Verfahrene Situation

Es erstaunt mich immer wieder, wie viele Menschen hierzulande (und auch anderswo) ein glasklares Bild der Situation der Palästinenser haben, und natürlich genau wissen, was Israel machen müsste, damit endlich Frieden einkehrt im "nahen Osten". (Als ob der nur aus Israel und unmittelbarer Umgebung bestünde und als ob dort ansonsten tiefer Frieden herrschen würde!) Damit meine ich nicht etwa als "Antizionisten" getarnte Antisemiten, die froh sind, dass "die Juden auch nicht besser sind".

Der "Durchblick" der Stammtischstrategen und Wohnzimmer-Politiker beruht sicherlich zum Teil darauf, dass ein aus zweiter und dritter Hand vermitteltes Bild alles vereinfacht und vergröbert, weshalb alles so klar erscheint. Wichtiger ist, dass bei solchen Menschen zuerst die Weltanschauung kommt, und dass es umso schlimmer für die Wirklichkeit ist, wenn sie sich nicht daran hält. (Der von mir an sich sehr geschätzte schwedische Kriminalschriftsteller Henning Mankell gibt meines Erachtens ein Musterbeispiel für dieses Denken.)

Vor kurzem las ich bei Lila über einen bizarren und erschreckenden Vorfall:
Ein Krankenwagen des Roten Davidsterns fährt durch ein arabisches Örtche in der Nähe von Ostjerusalem. Wütender Mob schmeißt sofort mit Steinen danach. Die Unverschämtheit der Juden, ihren Krankenwagen durch diesen Ort zu fahren!
Kleiner Schönheitsfehler: der Kranke, der im Wagen drin lag und behandelt wurde, war Palästinenser.
Weiter: Noch eine Meldung

Lila vermutetet, dass, wenn die Rettungssanitäter samt Patient gesteinigt worden wären, der Patient als Märtyrer der Besatzung gefeiert worden wäre - vom Yahud zu Tode gerettet. Da ich weiß, wie weit Realitätsblindheit infolge ideologischen Denkens gehen kann, und mir keine Illusionen über Gruppendynamik mache, halte ich Lilas Vermutung für plausibel.

Ein bizzarres und trauriges Beispiel menschlicher Dummheit / Verhetztheit – und ein Musterbeispiel dafür, dass die Lage erheblich komplizierter, verfahrener, verrückter und unübersichtlicher ist, als es sich Stammtischstrategen und Wohnzimmerpolitiker fernab von Israel auch nur vorstellen wollen!
Bodecea - 8. Nov, 17:38

Aber ist das mit "Stammtischphilosphen analysieren politisches Thema XY" nicht immer so? Jedenfalls haben sich bei mir schon bei vielen Themen die Nackenhaare gesträubt, wenn die Schlaumeier vom Dienst loslegten...

Bodecea

MMarheinecke - 8. Nov, 18:13

Ja, das ist so

Aber es gibt kaum ein Gebiet, in dem Halbwissen und ideologische Voreingenommenheit so öffentlich präsent ist, wie bei der Israel/Palästina-Frage.
MMarheinecke - 8. Nov, 18:24

Interessante Ergänzung von Lila
[...] Primus [Blog-Name für Lilas ältesten Sohn MM] hat auch auf meine lässig hingeworfene Nachfrage erzählt, daß es bei Einsätzen in arabischen Orten immer wieder mal vorkommt, daß eine Gruppe zorniger Menschen sich um seinen Rettungswagen versammelt. Aber er und sein Notarzt können beide gut Arabisch, und er sagt, mit einer freundlich-bestimmten Erklärung, daß sie nur Ersthilfe leisten und der Rote Halbmond schon unterwegs ist, sind sie bisher aus allen Situationen gut rausgekommen.

Nun zahlt sich aus, daß Primus gut und gern Arabisch gelernt hat und an der Schule einer seiner besten Freunde Druse war. Er kennt die Nuancen der Körpersprache genau, mit der man Drohungen begegnet, ohne weiter zu eskalieren. Das ist gar nicht so einfach – weder darf man zu unterwürfig noch zu aggressiv auftreten. Primus hat auch das Männerlächeln gelernt, mit dem er solche Situationen entschärft – ich muß mich darauf verlassen, daß das reicht.

Aber nicht mehr Notrufen zu folgen, wenn ein Unfall ganz in der Nähe seines Einsatzorts passiert, das wird gar nicht erst erwogen. Und natürlich sind alle Einsatzwagen gepanzert, das brauchte ich nicht mal zu fragen. [...]

