Hanseatische Kirchturmpolitik

Ich schließe mich locker an einen Beitrag an, den Che2001 vor einigen Wochen schrieb: Die Sonderrenaissance
Darin heißt es, unter anderem:
In Deutschland hielt sich der gotische Stil länger als in Frankreich oder Italien, dafür prägten sich hier Sondergotiken aus, die eigentlich mit Materialmangel zu tun hatten: Die Backsteingotik, die von den Niederlanden bis Estland die Küstenstädte von Nord- und Ostsee mit ziegelroten Kathedralen verzierte, und die Reduktionsgotik in Bayern und Baden-Württemberg mit ihren Hallenkirchen.
Ein besonders imposantes Ensemble mächtiger backsteingotischer Kirchtürme ist die "Stadtkrone" der "König der Hanse" - die Sieben Türme Lübecks. Es sind die Türme der fünf lübischen Hauptkirchen: St. Jakobi, St. Marien (Doppelturm), St. Petri, St. Aegidien und der Lübecker Dom (Doppelturm).
Luebeck-1641-Merian Stadtansicht Lübecks aus dem Jahre 1641, Kupferstich aus der Werkstatt Merian.

Tatsächlich spiegeln sich sowohl die norddeutsche Mentalität wie die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse der Hansestädte in der Backsteingotik wieder. Che schrob:
Auch vor der Reformation stand der Roland mit Schwert und Schild auf dem Markt, um die Kirche in ihre Schranken zu weisen. Herzöge, Handwerkszünfte und Kaufmannsgilden, nicht geistliche Herren waren groß zwischen Ems, Oder, Küste und Harz.
Folglich war schon der Reformation ein wichtiger Faktor beim Bau vieler Kirchen das bürgerliche Repräsentationsbedürfnis. Ganz besonders deutlich wird das bei der 1350 vollendeten Lübecker Marienkirche. Ihr Hauptschiff ist das höchste Backsteingewölbe der Welt (38,5 Meter im Mittelschiff), ihre Türme sind 124,95 Meter und 124,75 Meter hoch - damit waren sie bis zur Vollendung des Kölner Doms 1880 die höchste Doppelturmfassade der Erde.

Vorgängerbau war eine 1156 geweihte romanische Backsteinkirche. Mit dem Aufstieg Lübecks zur wirtschaftlichen Metropole des westlichen Ostseeraums genügte diese eher bescheidene Kirche den Ansprüchen des selbstbewussten, wirtschaftlich stark aufstrebenden Bürgertums nicht mehr.
Der Ansporn für den gewaltigen backsteingotischen Neubau lag in der erbitterten Auseinandersetzung zwischen dem Rat der Stadt Lübeck und dem Bistum Lübeck. Die Marienkirche sollte ein Denkmal des Reichtums der Fernkaufleute und der politischen Macht der seit 1226 reichsfreien Stadt sein und den romanischen Lübecker Dom buchstäblich in den Schatten stellen. (Selbst der später errichtete, ebenfalls backsteingotische, heutige Lübecker Dom ist kleiner als die Marienkirche.) Für den Bau der Marienkirche musste architektonisches Neuland begangen werden, denn zuvor hatte man keine Kirche aus Backstein so hoch gebaut und mit einem Gewölbe versehen. Ein System aus Stützen lenkt die Schubkräfte des Gewölbes nach außen über ein Strebewerk ab und ermöglicht so die enorme Höhe.
Lübeck als einst reichste und einflussreichste Stadt der Hanse hat eine besonders imposanteste Silhouette, allerdings erkennt man auch heute viele ehemals reiche Kaufmannstädte des Nordens an ihren "Stadtkronen", den vier-, fünf-, sieben oder noch mehr hohen Türmen auf dem engen Raum der Innenstädte.

Die Türme der Marienkirche waren bei weitem nicht die höchsten Kirchtürme, die die reichen Bürger nordeuropäischer Handelsmetropolen errichten ließen. Der höchste backsteingotische Kirchturm, der je errichtet wurde, war der um 1500 in Reval (heute Tallinn) in Estland vollendete 158 m hohe Turm der Olafskirche. Nachdem 1549 der mit fast 160 m ein klein wenig höhere Turm der Kathedrale von Lincoln eingestürzt war, war er, bis er 1625 durch einen Blitzschlag in Brand geriet, das höchste Gebäude der Welt. Der neue Turm war mit 123,7 m zwar viel kleiner, aber immer noch imposant.
Ab 1625 war dann der bisher zweithöchste backsteingotische Kirchturm, der 1485 errichtete Turm der Marienkirche von Stralsund mit 151 m Höhe höchstes Bauwerk der Erde. Der gotische Spitzhelm, Kupferplatten auf einem Holzgerüst, wurde 1647 ebenfalls durch Blitzschlag zerstört und 1708 durch eine Barockhaube ersetzt, die dem Turm die heutige Höhe von 104 m gibt.
Es ist kein Zufall, dass die höchsten Türme der Backsteingotik in Hafenstädten standen, denn das "Know How" zum Bau großer und stabiler Holzkonstruktionen stammt aus dem Schiffbau.

Aber auch nach der Reformation endete nicht die Epoche der "hanseatischen Kirchturmpolitik". Nach dem Niedergang der Städtehanse und den Aufschwung des Überseehandels wurde die "Schwesterstadt" Lübecks, Hamburg, im 16. und 17. Jahrhundert die reichste Stadt des norddeutschen Raums. In Hamburg wurde 1516 der 132 m hohen Turm der Petrikirche vollendet, einer der höchsten und letzten "rein" backsteingotischen Türme. Der mit 153 m noch höhere Turm von St. Nikolai in Hamburg, vollendet 1517, hatte schon einige Renaissance-Merkmale. 1589 brannte dieser Turm ab.
Nun wurden Hamburg die höchsten Barockkirchtürme der Erde errichtet. Die Technik war im wesentlichen die Selbe wie bei den älteren gotischen Bauten - massive Untertürme aus Backstein, auf denen hohe kupferbekleidete hölzerne Turmhelme errichtet wurde. Damit waren die Barocktürme aber genau so feuergefährdet wie die die Türme der Backsteingotik. Der erste dieser Türme, der neu errichtete Turm der Nikolaikirche, stürzte 1644 allerdings nach einem starken Sturm ein. Der nächste Turm der Nikolaikirche war "nur" 122 Meter hoch, aber galt mit seinen charakteristischen Kuppeln als Wahrzeichen der Stadt und besonderer Schmuck ihrer Silhouette. Am 6. August 1767 wurde der Turm durch einen Blitzschlag schwer beschädigt, aber wieder aufgebaut.
Der 1687 errichtet barocke Turm der St. Micheliskirche, der fünften
Hauptkirche Hamburgs, wurde am 10. März 1750 durch Blitzschlag zerstört. Der Neubau, die kurz "Michel" genannten größte Kirche Hamburgs, wurde 1786 vollendet, ihr Turm war (und blieb) mit 132 m der höchste barocke Kirchturm der Erde.
HH-Kirchtürme
Hamburger Innenstadt, von der Elbe aus gesehen. Zu sehen sind gleich vier der höchsten Kirchtürme der Welt.

Wie in Lübeck gab es in Hamburg Spannungen zwischen der bürgerlichen Regierung und dem bischöflichen Domherren, und anders als in Lübeck hielt der Konflikt auch nach der Reformation an. Der mächtige backsteingotische Dom bildete nämlich seit dem Bremer Vergleich von 1561 eine Enklave in Hamburg, die auswärtigen Mächten unterstand. Solange das bis 1648 der lutherische Erzbischof-Administrator von Bremen war, waren die Spannungen noch überbrückbar. Seit dem Westfälischen Frieden ging der Dom, wie das Erzstift Bremen, zuerst an Schweden über, 1715 an das Kurfürstentum Hannover. Damit gehörte der Dom "fremden Herren" und wurde vom Senat der stolzen Freien und Hansestadt als "Stachel im Fleisch" gesehen. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 wurde der Hamburger Dom säkularisiert und fiel damit an die Stadt Hamburg. Der Abbruch ab 1806 wurde offiziell mit den enormem Kosten für Unterhalt und Renovierung des vernachlässigten Gebäudes und dem Hinweis auf die unbedeutend kleine Domgemeinde begründet. Wie bis heute in der "Freien und Abrissstadt" leider allzu oft üblich, bestand an der kunstgeschichtlichen Bedeutung des abgerissenen Gebäudes kein Interesse. Allerdings konnte ein großer Teil der kostbaren Ausstattung gerettet werden. Damit fehlte der Hamburger "Stadtkrone" ein markanter "Zacken ".

Im Mai 1842 zerstörte der "Große Brand" weite Teile der Hamburger Altstadt - darunter auch die Nikolaikirche und die Petrikirche. Während St. Petri bis 1878 weitgehend originalgetreu wiederaufgebaut wurde, wurde St. Nikolai bis 1874 als neugotischer Sandsteinbau völlig neu errichtet. Der vom britischen Architekten George Gilbert Scott in einem an die englische Gotik angelehnte Stil entworfene Neubau bekam den damals höchsten Kirchturm der Erde - mit 147,3 m war er bis zur Vollendung des (eisernen) Turms der Kathedrale von Rouen 1877 das höchste Gebäude der Welt.

