Zeugenpflicht, sich quälen zu lassen, demnächst Gesetz?

Es wird zwar gern von Krimi-Autoren und von besonders diensteifrigen Kripo-Beamten vergessen und ist eher wenig bekannt: Bisher galt in Deutschland das Prinzip, dass kein Zeuge verpflichtet ist, bei einem Polizeibeamten eine Aussage zu machen. Nur eine Ladung als Zeuge durch die Staatsanwaltschaft oder den Ermittlungsrichter ist verpflichtend.
Udo Vetter grub im Law Blog ein tief im Koalitionsvertrag vergrabenes, tiefgreifendes Reformvorhaben aus:
Von der Polizeiwache in die Ordnungshaft.

Ziemlich weit hinten, zwischen Änderungen im Wiederaufnahmerecht und der Reform des Transsexuellenrechts, steht folgender Satz:
Wir werden eine gesetzliche Verpflichtung schaffen, wonach Zeugen im Ermittlungsverfahren nicht nur vor dem Richter und dem Staatsanwalt, sondern auch vor der Polizei erscheinen und – unbeschadet gesetzlicher Zeugenrechte – zur Sache aussagen müssen.
Damit wäre wieder ein Stück aus üblen historischen Erfahrungen geborenes Stück Rechtsstaat abgebaut. Ein schwacher Trost: sollte die Koalition tatsächlich planen, dass eine Ordnungshaft von der Polizei angeordnet werden könne, wäre eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich - und dafür fehlt die nötige 2/3-Mehrheit.

Vetter schreibt, dass Polizeibeamte gegenüber Zeugen praktisch keinerlei Rechte haben, sei weitgehend unbekannt. Insbesondere auch unter Polizeibeamten.

Hätte ich über meine Rechte besser Bescheid gewusst, und wäre ich etwas selbstbewusster gewesen, wäre mit vor gut 12 Jahren eine sehr unangenehme Nacht erspart geblieben. Ich - und mit mir etwa zehn weiteren Zeugen - hatten einen S-Bahn-Suizid mitbekommen. Keine schöne Sache, um es vorsichtig auszudrücken. Obwohl ich "im entscheidenden Moment" nicht hinsah, vermute ich, dass es kein angenehmer Tod war, denn nach Lage der Dinge wurde der Mann von den Rädern eines noch langsam fahrenden anfahrenden S-Bahn-Triebwagens in drei Teile zerquetscht.
Die Polizei ging davon aus, dass der Mann, der vor der anfahrenden S-Bahn gelandet und zerquetscht worden war, eventuell gestoßen worden sein könnte - das Video der Überwachungskamera hätte das nahegelegt. Also Mordverdacht. Dringende Ermittlung. Angeblich keine Zeit, auf Zeugenvorladungen von der Staatsanwaltschaft zu warten. Tatsächlich wurden wir Zeugen vor der Vernehmung getrennt, damit wir uns nicht etwa absprechen würden.

Die Polizisten reagierten übrigens ausgesprochen sauer auf meine - wahrheitsgemäße - Aussage, ich hätte, als ich den Mann springen sah und ich nichts tun konnte, einfach weggesehen. Denn die KriPo-Beamten machte mir klar, dass sie von mir klare Angaben erwarteten: "Verstehen Sie nicht, es geht hier wahrscheinlich um die Aufklärung eines selten brutalen Mordes. Sie wissen, dass Sie sich mit einer absichtlichen Falschaussage strafbar machen?"
Ich bin nun mal kein Held, der geistesgegenwärtig die entscheidenden Beobachtungen macht. Aber auch leider zu sehr gut abgerichteter deutscher Untertan, um mutig und selbstbewusst zu sagen: "Sie kriegen meine Personalien, das dürfen Sie, ansonsten warte ich auf die Vorladung vom Staatsanwalt - und will endlich nach Hause, auf den Schrecken einen Cognac trinken und dann drüber schlafen." Vielleicht noch: "Der Stress hier ist Gift für meine Nerven."
Das unprofessionelle Verhalten der Polizisten ist dadurch erklärbar, dass die Beamten selbst hochgradig erregt waren und unter einem erheblichen Aufklärungsdruck standen. Menschlich vielleicht verständlich. Aber ebenso wichtig ist, dass ohnehin traumatisierte Zeugen nicht gequält werden dürfen.
Nach Lage der Dinge habe ich wenigstens nachträglich Beschwerde wegen der rechtswidrigen und demütigenden Behandlung eingelegt.
Eines ist klar: sollte ich noch einmal Zeuge eines Suizides, eines Verbrechens oder eines schweren Unfalls werden, mache ich unter solchen schikanösen Umständen keine Aussage. Selbst dann nicht, wenn ich - so wie es leider aussieht - künftig dazu verpflichtet wäre.
Deshalb sehe ich der im Koalitionsvertrag vorgesehene gesetzliche Regelung mit einen sehr üblen Geschmack im Mund entgegen.

Nachtrag: Ich nehme an, dass die Polizei damals den Verdacht hatte, dass unter den Zeugen Komplizen eines möglichen Täters sein könnten. Zu wenig für einen dringenden Tatverdacht, aber genug für eine gehörige Portion Misstrauen, die wir Zeugen dann auch heftig zu spüren bekamen. Das es tatsächlich Suizid und kein Tötungsdelikt war, wurde mir später auf Anfrage bestätigt. Außerdem hätte ein Mord in der Zeitung gestanden - über Bahnsuzide - DB-Code: "Personenunfall" - wird nicht berichtet.

Trackback URL:
https://martinm.twoday.net/STORIES/6011123/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6712 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren