am 10. Juli 1976 in der chemischen Fabrik Icmesa S.p.A in Meda bei Mailand bei der Trichlorphenol-Prokduktion ein schlecht gewarteter Autoklav überhitzte. Gut 2 kg TCDD entwichen und verteilten sich in den Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Madern. Näheres zu den skandalösen Begleitumständen und Folgen des Unfalls: Sevesounglück.

Es war bei weitem nicht der schwerste Unfall in der Geschichte der chemischen Industrie - das war der Unfall im Werk Bhopal der UCC, im Dezember 1984, bei dem (nach unterschiedlichen Schätzungen) 3.800 bis 20.000 Menschen durch Isocyanid-Vergiftung starben. Bhopalunglück.
Aber "Seveso" markiert einen Wendepunkt - es wurde zum Auslöser für den Kampf um mehr Sicherheit in der chemischen Industrie.
Der Unfall schreckte die Bürger auf, die Politiker reagierten (mit der üblichen Trägheit): 1982 verabschiedete die EU die so genannte Seveso-I- Richtlinie. Darin wird festgehalten: Industriebetriebe, die mit bestimmten Mengen an Gefahrstoffen umgehen, müssen Risiken systematisch analysieren. Danach seien viele Schwachstellen beseitigt worden, sagen Experten.

Auch in der chemischen Industrie selbst setzte ein Umdenken ein: Schon vor 1976 gab es schon die technischen Möglichkeiten, einen solchen Unfall zu verhindern. Diese wurden aber aus Kostengründen nicht genutzt. "Seveso" zeigte, wegen der enormen Folgekosten, dass sich Unfall-Vorsorge und Umweltschutz auch wirtschaftlich lohnen. Solche monetären Überlegungen mögen zynisch klingen, aber das Ergebnis sind sicherere Anlagen und weniger Umweltverschmutzung.

Freitag, 23. Juni 2006

Cäsium-137, Jod-131, Strontium-90, Lüge-86 - Teil 4

Nach längerer Pause endlich der Abschluß dieser kleinen Serie.

Teil 1: Vor dem Unfall
Teil 2: Die sowjetische (Des-)Informationspolitik
Teil 3: Das deutsche Informationschaos
Teil 4: die Folgen
Angesichts der erheblichen Folgen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl für die Bevölkerung der Ukraine und Weißrußlands nehmen sich die Folgen für Deutschland vergleichseweise geradezu unscheinbar aus. Die durchschnittliche zusätzliche Strahlenbelastung lag in Westdeutschland bei 0,55 Millisivert pro Jahr. In Süddeutschland war die Strahlenbelastung deutlich höher als im Norden, die Bodenkontamination betrug in Bayern zwischen 20.000 und 80.000 Bequerel pro Quadratmeter. Wenn solche Werte z. B. in einem radiologischen Labor auftreten, muß das Labor sofort geschlossen und dekontamiert werden. Allerdings läßt sich aus dieser Tatsache keine unmittelbare Gefahr ableiten, entscheidend ist die effektive Dosis, die der einzelne Mensch aufnimmt.
Die deutsche Strahlenschutzkommision errechnete für das am stärksten betroffene Voralpengebiet eine durchschnittliche zusätzliche effektive Dosis von 1,2 Millisivert für das erste Jahr nach dem Unfall - in den stark kontaminierten Gebieten der Ukraine lag sie bei 10,8 Millisivert pro Jahr. (Zum Vergleich: Die mittlere natürliche Strahlenexposition liegt in Deutschland bei 2,1 Millisivert pro Jahr, mit ortsabhängigen Werten von ca. 1 mSv bis ca. 6 mSv pro Jahr.) Wenn es tatsächlich "Tschernobyl-bedingte" zusätzliche Krebserkrankungen und Mißbildungen bei Neugeborenen gegenben haben sollte, dann gehen sie bei derart niedrigen Dosen völlig in der normalen statistische Schwankungsbreite unter. Prognosen, die von zusätzlichen 25000 Krebtoten pro Jahr ausgingen, erwiesen sich als völlig unseriös, selbst jene Greenpeace-Studie, die mit 7000 zusätzlichen Schildrüsenkrebserkrankungen auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik innerhalb eines Zeitraums von 30 Jahre rechnete, ist aus heutige Sicht bereits widerlegt.

Die politischen Folgen der Unfalls waren schwerwiegender. Nach "Tschernobyl" wünschten sich 2/3 der westdeutschen Bürger einen sofortigen Atomausstieg. Im August 1986 beschloß die SPD auf ihrem Parteitag mit wenige Gegenstimmen der Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb von 10 Jahren, selbst in in der CDU sprach man noch von einer "Übergangenergie". Dessen ungeachtet wollte die Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) nichts an ihrer Energiepolitik ändern, das Restrisiko sei vertretbar. Forschungsminister Riesenhuber (CDU) nennt eine Summe von einer Billion DM, die der Ausstieg aus der Kernenergie kosten würde - eine weitgehend frei erfundene Horror-Summe. Die Proteste an den Bauzäunen des KKW Brokdorf und der Wiederaufarbeitsanlage Wackersdorf eskalieren - die "Antwort" war eine bis dahin unvorstellbare Brutalität der "Ordnungskräfte" gegen erkennbar gewaltlose Demonstranten und selbst gegen Passanten, die zufällig "im Wege" standen. Es herrschte um Pfingsten herum geradezu Bürgerkriegsstimmung, der "Atom-Staat" schien Realität geworden zu sein.
In diesem Klima gediehen im Nachhinein kaum noch verständliche Panikreaktionen.
Die aufwändige Entsorgung der "Strahlenmolke" war dabei nur die Spitze des Eisbergs - es hätte völlig ausgereicht, das mit Molkepulver so lange liegen zu lassen, bis die Strahlung so weit abgeklungen war, dass man sie z. B. einfach kompostieren könnte. Nach heutigen Geldwert kostete die Entsorgung insgesamt ca. 50 Mio. €. Zu den Panikreationen gehörte es auch, dass selbst eindeutige Scharlatanerie geglaubt wurde, wenn sie die herrschende Strahlenangst bestätigte - und seriösen, sogar ausgesprochen "atomkritischen" Wissenschaftler schlicht nicht geglaubt wurde, wenn ihre Aussagen auch nur in die Nähe des Verdachts gerieten, die Gefahr zu verharmlosen. Tatsächlich brach die Kommunikation zwischen Sachverständigen und Laien völlig zusammen, mit der Folge, dass im öffentlichen Diskurs die Laien eindeutig das Sagen hatten. Noch heute neigen viele Journalisten dazu, Nichtfachleute für grundsätzlich glaubwürdiger zu halten als Fachleute. "Tschernobyl" verstärke über die Monate der Panik hinaus das ohnehin in der 80er Jahren stark angewachsene Mißtrauen gegen die "etablierte" Wissenschaft. Allerdings führte das auch dazu, dass sich eine "alternative" wissenschaftliche Infrastruktur bildete, zu der z. B. das fachlich solide Öko-Institut gehört.

