Hassmails - was man mit ihnen macht und warum es sie überhaupt gibt

Was macht man mit Hassmails?
Die meisten, die schon mal Hassmail bekommen haben, machen es ganz pragmatisch: sie löschen sie.
Auch ich habe schon Hassmails bekommen, und sie gelöscht.

Hassmails sehe ich als eine böse Form der Trollerei an - ärgerlich, aber nichts, was mir wirklich zu schaffen macht. Ein Hassmail-Schreiber will mich ärgern und provozieren. Es wäre schlicht dumm, Trolle dadurch aufzuwerten, dass man sich von ihnen fertig machen lässt. Das ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes und eine der Psychohygiene.
Die meisten interneterfahrenen Menschen werden das, vermute ich, ähnlich sehen.
Allerdings gibt es Mechanismen, die dazu führen, dass Hassmails, jedenfalls im journalistischen Diskurs, anders gesehen werden.
Da wird schnell mal aus einer Mücke ein Elefant, wie neulich im Falle der noch amtierenden politischen Geschäftsführerin der Piratenpartei, Marina Weisband.

Es gibt meiner Ansicht nach drei Faktoren, die dazu führten, dass der gesunde Menschenverstand bei einige Journalisten und anderen Meinungsmultiplikatoren aussetzte:
  1. Sie ist eine bekannte Politikerin und hat ihren (vorläufigen) Rückzug von einem wichtigen Parteiamt angekündigt. Weil gerade politische Journalisten sich daran gewöhnt haben, dass Politiker "Pattex am Hintern haben" und ohne massiven Druck oder massive Probleme kein wichtiges Amt aufgeben, wirkt der von Frau Weisband genannte Grund - Examen fertig machen - nicht plausibel. Ihr Verhalten passt nicht ins Weltbild. (Ich vermute, dass, wäre sie keine Politikerin, sondern Sportlerin, Künstlerin, Unternehmerin oder Wissenschaftlerin der Grund "ich will erst mal in Ruhe zu Ende studieren" nicht nur akzeptiert, sondern beinahe einhellig gelobt worden wäre: "Da setzt jemand die richtigen Prioritäten im Leben!")
  2. Sie ist Jüdin und die Hassmails sind antisemitisch. Es gibt in Deutschland - aus bekannten historischen Gründen und somit aus gutem Grund - eine starke Unsicherheit gegenüber Juden. Leider führen diese berechtigten Selbstzweifel und die manchmal angebrachte Scham nur selten zur Selbstkritik und noch seltener zu notwendigen kulturellen Veränderungen, z. B. echter Toleranz. Das Übliche sind Betroffenheitsgesten. Wenn also ein Jude antisemitische Hassmails erhält, ist das automatisch ganz furchtbar, viel schlimmer als wenn ein Nichtjude antisemitische Hassmails bekommt.
  3. Der "Stille Post"-Effekt - einer schreibt vom anderen ab, und bei jedem Abschreiben wird die Meldung sensationeller.
Frau Weisband hatte die Hassmails einfach gelöscht - wie ich es an ihrer Stelle ebenfalls getan hätte. Allerdings:
@Afelia: Polizei Münster schickt mir Briefe, ich solle Menschen anzeigen. Ich habe keine Lust, Menschen anzuzeigen.
Ich frage mich ernsthaft, was die Polizei da geritten hat. Beleidigung wird bekanntlich nur dann strafrechtlich verfolgt, wenn die oder der Beleidigte das selbst anzeigt. Außerdem ist es sehr fraglich, ob die Absender der Hassmails überhaupt ermittelt werden können (Stichworte: Wegwerf-Mailadressen, Mail-Anonymisierer).
Allenfalls kann ich mir Vorstellen, dass jemand bei der Münsteraner Polizei die aufgeregten Meldungen der Boulevardpresse von einer Hassmail-Flut für bare Münze nahm und es nur gut meinte.

Anders würde ich reagieren, wenn anscheinend ernst gemeinte Drohungen eingingen. Eine konkrete Drohung wäre auf jeden Fall Sache der Polizei - sogar dann, wenn es keine Möglichkeit gibt, den Droher zu fassen. Schon die bloße Tatsache, dass die Polizei eingeschaltet wurde, schreckt manche Täter davor ab, ihren Drohungen Taten folgen zu lassen. Eventuell ist sogar Personenschutz erforderlich und möglich.

