Im Gedenken an eine Verteidigerin der "kleinen Sünden"

Wie "New York Times" am 13. September berichtete, starb vor kurzem die (außer bei Puritanern und Gesundheits-Fanatikern) beliebte us-amerikanische Schriftstellerin Barbara Holland - "Barbara Holland, Defender of Small Vices, Dies at 77"
“Joy has been leaking out of our life. We have let the new Puritans take over, spreading a layer of foreboding across the land until even ignorant small children rarely laugh anymore. Pain has become nobler than pleasure; work, however foolish or futile, nobler than play; and denying ourselves even the most harmless delights marks the suitably somber outlook on life.”
Die Freude ist aus unserem Leben entwichen. Wir ließen die neuen Puritaner an die Macht kommen, die eine Decke der Drohungen über das Land legen, bis sogar unwissende kleine Kindern nur noch selten lachen. Schmerz wurde edler als Vergnügen; Arbeit, selbst dumme oder sinnlose, edler als das Spiel; und dass wir uns sogar die harmlosesten Freuden versagen kennzeichnet die angemessene düstere Lebensanschauung.
Sie hat leider so recht, nicht nur für die USA, sondern vielleicht mehr noch für Deutschland. Zwar ist die puritanische fixe Idee, dass Genuss Sünde sei, hierzulande nicht so weit verbreitet wie im Mutterland des modernen Puritanismus, aber Vorwürfe an Kranke, sie seien doch "selber schuld" und schadeten so der Gemeinschaft, machen das ohne weiteres wett. Wie in den USA herrscht bei uns (auch in den katholischen Gegenden) eine "protestantische Ethik" im Sinne von Webers Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus vor:
„Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen [glückseligen] oder gar hedonistischen [lustorientierten] Gesichtspunkten entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ‚Glück‘ oder dem ‚Nutzen‘ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint“
Warum gewinnt diese in mancherlei Hinsicht fragwürdige "Ethik des Geizes" wieder an Boden, obwohl in den vom Massenkonsum geprägten kapitalistischen Gesellschaften in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gemäßigter Hedonismus durchaus gesellschaftsfähig war und zum Teil noch ist? Vereinfacht lässt sich sagen, dass die protestantische Ethik die klassische kapitalistische Gesellschaft ermöglichte. Umgekehrt begünstigt eine Rückkehr zu "klassisch kapitalistischen Verhältnissen" - also: strickte Klassengrenzen, "industrielle Reservearmeen", mit deren Hilfe Löhne gedrückt werden, Abbau des staatlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektors, "Herr im Haus"-Politik der Kapitalisten, "Reproletarisierung" der Unterschicht usw. - auch die sie legitimierende Ideologie: die "protestantische Ethik" im Sinne Webers (deren extremste Form der vom Calvinismus abgeleitete "moderne Puritanismus"ist).
Ein weiterer Faktor, der den religiös begründeten Puritanismus (der sich auch bei Katholiken finden lässt) erstarken lässt, ist die Gegnerschaft zum Islam. "Dem Islam" bzw. dem neopuritanischen Zerrbild des Islams mangelt es an der nötigen Arbeitsethik. Aber dafür hätte "der Islam" andere Tugenden, die der "dekadente Westen" nicht mehr hätte: Opferbereitschaft, unbedingte Loyalität, Familiensinn, die Bereitschaft, viele Kinder aufzuziehen, und (selten offen ausgesprochen) eine Ordnung, die Frauen, Schwule, "Säufer", "Asoziale" "an ihren Platz" weist. Der Islam hat also alle "Tugenden", die einst "das christliche Abendland" stark gemacht hätten, bis auf die Arbeitsethik, hingegen hätte das Abendland von seinen "alten Tugenden" fast nur die Arbeitsethik behalten, und auch mit der ginge es bergab. (Von den "Sieben Todsünden" würde "die Moderne" alle bis auf die Faulheit "freudig umarmen".)
Folgerung: damit die "Musels" uns nicht erobern, müssen "wir" wieder so werden, wie die westlichen Industrienationen mal im 19. Jahrhundert gewesen waren (zumindest in der Vorstellungswelt der neuen Puritaner).