Der massive Ausbau der Kernenergie war nach 1986 nicht mehr politisch durchsetzbar, obwohl vier damals im Bau befindliche Kernkraftwerke noch ans Netz gingen. Der bereits fertiggestellte schnelle Brüter in Kalkar wurde nicht in Betrieb genommen, die WAA Wackersdorf niemals gebaut. Auf der anderen Seite verlor das Thema Atomenergie recht schnell an politischer Relevanz, obwohl nach wie vor eine Mehrheit den Atomausstieg befürwortete, hatte es wenig Auswirkungen auf das Wählerverhalten. Ich vermute, dass die völlig überhitzte "Atompanik" zur "Atomgleichgültigkeit" der 90er Jahre Einiges beitrug.

Mittwoch, 21. Juni 2006

DDT und ökologischer Pragmatismus

Zugegeben, mir ist bei solchen Meldungen nicht wohl: Pestizidrekord in Obst und Gemüse. Ein Unbehagen darüber, dass die Pestizidrückstände in Lebensmitteln den höchsten Stand seit dem Start des EU-Monitorings im Jahr 1996 erreicht haben, bleibt. Es bleibt auch dann, wenn man den typischen Greenpeace-Stil der Meldung in Rechnung stellt, und wenn man zumindest ungefähr weiß, wie stark belastet viele Lebensmittel z. B. in den heute von manchen verklärten 60er Jahren waren.

Anderseits: Pestizide können Leben retten. Die "Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants" verbietet die Anwendung des chemisch sehr beständigen und sich in der Nahrungskette anreichernden Kontaktgifts DDT - außer für Zwecke der Seuchenbekämpfung.
Auf internationalen Druck hin verbot Südafrika 1996 generell die Anwendung von DDT, auch für die Bekämpfung der Malaria-Mücken - in der Landwirtschaft wurde DDT schon lange nicht mehr angewendet. Allerdings zeigte sich schnell, dass andere Insektizide weniger wirksam waren, weil die Mücken sehr schnell resistent wurden. Deshalb hob Südafrika 2000 das allgemeine DDT-Verbot wieder auf - gezielte Sprühaktionen gegen die Anopheles-Mücke sind seitdem wieder möglich.
Vergangene Woche gab die südafrikanische Gesundheitsministerin bekannt, dass die Anzahl der Malariaerkrankungen seit dem Jahr 2000 um 88%, die Zahl der Todesfälle durch Malaria um 86% zurück gegangen seien.
Reuters: S.Africa says DDT helping to slash malaria rate

Via: die Achse des Guten

(Übrigens auch eine fast völlig "untergegangene" Meldung.)

Sonntag, 18. Juni 2006

Japan hat nicht gewonnen ...

Damit meine ich nicht etwa die Fußball-WM, sondern die Internationale Walfangkommission (IWC). Japans Anträge, Kleinwale und deren Erhaltung von der Tagesordnung zu streichen sowie die Einführung geheimer Wahlen, wurden mit jeweils einer knappen Mehrheit abgelehnt. Umweltschutz-News: Walschützer gewinnen erste Runde

Erstaunlich ist allerdings Japans massiver Lobbyismus - einschließlich Stimmenkauf - für die Wiederaufnahme des kommerziellen Walfanges, angesichts der real geringen wirtschaftlichen Bedeutung. Weniger erstaunlich ist die Enthaltung Dänemarks, weil von einem gelockerten Walfangverbot Grönland und die Faröer klare wirtschaftliche Vorteile hätten - andererseits eine weitgehende "Liberalisierung" im Sinne der japanische Delegation dem auch dort gut verankerten Naturschutzgedanken widerspäche. Hier sei ein Hinweis auf die scheinbar paradoxe Haltung der "traditionellen Walfangnation" Norwegen angebracht, zugleich für einen (begrenzten) Walfang und für Walschutz-Programme zu sein.

Übrigens: allen "Whale Huggern" sei folgendes Video empfohlen. (Via martin hagen, mit dem ich übrigens nicht ganz einer Meinung bin.)
Das "natürliche Gleichgewicht" ist nun mal keine harmlose Idylle und Sentimentalität keine gute Grundlage für wirksamen Natur- und Umweltschutz. Wahrscheinlich ist Whale-Hugging noch nicht mal eine gute Grundlage für Greenpeace-Kampagnen, wenn es wirklich um mehr als Spendeneinnahmen gehen soll. Und PeTA halte ich nach wie vor für die dümmste aller NGOs.