Köppnick - 13. Nov, 09:24

Obwohl ich dir im Großen und Ganzen zustimme, muss ich doch ein paar Anmerkungen machen: Natürlich kann man als Außenstehender eine Situation kaum vollständig verstehen. Umgekehrt liefert aber die Innenansicht ein genauso unvollständiges (oder sogar verzerrtes) Bild. Ich habe mich mal mit einem Deutschen unterhalten, der einige Zeit in Israel gearbeitet hat. In einem Café, in dem er nach der Arbeit mit seinen Kollegen gewesen ist, ist kurze Zeit später eine Bombe eines palästinensischen Selbstmordattentäters explodiert. Dieses Erlebnis und einige andere und vor allem der alltägliche Umgang mit seinen israelischen Kollegen haben meinen Bekannten psychisch vollkommen verändert. Man kann vielleicht nicht sagen, dass er nach seinem Israelaufenthalt die Palästinenser gehasst hat, aber er hat sie verachtet.

Der von dir zitierte Vorfall mit dem Krankenwagen ist nur möglich gewesen, weil die Situation so ist, wie sie ist. Da kann man als Außenstehender schon sagen, dass die offenbar einzig sinnvolle Methode, den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu lösen, ihre räumliche Trennung ist, also indem die Palästinenser ihr eigenes und zusammenhängendes Staatsgebiet erhalten und von dort alle Israelis abgezogen werden. Dann wird es vermutlich immer noch mehrere Generationen dauern, bis sie wieder halbwegs zivil miteinander umgehen können, bis alle gestorben sind, die das Leid, Angehörige und Freunde zu verlieren, noch am eigenen Leib verspürt haben. Diese räumliche Trennung wird derzeit mehr von israelischer Seite als von palästinensischer verhindert, oder ist diese von außen gemachte Beobachtung auch falsch?

Man kann als Außenstehender vielleicht nicht jedes Einzelschicksal würdigen, aber man kann doch zählen, und Zahlen sind ein Stück weit objektiver als die Schilderung von Einzelschicksalen. Und wenn bei einer Militäraktion hundert Palästinenser getötet werden, an anderer Stelle zehn Palästinenser von israelischen Sanitätern gerettet werden, dann ist die Gesamtbilanz für die Palästinenser trotzdem negativ.

MMarheinecke - 13. Nov, 18:30

Es gibt vielleicht einen anderen Weg

"Primus" und sein Notarzt gehen ihn - soweit ich das beurteilen kann - oder versuchen es wenigstem mit einigem Erfolg: er führt über kulturelle Kompetenz, und über die Fähigkeit, zu differenzieren. (Es wird völlig klar, dass Lila nicht "die Palästinenser" an sich für solche Vorfälle verantwortlich macht.) Es ist wichtig, zu Verstehen, wie "die anderen" ticken. Dazu gehört mehr als Sprachkenntnis (die aber nicht unterschätzt werden darf). In dieser Situation ist es z. B. wichtig, zu betonen, dass die israelischen Rettungswagenbesatzungen keineswegs die palästinensischen Einrichtungen ignorieren oder übergehen, sondern einfach nur helfen.
Es ist kein einfacher Weg. Wenn "Primus" in einer "rein jüdischen, kulturell westlichen" Umgebung aufgewachsen wäre, hätte er IMO diese Kompetenz wahrscheinlich heute nicht.
MMarheinecke - 13. Nov, 18:53

Bewußt abgesetzt, weil es eine andere Ebene ist

Die Zahlen. Sie zeigen vor allem eines: die palästinensische Seite ist organisatorisch und militärtechnisch hoffnungslos unterlegen. Was vermutlich Ohnmachtsgefühle nach sich zieht und den Stolz verletzt. Das Selbstmordattentat ist die einzige "Waffe", gegen die Israel keine Abwehr und keine Gegenmaßnahme hat. Die immer wirkt. Also wird sie eingesetzt. Wobei IMO diese "Waffe" nicht eingesetzt werden könnte, wenn es nicht eiskalte Strategen gäbe, die Menschen zu "lebenden Bombenträgern" mit der Bereitschaft, sich selbst zu opfern, ausbilden. Selbstmordattentäter aus eigenem Antrieb gibt es meines Wissens nur wenige. ("Erweiterter Suizid" ist ja eher der Amoklauf, der weit weniger "effektiv" ist, als ein Selbstmordbomber, dessen Sprengstoffgürtel von einer auf die anderen Sekunde ohne Vorwarnung explodiert - und damit "optimale" Terrorwirkung hat.)

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