Wie das in der Praxis bei den heute Heranwachsenden funktioniert, lässt sich an der neuesten Shell-Studie und an der Rheingold-Studie ablesen, die sich hinsichtlich der Ergebnisse wenig unterscheiden - die Interpretation ist drastisch verschieden: wenn die Shell-Studie die Jugend als optimistisch und pragmatisch schildert, schilde die Rheingold-Studie sie als angstvoll und ungeheuer anpassungswillig. Beiden Studien zufolge gewinnt eine konservative, im Kern protestantische Ethik, verbunden mit neospießigem Verhalten, unter den jungen Leuten an Boden. Aus Panik angepasst und unter Selbstkontrolle (telepolis).

Zurück zu Barbara Holland. Sie trank mit Lust Alkohol und qualmte wie ein Schlot. "Natürlich" starb sie an Lungenkrebs - aber mit 77 kann das sogar abstinenten Nichtrauchern blühen.
Zwar möchte ich sie nicht als Vorbild darstellen. Rauchen ist nicht nur extrem ungesund, sondern ein höchst unbefriedigendes Laster, weshalb ich es mir abgewöhnte. (Ich war zwar nur "Genussraucher" - abends mal ´ne Pfeife zur Entspannung - aber irgendwann merkte ich dann auch tagsüber den "Nikotinjieper" - sicheres Zeichen, dass es Zeit war, aufzuhören.) Ich denke aber nicht daran, meinen (mäßigen) Alkoholkonsum und meinen (seltenen) Gebrauch anderer Drogen einzustellen.

Nichts gegen Sport - solange er Spaß macht. Nichts gegen gesunde Ernährung - aber gut schmecken muss sie schon.
Ein viel erstrebenswerteres und wie ich finde, gesünderes, Ideal als das der Askese ist die Mäßigung, das Einhalten der "rechten Maßes".

Es ist immer ein Alarmzeichen, wenn die kleinen Sünden mit großen Aufwand bekämpft werden.
katyhh - 17. Sep, 09:53

Meine volle Zustimmung! Man lebt (zumindest in dieser Daseinsform, alles andere ist schöne Spekulation für mich ;-)) nur einmal und sollte, bei aller Selbstkontrolle (bei mir: die leidigen Pfunde) das Leben doch wenigstens genießen!
Mitunter frage ich mich, ob das dauernde Gerede der Kollegen (beim Mittagessen, wohlgemerkt!) darüber, wieviel Sport man jetzt machen müsse, um den Schokoriegel abzutrainieren, oder wieviel man gerade wiegt, einfach nur das Überspielen von Unsicherheit ist, oder haben die echt keine anderen Sorgen???
Mir ist klar, dass mich eh hier alle für dick halten, weil ich aus Grösse 44 rausgewachsen bin, aber ich halte meine Klappe, und entweder esse ich etwas und freu mich dran oder ich lasse es. Seufz :)

MMarheinecke - 17. Sep, 16:19

Vielleicht es der Mangel an Mäßigung ...

... die souveräne Missachtung des Angemessen, oder, antik formuliert, Hybris, die die Gesellschaft gefährdet.
"[Die Gesellschaft] ist nicht gefährdet durch Rechts- oder Linksausleger, sondern durch die Protagonisten des Systems selbst. Es sind die Privilegierten, die durch Maßlosigkeit, den mangelnden Sinn für Balance und Proportionen, durch eine Bereicherungsmentalität an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen."
"Die Privilegierten sind das Problem" gefunden in der Sargnagelschmiede.

Historische Fußnote: Das Römische Reich ging nicht an der Dekadenz zugrunde. Unnötig eigentlich zu erwähnen, dass es nicht durch freiwillige Askese groß wurde.

Weitere Anmerkung: Längst nicht mit allem, was Steinbrück da in der taz zum Besten gibt, bin ich einverstanden. Dazu hängen seine Ansichten zu sehr in den eingefahrenen Gleisen des Politikbetriebs fest.

Lesenswert, wenn auch etwas selbstgerecht: was Ralf Höschele, stellv. Bundesvorsitzender der Jusos, auf "Steini" antwortet.

ryuu - 19. Sep, 17:33

Seitengedanke - Thema Minimalismus

Ich hatte da sofort eine Assoziation... und zwar die ganze "unclutter"- und Minimalismus-Bewegung, die namentlich (mal wieder) aus Amerika kommt. Tenor: "Wir wollen gar nicht mehr so viel besitzen und konsumieren, wir wollen aus dem Hamsterrad von Geldraffen und Konsumieren aussteigen, wir legen mehr Wert auf Lebensqualität".
Da sind Leute darunter, die das vor allem als einen Zugewinn an Lebensqualität propagieren und denen ich das abkaufe, z.B. Leo Babauta. Leo (als Vater einer sehr kinderreichen Familie) ist aber gegen diese jungen Männer hier noch nachgerade ein Burgbesitzer.
Aber ich wittere eine Gefahr: Nämlich daß das in eine Art Puritanismus umschlägt. Ich mißtraue bei aller Konsumkritik und allem ökologischen Denken dem Lob der materiellen Bescheidenheit, die Gründe habe ich auf meinem alten Blog schon mal geschildert: Best Things Aren't Free und Ich bin arm. Und Du?. Kurz gesagt: Loblieder auf materielle Bescheidenheit bergen in meinen Augen die Gefahr, Armut zu verharmlosen oder gar zu idealisieren.

Ich bin jemand, der zwar lieber kreativ handelt und erlebt anstatt nur konsumiert, aber dafür möchte ich so viel Verschiedenes tun, daß ich dafür eben auch viel Werkzeug brauche, ob das nun Elektronik ist oder Werkzeug für textiles Handwerk oder draußentaugliche Klamotten oder Konzertkleidung oder Musikinstrumente.
Ich stelle fest, daß ich allein deshalb schon keine Minimalistin sein kann.
"Unclutter" im Sinne von "Dinge, die ich nicht mehr brauche/nicht mehr mag, loswerden" - vorzugsweise, indem ich sie einer sinnvollen Weiterverwendung zuführe, wenn sie noch gut und brauchbar sind - finde ich durchaus sinnvoll. Ausgesprochener Minimalismus dagegen ist für mich nichts.

Es kommt dazu: Ich habe ja von ca. 2002 bis 2009 materiell recht kurz treten müssen, u.U. hatte ich weniger als Hartz IV, und daß ich damit klarkam, ohne wirklich großen Streß (wie in: Konto gesperrt, Mietschulden, nicht bezahlte Rechnungen in nennenswertem Ausmaß) zu bekommen, habe ich einem nachgerade krankhaften Geiz zu verdanken. Ich hatte keine andere Wahl, und heute koste ich ein wenig aus, daß ich in etlichen Punkten nicht mehr immer das Billigste nehmen muß, daß ich mir Bedürfnisse nicht mehr ausreden muß, daß ich mir eine neue Hose kaufen kann, wenn die alte Löcher bekommt (meine Hosen bekommen übrigens immer an Stellen Löcher, die ganz schlecht zu flicken sind), daß ich mir sogar erlaube, ein bescheidenes bißchen Geld in meine Hobbies zu stecken oder auch mal einen Zehner verjubeln kann, ohne hinterher ein wirklich übel schlechtes Gewissen zu haben.
Allzu große Sprünge kann ich immer noch nicht machen, schnell mal eine Fernreise wäre z.B. nicht drin.
Konzentration auf Wesentliches, auf das, was mir tatsächlich Sinn und Freude bringt: Ja, gerne. Aber sie darf nicht dazu führen, daß ich mir echte Bedürfnisse ausrede.

MMarheinecke - 19. Sep, 20:00

Zwar in einem anderen Zusammenhang, aber es PASST!

(...) Montag, beim sehr netten „literarischen Derby“, da wurde deutlich, was da dahinter steckt: Nämlich ein tiefer Neid auf alles Bunte, Schräge, Freie, das sogar die Frechheit besitzt, auch „Misserfolg“ zu bejubeln. Die haben als imageloses Dinosauriertier so tiefe Komplexe, dass selbst dort anwesende, sehr lustige Liedermacher sich fast dafür entschuldigten, dass sie da noch hin gingen. (...)
Der ganze Beitrag Was man am Abend vor dem Derby denkt, ist, wie fast immer bei momorulez, lang, geistreich und nichts für Feiglinge und Oberflächendenker.

Jari (Gast) - 22. Okt, 15:57

Konsumgesellschaft

Marc-Uwe Kling - Es ist an der Zeit!
http://www.youtube.com/watch?v=GJ2W9ijA1xA

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