Ergänzung, 19. Juni:
dpa: Teilsieg für Walfangnationen
Ein nicht ganz unerwarteter Teilsieg:
Die wesentlichen Bestandteile der Deklaration sind: Die Nutzung von Walen trägt zur Reduzierung von Armut bei. Es gibt keine weitere Notwendigkeit für den Fortbestand des kommerziellen Walfangverbotes. Des weiteren wird die IWC scharf kritisiert, es nicht vollbracht zu haben, das Bewirtschaftungsverfahren für Walbestände fertigzustellen und einzusetzen. Dieses ist nach Ansicht von Nicolas Entrup von der Umweltschutzorganisation WDSC gleichzusetzen mit der Wiederzulassung des kommerziellen Walfangs.
Ein wesendlicher Fehler der Walschützer war es meines Erachtens, die berechtigten ökonomischen Interessen kleiner, armer Inselstaaten am Walfang außer Acht gelasssen zu haben. Eine offene Flanke für die japanische Walfanglobby, der ich solche berechtigten Interessen nicht zubilligen mag, aber unberechtigte Interessen können, wenn genügend Geld dahintersteht, ebenso wirksam sein. Die Anti-Walfang Politik der IWC seit 1986 ging von einer "alles oder nichts" Politik aus, die gerade zwei legale Schlumpflöcher für den Walfang lies: den Walfang für wissenschaftliche Zwecke (eine von Japan eifrig mißbrauchte Klausel) und die traditionelle Jagd auf Kleinwale "indigener Völker" (zur Erbitterung z. B. der norwegischen Fischer: "Warum dürfen die Grönländer etwas, was uns verboten ist?"). Norwegen ist ohnehin ein Sonderfall, der wahrscheinlich auch sehr stark von der ausgepägten Angst weiter Teile der norwegischen Bevölkerung vor äußerer Einmischung in "ureigenste" Angelegenheiten geprägt wird. "Wenn schon Walschutz, dann nur auf der Grundlage nationaler Gesetze".
Außerdem wird in dem Dokument festgestellt, dass Wale große Mengen Fisch fressen. Dementsprechend habe das "Management von Walen" große Bedeutung für die Ernährung von Küstenregionen.
Ein - ökologisch dummes - Argument, das allerdings auch in den selbsternannten Hochburgen ökologischen Denkens gängig ist. Es besteht nämlich grundsätzlich kein Unterschied zwischen einem Fischer, der darüber klagt, dass ihm die (Zahn-)Wale "seine" Fische wegfressen würden, und einem Fischer, der über Kormorane und andere fischfressende Vögel klagt. In Schleswig-Holstein führte das dazu, dass die geschützten Tauchvögel in unbegrenzter Zahl und ohne förmliche Genehmigung geschossen werden dürfen. Feuer frei auf den Naturschutz
Wobei man Kormorane noch nicht einmal essen kann ...

Ich habe den dummen Verdacht, dass die mehr auf "starke Gefühle" als auf ökologische und ökonomische Sachargument ausgerichteten "Walknutscher"-Kampagnen sehr zur Spaltung der IWC beigetragen haben und letzten Endes dem Walschutz einen Bärendienst erwiesen haben.

Mittwoch, 24. Mai 2006

Cäsium-137, Jod-131, Strontium-90, Lüge-86 - Teil 3

Teil 1: Vor dem Unfall
Teil 2: Die sowjetische (Des-)Informationspolitik

Teil 3: Das deutsche Informationschaos
In keinem Land außerhalb der ehemaligen UdSSR wurder der Unfall in Tschernobyl so intensiv und emotional diskutiert wie in Deutschland. Um die deutsche Reaktion auf "Tschernobyl" zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, dass Deutschland 1986 ein zerissenes Land war. Das betrifft einerseits die staatliche Teilung, andererseits die in der damaligen BRD extrem polarisierte Atomdebatte.

"Mauern" In der DDR - "alles normal"
Zunächst gab es nur eine kleine Meldung auf Seite fünf im "Neues Deutschland", drei Tage nach dem Unfall, über eine"Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl", bei der ein Reaktor beschädigt worden sei. Über die radioaktive Wolke, die über Europa zog, erfuhr der DDR-Bürger aus den offiziellen Medien auch in den folgenden Tagen nichts.
Dank West-Fernsehen und West-Radio wußte die Bevölkerung allerdings Bescheid, mehr noch, die Panik, die in der Bundesrepublik ausgebrochen war, erreichte auch die DDR. Die "Politik des Schweigens" nach sowjetischen Vorbild ließ sich in der DDR nicht durchhalten - die Berichte mußten ausführlicher werden. Sie dienten aber einem einzigen Zweck: Den Menschen zu versichern, wie sicher sie seien. Nach der bewährten "Bikini-Taktik" der DDR-Agitation: Vieles bereitwillig zeigen, aber Entscheidendes schamvoll verhüllen. So ließ die Regieung zwar als eine der ersten in Europa eine Zahlentabelle mit den Radioaktivitätswerten der Luft veröffentlichen - mit der Interpretation, dass "eine Stabilisierung auf einem niedrigen Niveau" eingetreten sei. Dass die Strahlung einen Tag vor dieser Messung Spitzenwerte erreicht hatte und am Folgetag wieder anstieg, sollte aber niemand erfahren. Auch nicht, dass Regenfälle in Sachsen-Anhalt den Boden kontaminiert hatten und dort einige Milchproben eine Radioaktivität aufwiesen, die bis zu 700 Prozent über dem Grenzwert für Säuglinge lag.
Plötzlich gab es überall in der DDR sonst knappes Obst und Gemüse überreichlich und in anscheinend guter Qualität zu kaufen. Produkte aus Osteuropa, die nicht mehr in Westen exportiert werden konnten. Aber viele DDR-Bürger wussten Bescheid, die Warnhinweise aus dem Westen waren allgemein bekannt.
Das Thema Risiken der Kernergie hat die DDR-Öffentlichkeit brennend interessiert, aber jede Diskussionen wurde unterdrückt. Risiken gab es offiziell keine. Wer öffentlich Bedenken äußerte, wurde systematisch bespitzelt und verfolgt.
Es ist durchaus möglich, dass der Eindruck, von der Regierung in zynischer, menschenverachtender Weise belogen zu werden, die DDR nachhaltig destabilisierte und wesendlich zum Untergang des Regimes drei Jahre später beitrugen. Über die "Wende" und die "Einheit" hinaus hielt sich ein Klima des Mißtrauens.