Warum gibt es Hassmails? Auch dazu hat Frau Weisband etwas Kluges zu sagen:
[...] Aber nicht nur das macht Weisband Sorgen: »Es gibt eine regelrechte Hasswelle, egal ob sie sich gegen Juden, Muslime, Arbeitslose richtet, die Neigung, die eigene Unzufriedenheit auf eine gesellschaftliche Gruppe zu projizieren, ist enorm groß.« [...]
»Nur acht bis zehn Hassmails« - Marina Weisband zieht sich nicht wegen Antisemitismus zurück (juedische-allgemeine.de)

Es sind in der Regel nicht die harten Nazischläger, die Hassmails schicken - die schicken, wenn überhaupt, eher ernst gemeinte und ernst zu nehmende Drohungen.
Der typische Hassmailschreiber will diejenigen, in die er seine Unzufriedenheit projiziert, die er für "schuldig" an seiner Misere hält, ärgern, "es ihnen zeigen," sie "fertigmachen". Damit ist er in der Tat ein Troll, ein Provokateur, der bösartigen Sorte. Solche Menschen wollen, dass sich ihre Opfer schlechter fühlen. (Es ist anzunehmen, dass Frau Weisband, immerhin "fast fertige" Psychologin, das weiß - im Gegensatz zu vielen Journalisten, Polizisten und auch Politikern.)

Die Frage nach den Gründen für die Hasswelle, die Ausdruck einer "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" sind, untersucht u. A. das Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Hassmails, Beleidigungen und Einschüchterungsversuche sind nur die Spitze des Eisbergs. Und die Hasswelle fällt auch nicht vom Himmel:
[...]Ökonomische Umverteilungen von unten nach oben, Entfernungen aus dem öffentlichen „Verkaufsraum“, Generalverdächtigungen gegenüber Lebensstilen oder religiösen Überzeugungen ganzer Gruppen sind nur einige Varianten. Zum Teil werden Gruppen gegen andere instrumentalisiert oder als Bedrohungspotential auf die öffentliche Tagesordnung gehoben. Eine andere Variante ist, die Situation schwacher Gruppen gar nicht erst zu thematisieren, sie also aus der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion auszuschließen, zu vergessen; mithin sie nicht anzuerkennen, um nicht über Verbesserungen ihrer Lage nachdenken zu müssen. Klammheimlich kann dazu auch die „Schuldumkehr“ eingesetzt werden, womit die Ursachen für Abwertungen – quasi gesellschaftsentlastend – den Gruppen selbst zugeschrieben werden. [...]
Was muss "man" tun, um Hassmails auf sich zu ziehen?
Ich habe im Laufe der Jahre einige Hassmails bekommen, nicht viele, vielleicht ein oder zwei pro Jahr.
Das erste Mal, dass ich Hassmails erhielt, und zwar in nennenswerten Mengen, war vor gut 10 Jahren. Der Grund war, dass ich eine rechts-esoterische Gruppierung - konkret: die Armanen - in einem Online-Artikel offensichtlich geärgert hatte. Das ist nur scheinbar ein völlig anderer Mechanismus als die diffusen Projektionen, die z. B. hinter antisemitischen oder rassistischen Hassmails stecken.
Tatsächlich ging es gar nicht um mich persönlich oder gar um konkrete Punkte in meinem Artikel - das ergab sich aus den Formulierungen der Mails. Aus ihnen sprach einfach diffuser Hass auf "linke Zecken", "Volkstums-Verräter", "Inquisitoren" und "Antifanten", kurz, die Gruppen, denen diese Armanen und Armanen-Fans die "Schuld" dafür geben, dass sie, anders als noch in den 1990er-Jahren, kaum noch Einfluss auf die "Heidenszene" haben. Ich hatte mich exponiert - und wurde zum "Blitzableiter" einer diffusen Abneigung. Allerdings hatte ich den Armanen auch etwas getan.
Interessant ist, dass die Hassmails irgendwann aufhörten, ohne dass ich meine Mailadresse geändert hätte, und auch ohne, dass ich damit aufgehört hätte, rechte Esoteriker und Neuheiden mit braunstichiger Weltanschauung öffentlich zu kritisieren.
Wahrscheinlich hatten die Trolle einen anderen als "Blitzableiter" gefunden, der diffusen Hass auf sich zog.

Die meisten Hassmails treffen aber jene, die nur durch das, was sie sind oder für das, wofür sie gehalten werden, zur Projektionsfläche werden: rassistische, antisemtische, antiislamische, schwulenfeindliche usw. Mails.