Als höchste Erhebung der Stadt diente der Turm der Nikolaikirche den Piloten der alliierten Luftwaffen als Ziel- und Orientierungspunkt bei allen Luftangriffen auf Hamburg. Am 28. Juli 1943 wurde die Kirche durch Fliegerbomben schwer beschädigt. Das Dach stürzte ein, wodurch das Innere des Kirchenschiffs schwere Schäden erlitt. Die Wände waren ebenfalls betroffen und bekamen Risse, blieben aber weitgehend stehen; ebenso der Turm.
Es stimmt also nicht ganz, dass die Hamburger Nikolaikirche im Krieg zerstört worden sei. Die ähnlich stark beschädigte St. Katharienkirche einige hundert Meter weiter wurde wiederaufgebaut, die Nikolaikirche war weitaus wenige zerstört als z. B. die Dresdner Frauenkirche. Die tragende Struktur der neugotischen Konstruktion war im Krieg weitgehend intakt geblieben und die Bausubstanz war allgemein in einem Zustand, der einen Wiederaufbau realistisch erscheinen ließ. Dennoch entschloss man sich, das Kirchenschiff abzureißen und nur den Turm stehenzulassen. 1951 wurde das Kirchenschiff abgebrochen, die Trümmer wurden zum Teil zur Uferbefestigung an der Unterelbe (!) benutzt. Es gab zwar Protest, der aber verhallte. Wie ich vermute nicht nur, weil in der Zeit des Wiederaufbaus die Prioritäten natürlich anders gesetzt wurden als in "normalen" Zeiten. Ein Grund für das Verhallen: Die "neue" Nikolaikirche galt, anders als etwa der Michel oder die Katharinenkirche, nicht als "Wahrzeichen" der Stadt. Ein anderer war die Verachtung vieler damals maßgeblicher Architekten und Kunsthistoriker für den "Nachahmerstil" der Neugotik. Psychologisch war es, das vermute ich nach einige Gesprächen mit alten Hamburgern, sicherlich auch bedeutsam, dass der Turm dieser "Unglückskirche" "den englischen Bombern den Weg gewiesen" hätte.
Sebastian (Gast) - 26. Sep, 14:07

Danke....

...diese Geschichten über Hamburg sind für einen küstenfernen Menschen wie mich immer sehr interessant zu lesen :D
Bei meinen (wenigen) Besuchen in der Stadt habe ich St. Nikolai bisher leider nicht zu Gesicht bekommen, auf Bildern sieht der Turm aber wie eine perfekte Kulisse für einen postapokalyptischen Film aus... wenn nicht Hamburg drumherum stünde.

MMarheinecke - 26. Sep, 14:51

Dafür nich'

Zumal die Geschichte (der Backsteingotik und der repräsentativen Riesenkirchtürme) ja in Lübeck beginnt. ;-)

Ja, der absichtlich außen nicht renovierte Turm der Nikolaikirche sieht tatsächlich postapokalyptisch aus - weshalb er auch ein psychologisch wirksames Mahnmal gegen den Bombenkrieg ist. Man kann ihn sich ohne viel Fantasie in der ausgebrannten Ruinenlandschaft, die die Hamburger Innenstadt nach dem Krieg vorstellten.
In der Krypta gibt es eine Gedenkstätte, die nicht nur auf die Zerstörung sehr großer Teile Hamburg in der "Operation Gomorrha" erinnert, sondern auch an die Vorgeschichte der nazideutschen Aufrüstung, des Vernichtungkrieges (der der 2. Weltkrieg von der ersten Sekunde an war), der entscheidenden Bedeutung Hamburgs als Rüstungs- und Logistikzentrum, an die "Vernichtung durch Arbeit" im KZ Neuengamme und dem Einsatz von Sklavenarbeitern in Rüstungsbetrieben, aber auch der überwältigenden Unterstützung, die das Massenmordregime der Nazi auch nach den Verheerungen 1000-Bomber-Angriffen genoss. "Operation Gomorrha" war, so fragwürdig und zynisch einzelne Aspekte der Einsatzplanung auch gewesen sein mögen, ethisch gerechtfertigt.
Die Gedenkstätte erinnert auch an die Verdrängung nach dem Krieg. Auch wenn ich beim weitgehenden Abriss im Jahre 1951 der noch reparablen Kirche weniger an "Verdrängung" (der Nazizeit, des Krieges), als an extremes "kaufmännisches" Nützlichkeitsdenken und Gleichgültigkeit gegenüber Kultur und Geschichte denken muss. An die Mentalität weniger der Täter, sondern der Opportunisten, der Mitmacher und Jasager. An die "Unfähigkeit zur Trauern", gelegentlich durch Sentimentalität und Selbstmitleid überdeckt.

Zum "post-apokalyptischen" Eindruck trägt auch die Architektur des Turmes bei. Es ist eben englische Neogotik, ein Entwurf Sir George Gilbert Scott, buchstäblich "Gothik"-Architektur, von einer gewissen Lust am Unheimlich-Geheimnisvollen geprägt. Schon vor dem Krieg sah der Turm skeletthaft-düster-dräuend aus. Englische Neogotik, weil der konkurrierende Entwurf des "einheimischen" Architekten Gottfried Semper, der einen Kuppelbau vorsah, nicht in Stadtbild gepasst hätte, und weil die Hamburger Oberschicht ohnehin stark englisch gesonnen war.
Vielleicht war St. Nikolai auch wegen ihre unheimlichen Anmutung beim "einfachen Volk" eher unbeliebt. (Das sie ein englischer Entwurf war, wussten und wissen die wenigsten Hamburger.)

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