Zwischen Beschwichtigung und Panikmache
In den 80er Jahre gab es in der damaligen BRD eine der größten und am besten organisierten Anti-Atomenergiebewegungen weltweit. Es gab hier aber auch einige der verbissensten Pro-Atom-Politiker. Unter den westlichen Staaten verfolgte nur Frankreich ein ähnlich umfangreiches "Atomprogramm" wie Westdeutschland. Der deutsche Ehrgeiz zielte darauf, eine möglichst große Autarkie der Energieversorgung zu erreichen. Ein "geschlossener Brennstoffkreislauf", für den "Schnelle Brüter" wie der 1986 kurz vor der Fertigstellung stehende Reaktor von Kalkar und eine Wiederaufarbeitungsanlage nötig waren, sollte die Anhängigkeit von Uraneinfuhren verringern. Ebenfalls kurz vor der Inbetriebnahme stand der Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop, Prototyp eines Kernkraftwerkes, dass auch Prozesswärme für die chemischen Industrie (z. B. für die Herstellung synthetischer Kraftstoffe) liefern sollte - und das außerdem das in Deutschland recht häufig vorkommende Thorium als Brennstoff nutzbar gemacht hätte.
Die Bundesregierung und die meisten Landesregierungen hielten, trotz des Aufstiegs der atomkraftfeindlichen "Grünen" und einer zunehmend atomkritischen Haltung an der Basis der großen Parteien, eisern am Konzept der "sauberen Atomenergie" fest. Der zum Teil erbitterten Widerstand der Atomenergiegener wurde mit manchmal geradezu polizeistaatlichen Methoden unterdrückt. Besonders Bayern, dass damals vom "Atomfan" Franz-Josef Strauß regiert wurde, tat sich mit brutalen Polizeiaktionen unrühmlich hervor. Aber auch in Schleswig Holstein gab es geradezu paramilitärischen staatliche Gewalt gegen Demonstranten beim fast fertigen KKW Brokdorf.
Kein Wunder, dass nach dem Unfall von Tschernobyl eine Gefahr für die Bürger von "regierungsamtlicher" Seite vehement verneint wurde!
Auf der anderen Seite war das Meinungsklima in den nicht-konservativen Medien, einschließlich "Stern", "Spiegel" und der Fernsehmagazine "Monitor" und vor allem "Report Mainz", extrem atomskeptisch - allerdings oft mit einen sensationsheischenden "apokalyptischen" Unterton. (Es war auch die Zeit der "Waldsterbens"-Panik.)

Kein Wunder, dass die Informationslage nach dem Unfall von fundamental widersprüchliche Bewertungen geprägt war. Die Bundesregierung ging nicht von einer ernsthaften Gefährdung der Bevölkerung aus. Gleichzeitig kamen Umweltverbände, Bürgerinitiativen, die "Grünen", aber auch SPD-geführte Landesregierungen zu anderen Einschätzungen - und forderten mit dem Slogan "Tschernobyl ist überall" die sofortige Stillegungen aller Atomanlagen. Als am 2. Mai, nach radioaktiv belasteten Regenfällen, die Meßwerte im Boden vor allem in Süddeutschland nach oben schnellten, empfahl die von der Strahlenschutzkommision beratene Bundesregierung ein Bündel von Vorsichtsmaßnahmen. Eltern von Kleinkindern sollten von Frischmilch auf Trocken- und H-Milch umsteigen, Landwirte ihr Vieh nicht mehr auf die Weide treiben. Freilandgemüse wurde untergepflügt. Es wurden Einfuhrbeschränkungen für Lebensmittel aus der UdSSR und anderen osteuropäischen Ländern verhängt. Einige Bundesländer und Gemeinden gingen weiter und schränkten z. B. das Spielen von Kindern im Freien ein. Die Strahlenschutzkommision der Bundesregierung sah hingegen keine Veranlassung dafür, die Lebensgewohnheiten zu ändern, ein Kinderspielverbot im Freien hielt sie z. B. für überflüssig.
Im Nachhinein absurd mutet der Streit um Grenzwerte an. Ein Grenzwert ist normalerweise das Ergebnis eines mitunter ziemlich faulen Kompromisses zwischen Wissenschaft und Politik. Im Umfeld des Tschernobyl-Unfalls wurde Grenzwerte oft freihändig ohne strahlenbiologische Grundlage festgelegt, so wie sie politisch opportun erschienen. Es wurden allerdings, entgegen anderslautender Gerüchten, zumindest in der BRD keine geltenden Grenzwerte angehoben, damit auch bei erhöhter Radioaktivität alles im "grünen Bereich" bliebt. Typisch waren die aus politischem Aktionismus geborenen Grenzwertverschärfungen - man "tat etwas", auch wenn es faktisch wenig bis garnichts nützte.