Auf den ersten Blick bizarr mutet es an, dass auch ich, als Nichtjude, antisemitische Hassmails erhielt. Nicht oft, genau zwei Mal in rund zehn Jahren, aber klar antisemitisch.
Sicher würde ich viel mehr antisemitsche Hassmails bekommen, wenn ich Jude und irgendwie "wichtig" wäre.
Den Grund vermute ich darin, dass Antisemitismus ein zentraler, identitätsstiftender Punkt in der Weltanschauung neofaschistischer und völkischer Gruppen ist. So unterschiedlich die Rechtsextremisten auch sein mögen, auf das Feindbild Jude können sie sich alle verständigen - auch wenn der jeweilige Antisemitismus durchaus unterschiedliche Formen annehmen kann. Antisemitismus gehört zum Kitt, der "neurechte" Salonfaschisten, eher spießige NDPler, gewaltverliebte Nazis-Boneheads, ebenso gewaltverliebte, aber einen anderen Stil und Lebensstil praktizierende "autonome Rechte", "ökofaschistische" Artamanen, rechte Esoteriker usw. zusammenhält. Judenhass ist also wichtig für die "rechtsextreme Szene".
Ein typisches Merkmal ideologisch denkender (bzw. eher nicht-denkender) Menschen ist die Feindbildvereinheitlichung. Daher steckt für Nazis hinter allen ihren Gegnern "der Jude" - die historischen Nazis sahen bekanntliche Juden als "Drahtzieher" sowohl der Wallstreet wie des (damals sowjetischen) Kremls und wähnten "Finanzkapitalisten" und Bolschewisten insgeheim unter einer Decke.
Damit ist auch klar, wieso Nichtjuden aus dieser Ecke antisemitische Hassbekundungen abbekommen können: Wer entschieden gegen sie ist, kann doch nur ein Jude oder wenigstens "Jude im Geiste" sein!
Rayson (Gast) - 6. Feb, 20:10

Die Sache ist komplex...

"Es sind in der Regel nicht die harten Nazischläger, die Hassmails schicken - die schicken, wenn überhaupt, eher ernst gemeinte und ernst zu nehmende Drohungen."

Da - und beim direkt Nachfolgenden - stimme ich dir zu. Die Leute, die solche Mails schreiben, haben meist nichts anderes. Noch nicht einmal Freunde für gemeinsame Aufmärsche. Im Grunde sind es arme Schweine, die der Hilfe bedürften.

Antisemtismus hat eben viele Facetten. Dadurch, dass sie einen gemeinsamen Oberbegriff haben (oder mit "Fremdenhass" noch einen oben drüber), neigt man zu oft dazu, sie in einen Topf zu werfen. Da sind am einen Ende diejenigen, die vielleicht mal in hitziger Diskussion oder bei einer Befragung antisemitische Klischees offenbaren, bei denen das Thema aber ansonsten keine wichtige Rolle spielt (kommt z.B. auch am Rande der Occupy-Bewegung so hoch). Und am anderen eben die, bei denen es das beherrschende Thema ist und die dabei auch noch mehr oder weniger gewaltsame Maßnahmen propagieren (obwohl hierzulande das Maximum an Outing wohl in der Holocaust-Leugnung, nicht aber -Propagierung besteht). Und natürlich ist es für manche auch allzu bequem, ihre Parteinahme für die Palästinenser im Nahost-Konflikt mit antisemitischen Klischees zu "untermauern".

Und natürlich halte ich die Ursachenbeschreibung des Heitmeyerschen Instituts selbst für klischeehaft...

Was also tun gegen Hassmails? Bei den meisten ist simples Löschen die beste Alternative. Wenn es in Stalking ausartet (es soll ja schon Anrufe bei Arbeitgebern und so gegeben haben...), sollte man aber die Polizei einschalten.

MMarheinecke - 7. Feb, 08:42

Die Frage nach den Ursachen

20% der Deutschen sollen nach einer neuen Studie latent antisemitisch sein. Ich fürchte, dass es noch mehr sein könnten.
Ich wäre nicht erstaunt, aber erschrocken, wenn sich herausstellen würde, dass 80 % aller Deutschen latent rassistisch sind.

Es kommt, denke ich, darauf an, gegen dieses Denken, und gegen antisemitische, rassistische, schwulenfeindliche, antiislamische usw. Ideologien zu kämpfen. Denn es ist sicher kein Zufall, dass Menschen, die eine Form der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" z. B. Antisemtismus ausweisen, auch zu anderen Formen des Hasses auf Menschen, die sie nicht kennen, und die sie als "anders" empfinden, neigen.
Ich kämpfe aber nicht gegen Menschen, die ihren diffusen Hass mit antisemitischen Klischees anreichern. Wobei ich kein Mitleid und auch kein Verständnis mit Leuten habe, die Menschen, die sie nicht mal kennen, beleidigen. Sie haben auch keine Gründe, die das irgendwie rechtfertigen könnte. Aber es gibt Ursachen. Diese Ursachen gilt es zu bekämpfen.
Was starke Veränderungen der Alltagskultur erforderlich machen dürfte.

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