Ein Beispiel: Frischmilch enthält von Natur aus je Liter durchschnittlich 100 Becquerel radioaktive strahlende Isotope. Vor dem Unfall von Tschernobyl betrug der international gängige Grenzwert für Milch 3700 Bq/l Gesamtaktivität. Nach dem Unfall wurde der Grenzwert in der BRD auf 500 Bq/l herabgesetzt. Der damals in Hessen regierenden rot-grünen Koalition reichte das nicht aus, sie setzten einen Grenzwert von 20 Bq/l fest - ein Fünftel der ohnehin in jedem Liter Milch vorhandenen natürlichen Radioaktivität. Infolge dessen mußte die gesamte hessische Milchproduktion vernichtet werden.

Für den einzelnen Bürger gab es erhebliche Probleme beim Versuch, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wichtige Informationen waren nicht verfügbar, und die Informationen, die es gab, waren mit Unsicherheiten behaftet und zum Teil widersprüchlich. Andere Informationen waren für den Laien unverständlich.

Die Medien verstärkten das Informationschaos noch. Die meisten Redaktionen waren schlicht überfordert. Sie beschränkten sich, mangels wissenschaftlicher Kompetenz im wesendlichen darauf, "vorgefertigte" Einschätzungen von Ursachen, Ausmaß und Risiken des Super-GAUs wiederzugeben. Viele Medien verzichteten sogar ganz auf eine eigene kritische Beurteilung und übernahmen ungefiltert selbst dubiose Aussagen auch selbsternannter "Experten". Extreme Auswüchse gab es in der Boulevardpresse; manchmal fanden sich in einer Ausgabe der "Bild-Zeitung" gleichzeitig Panikmache neben betont beruhigenden Meldungen. In den seriösen Medien sah es nicht viel besser aus.

Teil 4:Die Folgen

Montag, 15. Mai 2006

Nachtrag zur GKSS

Aus gegebenem Anlaß - ein Anfrage eines Journalisten an mich - eine Ergänzung zur "Serie" Leukämie und Mini-Atombomben.

Ich werde nun einige der an mich gestellten Fragen öffentlich beantworten:

Wieso äußert sich kein Mitarbeiter der GKSS zu der durchaus realen Möglichkeit, die eigene Arbeit könne eventuell zu schweren
Erkrankungen von Kindern beigetragen haben?

Die für mich naheliegenste Erklärung: Weil sie überhaupt nichts "Brisantes" wissen!
Die Arbeit der allermeisten GKSS-Mitarbeiter hat überhaupt nichts mit Kernforschung, der Lagerung radioaktiver Abfällen oder überhaupt dem Umgang mit radioaktiven Stoffen zu tun. Und auch die meisten jener Mitarbeiter, die damit zu tun haben, wären nicht betroffen. Was jene Mitarbeiter angeht, deren Arbeit eventuell mit den Leukämiefällen zu tun haben könnte: Das betrifft, wenn es tatsächlich einen Unfall gab, einen sehr überschaubaren Personenkreis.
Wobei die GKSS an sich nicht zum "Mauern" neigt: Der Skandal um
falsch deklarierten Atommüll im Jahr 2000 z. B. wurde beim Umfüllen der Abfällen in Edelstahlbehälter von Mitarbeitern der GKSS aufgedeckt. Nachdem sich der Verdacht auf nicht ordnungsgemäß deklarierte Fässer erhärtete, hat GKSS unverzüglich die zuständigen Behörden informiert und beim Landgericht Lübeck Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt.

Gab es da etwas im Septermber 1986 oder nicht?
Ich weiß es nicht. Ursprünglich hielt ich einen schweren Unfall mit radioaktiven Abfällen für möglich, aber ich bin mir, nachdem sich einige Sachverhalte doch anders darstellen, als ich annahm, nicht mehr sicher. Damit meine ich z. B. die angeblich in 44 Meter Höhe gemessenen 500 Bq/m³ Luft. Das war ein errechneteter Wert für die Aktivität in Bodennähe. Damit relativiert sich die Größenordnung eines möglichen Unfalls entschieden!
Was es gab, war ein kleinerer Unterholzbrand. Der meines Erachtens völlig unbeachtet geblieben wäre, wären nicht die Brandprotokolle ausgerechnet beim Brand der Feuerwache vernichtet worden. Das riecht nach einer Vertuschungsaktion, allerdings gibt es weitaus unauffälligere Möglichkeiten, brisantes Material "verschwinden" zu lassen.

Was wird unter Ehemaligen der GKSS besprochen?
Allzuviel Kontakte habe ich nach so langer Zeit und bei meiner eher randständigen Tätigkeit natürlich nicht. Ich habe allerdings ein paar Ex-GKSSler gefragt. Durch die Bank bezeichnen sie die Vorwürfe gegen die GKSS als Unsinn.

Gibt es eine Geheimhaltungsverpflichtung, die Sie unterschreiben mussten?
Nur die übliche Arbeitsvertragsklausel, die verbietet, vertrauliche Interna nach außen zu tragen. Die als maximale Konsequenz die Entlassung zur Folge gehabt hätte.

Die Frage ist, ob die Beschäftigten einer solchen Anlage bei der Aufklärung mithelfen wollen oder überhaupt können.
Meiner Ansicht nach können sie es nicht - weil sie nichts wissen.

Samstag, 13. Mai 2006

Cäsium-137, Jod-131, Strontium-90, Lüge-86 - Teil 2

Teil 1
2. Die sowjetische (Des-)Informationspolitik
Erst als am 28. April , zwei Tage nach dem Unfall, als in Finnland und Schweden erhöhte Radioaktivität in der Luft und am Boden gemessen wurde, und die zu dieser Zeit herrschenden Windströmungen eindeutig auf einen Ursprung in Weißrußland oder der Ukraine hinwiesen, gab die UdSSR spät abends eine "Havarie" im Kernkraftwerk Tschernobyl bekannt. Tage später, auf erheblichen Druck aus dem Ausland, gaben die sowjetischen Behörden zu, dass es zu einer Explosion und einer Kernschmelze gekommen war, bei der große Mengen an radioaktiven Stoffen freigesetzt wurden. Auch in den folgenden Wochen lieferte die UdSSR nur sehr spärliche und lückenhafte Informationen über den Unfall, es galt das Prinzip, dass nur das zugegeben wurde, was nicht mehr zu leugnen war. Dass der Reaktorkern brannte und dass das Dach des Reaktorgebäudes beim Unfall weggerissen wurde, erfuhr die Weltöffentlichkeit zuerst durch westliche Satellitenfotos. Erst auf einer Konferenz änläßlich dieses Unfalls Ende August 1986, legte die sowjetische Seite umfangreiches Material über den Unfallhergang und den Reaktortyp vor.
Noch zwei Jahre lang versuchten die sowjetischen Behörden der eigenen Bevölkerung Informationen über die Strahlenbelastung vorzuenthalten. Die Informationssperre scheiterte, weil die offensichtlichen Widersprüche sich nicht länger leugnen ließen. Auf internationalen Konferenzen gaben sowjetische Wissenschaftler Daten über die radioaktive Belastung und ihre regionale Verteilung bekannt, über westliche Rundfunksender und persönliche Kontakte sickerte dieses Wissen in die UdSSR zurück. Die aufwendigen Reinungsmaßnahmen in besonders belasteten Gebieten ließen sich nicht verbergen, ebensowenig der Einsatz hundertausender Liquidatoren. Das strafte die offiziellen Beteuerungen Lüge, dass Informationen über die Kontaminations- und Dosiswerte nicht notwendig wären, da die Situation unter Kontrolle sei.
Noch wärend der Informationssperre erhielt die Bevölkerung erhielt die Bevölkerung in den höher belasteten Gebieten zusätzlich 30 Rubel im Monat als Ausgleich für die erhöhten Kosten der Nahrungsmittelbeschaffung, weil ja lokale landwirtschaftliche Produkte nicht mehr gegessen werden durfte. Auch die Umsiedlungen aus der 30-km-Zone konnte nicht verborgen bleiben.
Die Diskrepanz zwischen dieser im Volksmund bals "Sarggeld" genannten Zuwendung und den offiziellen Behauptungen, alle Probleme seinen gelöst war offensichtlich. Auch wurden über 250.000 Menschen umgesiedelt bzw. zwangsdeportiert - und anschließend "vergessen". Die zahlreichen Widersprüche führten zu öffentlichem Druck, der in der UdSSR der "Glastnost"-Periode nicht völlig unbeachtet blieb. Dennoch dauerte es zwei Jahre, bis zuerst in Weißrussland die Informationssperre aufgehoben wurde.

Das Chaos aus offiziellem Schweigen und Lügen, durchsickernden Informationbrocken und wild wuchernden Gerüchten verunsichtete nicht nur die Bevölkerung; es erschwerte auch gezielte Hilfe, machte sie sogar in einigen Fällen unmöglich. Es ist bezeichnend, dass es in den an die Ukraine angegrenzende Gebieten Polens bei weitem nicht zu einem vergleichbar dramatischen Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle gekommen ist, als in den benachbarten ukranischen Gebieten. Der Grund: in Polen wurden sofort nach der Katastrophe Jobtabletten verteilt, in der Ukraine nicht oder zu spät.
Als dann doch reichlich spät Informationen freigegeben wurden, hatte sich ein Klima des Mißtrauen und tiefer Verunsicherung entwickelt, dass den politischen Umbruch überdauerte und bis heute andauert. Die psychozialen Folgen sind verheerend. Möglicherweise verursachten die Angst vor der Strahlung, die Verzweiflung, die Depressionen und der nach "Tschernobyl" gradezu unglaublich angestiegene Alkoholmissbrauch in Weißrussland und der Ukraine mehr Schaden als die Strahlung selbst.

Nächster Teil: das deutsche Informationschaos

Dienstag, 9. Mai 2006

Cäsium-137, Jod-131, Strontium-90, Lüge-86 - und die Spätfolgen

Was treibt Organisationen wie "Ärzte gegen den Atomkrieg" zum Realitätsverlust? Was trieb anerkannte Fachleute dazu, sich einer Verschwörungstheorie zu verschreiben, die aus "Akte X" stammen könnte? Wobei die "Geheimforschungs"-Theorie nicht unbedingt dem Ziel "Atomausstieg" förderlich ist, denn nimmt man sie ernst, sind sogar kritische Forschungsinstute wie das Öko-Institut, selbst "GRÜNE" Politiker, die erklärtermaßen lieber gestern aus heute alle kerntechnischen stillegen würden, sogar einige gestandene Anti-Atom-Aktivisten mit 25 Jahren Castorblockadeerfahrung nichts als gekaufte Marionetten der "Atomlobby".
Meine Vermutung: diese angsterfüllte bis paranoide Haltung, die niemandem traut, der nicht das Allerschlimmste annimmt, ist eine Spätfolge einer schweren Kontamination mit Lüge-86. (Anders ausgedrückt: durch die Desinformationspolitik damals wurde extremes Mißtrauen gesäht, dessen Spätfolgen die paranoide Grundhaltung einiger Atomkraftgegner ist.)

Im Umfeld des Reaktorunfalls von Tschernobyl wurde kräftig Lüge-86 freigesetzt, und zwar nicht nur in der damaligen UdSSR. (Siehe z. B. dieser Telepolis-Artikel vom 8. Mai 2006: Frankreichs wolkendichte Grenzen.) Die Folgen sind nicht nur bei reichlich verstrahlten Atomkraftgegner erkannbar, sondern auch z. B. in den Medien und - als Gegenreaktion - auch bei den Freunden der Kernenergie.

1. Vor dem Unfall
Typisch für die damalige UdSSR war eine im Prinzip nicht völlig unberechtigte Spionage- und Sabotageangst, die sich allerdings systembedigt zu einer flächendeckenden Paranoia ausweitete: Nicht nur, dass die linke Hand nicht mehr der Rechten traute, es mißtraute auch der rechte Daumen dem rechten Zeigefinger. Eine der Folgen war eine ins Absurde gesteigerte Politik der Geheimhaltung und Desinformation.
Über die Konstruktion der Reaktoren vom Tschernobyl-Typ, der RBMK, war im Westen wenig bekannt. Das Wenige war aber schon alarmierend. Bekannt war, dass es sich um graphitmoderierte Druckröhrenreaktoren handelte. Graphitmoderierte Reaktoren haben einen positiven Dampfblasenkoeffizienten: Bei Leistungs- und Temperatursteigerungen nimmt auch die Kettenreaktionsrate immer schneller zu, der Reaktor kann "durchgehen". Das passiert auch bei Wasserverlust, da das Wasser nur Kühlmittel, aber nicht Moderator ("Neutronenbremse", die die Kettenreaktion erst ermöglicht) ist. Wassermoderierten Reaktoren haben einen negativen Dampfblasenkoeffizienten, bei "Überhitzung" nimmt die Kettenreaktion ab, bei Wasser- (und damit Moderatoren-)verlust bricht sie ab. Man kann einen Leichtwasserreaktor sogar stoppen, indem man ihn "trockenlegt" - was bei einem Kernkraftwerk wegen der Resthitze allerdings zur Reaktorkernschmelze mit möglicherweise äußert unangehmen Folgen für die Umgebung führen würde. Immerhin: ein Unfall a la Tschernobyl, bei dem auch entfernte Landstriche schwer radioaktiv kontaminiert werden, kann aus physikalischen Gründen ausgeschlossen werden.
Eine zweite Risikoquelle beim RBMK ist das Graphit selbst: Es brennt ausgesprochen gut. Ein Brand eines graphitmoderierten Reaktors im britischen Windscale (heute Sellafield) im Jahre 1958 war der folgenschwerste "westliche" Reaktorunfall. Wikipedia: Windscale-Brand.
Außerdem war im Westen bekannt, dass man beim RBMK auf eine Sicherheitshülle, ein "Containment", verzichtet hatte - die Reaktoren stehen in unverstärkten Hallen, die im Prinzip normale Fabrikgebäude sind.
Dass über die Konstruktion der RBKM im Ausland kaum etwas bekannt war - im Gegensatz z. B. zu den Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart - dürfte daran gelegen haben, dass RBMK-Reaktoren auch zur Herstellung von waffentauglichem Plutonium benutzt wurden. Auch diese Tatsache war natürlich Staatsgeheimnis.

Geheimgehalten wurden haarsträubende Konstruktionsmängel des RBMK. So wurde verheimlicht, dass diese Reaktoren auch im Normalbetrieb über das Kühlwasser radioaktive Stoffe abgeben. Dass beim RBMK gewaltigen Kühlwassermengen eingesetzt werden, ist einerseits technisch bedingt, hat aber auch den "vorteilhaften" Effekt, dass durch die starke Verdünnung die Grenzwerte besser eingehalten werden können. Auch nicht bekannt war, dass eine Schnellabschaltung im Notfall immerhin 18 - 20 Sekunden benötige - bei westlichen Reaktoren sind 0,5 bis 1 Sekunde üblich. Außerdem waren die Abschalt- und Regelstäbe fehlerhaft konzipiert: Beim Einfahren aus dem völlig gezogenen Zustand reduzieren sie zunächst nicht die Reaktivität, sondern beschleunigen sie sogar. Betätigt man die "Bremsen" des Reaktors, führt das konstruktionsbedingt zu einem kurzzeitigen "Gasgeben". Dieses wichtige Detail wurde nicht einmal den Bedienungsmannschaften mitgeteilt (!), obwohl es nach einem Beinahe-Unfall im Kraftwerk Ignalina (heute Litauen) den Betreibern bekannt war.

Das AKW Tschernobyl galt wegen seiner hohen Verfügbarkeit als Musteranlage. Ein Jahr vor dem Unfall wurde sogar ein Filmteam der ARD durch die Anlagen geführt, wobei die Kommentatoren, soweit ich mich erinnern kann, den verharmlosenden Angaben ihrer "Fremdenführer" völlig vertrauten.
Der "Informationsdienst Kernenergie" der Kernkraftwerksbetreiber erwähnte zwar den vergleichsweise schlechten Sicherheitsstandard der meisten osteuropäischen Kernkraftwerke, allerdings meistens eher um die hervorragenden Sicherheitseinrichtungen westdeutscher Reaktoren zu loben, als auf mögliche Risiken durch unsichere Reaktoren einzugehen.

In der westdeutschen Anti-Atom-Bewegung gab es zwei gegensätzliche Meinungen über das Risiko durch "östliche" AKWs. Eine Gruppe (zu der ich gehörte) war der Ansicht, dass die graphitmoderierten sowjetischen Reaktoren der gefährlichste zivile Reaktortyp überhaupt wären. Die Leichtwasserreaktoren im Ostblock wären vergleichsweise sicherer, allerdings würden auch ihre Sicherheitseinrichtungen in der Regel nicht westlichen Standards entsprechen.
Eine weitaus größere Gruppe hielt "westliche" und "östliche" Reaktoren etwa für gleich gefährlich, ihre Anhänger warfen der ersten Gruppe gelegentlich vor, der Propaganda der westlichen Kraftwerksbauer auf den Leim gegangen zu sein.
Es gab noch eine dritte, kleine, meistens aus DKP-Anhängern bestehende Gruppe, die gern betonte, dass "sozialistische" Kernkraftwerke sicherer seien als die auf Profitmaximierung ausgelegten "kapitalistischen" Anlagen. Auf den Einwand, dass die Ost-Reaktoren in Sachen Sicherheit ziemlich spärlich ausgerüstet wären, antwortete mir ein DKPler damals, die sozialistischen Kernkraftwerkskonstrukteure würden eben auf einfachere, dafür aber sehr robuste und entsprechend betriebssichere Technik setzen, anstatt mit nachgeschalteter Sicherheitstechnik Störfälle zu beherrschen zu versuchen. In Anspielung auf die Bedienungsfehler, die zur Kernschmelze beim US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Miles Island geführt hatten, verwies er auf den seiner Ansicht nach sehr hohen Ausbildungsstand osteuropäischer Reaktorführer.

Teil 2: die sowjetische (Des-)Informationspolitik
Teil 3: das deutsche Informationschaos
Die Folgen - Panikreaktionen, Verniedlichung und Sensationsmache

Mittwoch, 26. April 2006

Ein schöner Frühlingstag, vor 20 Jahren,

Am Samstag, dem 26. April 1986, dem Tag, als der Reaktor im Block IV des Atomkraftwerks Tschernobyl explodierte, wußte ich noch nichts von der größten Katastrophe in der Gesichte der zivilen Kernenergienutzung. Erst am Montag, dem 28. April, erfuhr ich davon. Deshalb erinnere ich mich nur an ein schönes Frühlingswochende.

Als die Angestellten des schwedischen Atomkraftwerks Forsmark - 1300 km von Tschernobyl entfernt - beim Schichtbeginn am Morgen des 28. Aprils 1986 die Kontrollschleusen passierten, schlugen die Strahlungsmonitore Alarm. Aber die Strahlung kam nicht, wie zuerst vermutet, aus dem Inneren des Reaktorgebäudes, sondern von außen. Das war der erste Hinweis auf eine nukleare Katastrophe, irgendwo im damaligen Ostblock, der die Weltöffentlichkeit erreichte. Am Abend folgte eine dürre Meldung der amtlichen Moskauer Nachrichtenagentur TASS, im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl habe sich eine Havarie ereignet. Über Art und Ausmaß des Unfalls wurde nichts mitgeteilt.

Schon einige Jahre vorher stolperte ich zum ersten Mal über die Abkürzung "RBMK" und den Ortsnamen "Tschernobyl". Ich befasste mich mit der bereits 1979 veröffentlichten Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke (Phase A), jener beunruhigenden Studie, die für einen Kernschmelzunfall in einem Kernkraftwerk, bei dem der Reaktorkern vollständig in die Umwelt entweicht, bis zu 17 000 Soforttote und 110 000 tötliche Erkrankungen infolge der Strahlenwirkung errechnete.
Zu dieser Studie gehörte, als Anhang, eine Einschätzung des Gefahrenpotenzials der verschiedenen Reaktortypen. Dabei stach ein Reaktortyp als gerade abenteuerlich riskante Konstruktion hervor: der "Reaktor Bolschoj Moschnostij Kanalnij", der "Kanalreaktor großer Leistung. Ich dachte bei mir: Wenn es den "Supergau" irgendwann mal gibt, dann wahrscheinlich bei dieser Bauweise. Und hoffentlich nicht am Standort Leningrad (heute: St. Petersburg), am Rande einer Millionenstadt! (Dieses RBMK-AKW ist übrigens immer noch im Betrieb.)

Der Risiko-Reaktor RBMK resultierte übrigens aus dem Bestreben, einen möglichst wirtschaftlichen Reaktor zu bauen. Kein anderer Kernkraftwerkstyp liefert so billigen "Atomstrom" - und als willkommenes "Nebenprodukt"waffenfähiges Plutonium - wie diese konstruktionsbedingt unsichere Reaktorlinie.
Was auch der Grund sein dürfte, dass noch 1994 - acht Jahre nach "Tschernobyl" - ein neuer RBMK ans Netz ging.

Wikipedia: RBMK
Sicherheit von Kernkraftwerken

Der Reaktortyp von Tschernobyl:
Der RBMK-Reaktor und seine Konstruktionsfehler


Kernkraftwerke in Osteuropa (mit Risikoeinschätzung)

Nachtrag: Ein bezeichnendes Zitat aus der Website Tschernobyl - Chronik einer technischen und menschlichen Katastrophe
Alla Jaroshinskaja, die diese Vernebelungstaktik der Machthaber am eingehendsten untersucht hat, dokumentierte den verharmlosenden, ja realitätsfernen Satz der Machthaber: Nichts bedroht die Gesundheit unserer Kinder.Die von ihr im April 1992 heimlich kopierten Unterlagen aus dem Kreml beweisen, daß die Machthaber selber erstklassig informiert wurden. Das gefährlichste Element, schrieb Jaroshinskaja damals in der Berliner "Tageszeitung", das der Reaktor in Tschernobyl ausgekotzt hat, fehlt in der Periodentafel der Elemente: Sein Name ist Lüge-86

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