Fremde alte Welten: die Wikinger

Wie schon Fremde alte Welten: Das antike Griechenland beginnt dieser Beitrag in einer trauten Runde von Science-Fiction-Fans und -Schaffenden, am Abend nach einem Science Fiction-Con, in diesem Falle dem "4. Hamburger Zellaktivator-Con". "Con" könnte für "congregation", was man schlicht mit "Versammlung" übersetzen kann, oder für "congress" - Kongress, wer hätte es gedacht - stehen. (Oder für "convention" - danke, Karsten, diese gängige Deutung hatte ich glatt vergessen!) So genau weiß das keiner mehr, und ob es "der" oder "die" Con heißt, kann man sich trefflich streiten, aber es ist letzten Endes egal ... )
Dieses Mal war die Runde kleiner - wir saßen bei Rotwein an der ansonsten schon verwaisten Bar des Eidelstedter Bürgerhauses, im Westen Hamburgs.
Zu unserer Runde gehörte Uwe Anton, SF-Autor (unter anderem bei "Perry Rhodan") und Übersetzer. Da mit Heiko Langhans ein weiterer Übersetzer anwesend war, drehte sich das Gespräch zeitweilig um, na klar, Übersetzungen. Uwe Anton hatte unter anderem die Romantrilogie "The Last Viking" von Poul Anderson übersetzt (deutscher Titel - man ahnt es schon - "Der letzte Wikinger"). Ich kannte die Trilogie und fragte Uwe, wieso die Romane vom Ullstein-Verlag als "Fantasy" vermarktet würden, denn Anderson hält sich genau an die Lebensgeschichte des Warägers und späteren Königs von Norwegen, Harald Hardrade, und beachtet sorgsam die bekannten historischen Tatsachen - weitaus genauer als die meisten historischen Romane, die ich kenne.
Uwe antwortete (darin unterstützt von Heiko), dass "The Last Viking" von magischem Denken geprägt sei, bzw. dass die Protagonisten Magie praktizieren würden. Das sei ein eindeutiges Merkmal von Fantasy.
Meinen Einwand, dass Poul Anderson nur die damals übliche Weltsicht getreulich wiedergegeben hätte, ließen die beiden nicht gelten.

Obwohl sie uns zeitlich näher steht als die Welt der alten Griechen, ist die Welt der Nordeuropäer des frühen Mittelalters für uns nicht weniger fremdartig.
Es ist nichts Neues, dass die meisten historischen Romane die zur Zeit ihrer Entstehung moderne Vorstellungen in vergangenen Zeiten projektieren. Nach der Theorie, dass der Grad an Fremdartigkeit, den ein durchschnittlicher Leser bei einem Unterhaltungsstoff akzeptiert, eher gering ist, müsste ein sehr genau recherchierter und auch die sozialen und religiösen Verhältnisse seiner Handlungszeit wiedergebender Roman weniger erfolgreich sein, als ein Roman, in dem salopp gesprochen, kostümierte Menschen der unserer Gegenwart auftreten.
Tatsächlich gibt es einen Roman, der wie "Der letzte Wikinger" in der ersten Hälfte des 11.Jahrhunderts handelt, der sozusagen das Muster eines auf das heutige Denken abgestimmten (pseudo-)historischen Romans ist: Noah Gordons "Der Medicus". Gordons lässt einen europäischen Heiler in Isfahan in der Schule des berühmten persisches Arztes Abu ʾAli Sina (Avicenna) studieren, um das vor-aufgeklärte Europa mit der hochzivilisierten islamischen Welt des Mittelalters zu konfrontieren.Allerdings handelt der Roman in einer "mittelalterliche" Fantasiewelt, die mit dem realhistorischen 11. Jahrhundert nicht viel gemein hat. Der Roman enthält viele Anachronismen, z. B. gab es im damaligen England keine Hexenverfolgungen, es werden Länder bereist, die es erst viel später gab, wie Bulgarien oder die Türkei, und auch seine Beschreibung Isfahans ist anachronistisch. Außerdem bagatellisiert er die großen kulturellen Unterschiede zwischen Persern und Arabern. "Der Medicus" bedient äußerst wirksam landläufige moderne Klischees, was neben der "anti-eurozentrischen" Aussage und der pseudo-dokumentatorischen Detailfülle entscheidend zum Erfolg des Romans beitrug.

Aber zurück in die "Wikingerzeit". Wobei "Wikinger" ja einen "Beruf" und nicht etwa eine Volkszugehörigkeit beschreibt: „die Wiking“ war eine „lange Seereise“. Auf „die Wiking gehen“ hieß soviel wie sich auf Handelsreise / Raubzug / Kriegsfahrt / Forschungsexpedition begeben - die Übergänge waren fließend. Ein „Wikinger“ war gewissermaßen (um es mit „Hägar dem Schrecklichen" zu sagen) ein „Geschäftsreisender“. Aus sprachlicher Bequemlichkeit behalten wir diesen Begriff für die nordgermanische Gesamtbevölkerung bei. Auch Begriffe wie "Normannen" oder "Waräger" sind nur bedingt brauchbar.

Darüber, was in den Köpfen der "Wikinger" ablief, kann, weil die schriftlichen Quellen spärlich und, wie die in Klostern entstandene Chronikliteratur, oft hochgradig tendenziös ist, sehr viel weniger gesichert gesagt werden, als z. B. von den Griechen der "klassischen" Zeit. Was zu allen möglichen Projektionen führte: auf der einen Seite das Bild der kulturfernen, brutalen, zivilisationsunfähigen, streitsüchtigen und rücksichtslosen Barbaren (noch im Jahr 2000 im "Spiegel" thematisiert), auf der anderen die opferbereiten, bis in den Tod gefolgschaftstreuen, von der dekadenten städtischen Zivilisation unberührten, sich kühn mit dem Recht des Stärkeren nehmenden, keinem mannhaften Kampf aus dem Wege gehenden nordischen Recken. Wobei das negativ gemeinte Klischee von den saufenden und raufenden barbarischen Plünderern und das positiv gemeinte von den urwüchsigen harten, aber geraden, nordischen "edlen Wilden" im Grunde auf den selben Klischees beruht. So schief das Bild von "Kulturzerstörenden Wikinger auch ist, es ist auch hoffnungslos übertrieben, die "Wikinger" zu "Kulturbringern" zu stilisieren, wie das z. B. schwedische Nationalromantiker und deutsche Nazis gerne taten. Die ebenfalls etwas verkürzte, aber historisch berechtigte, Feststellung, dass die parlamentarische Demokratie eine Errungenschaft der "Wikinger" sei, und das straffe Hierarchie zur Wikingerzeit schwerlich funktioniert hätten, erfreut sich (zumindest in Deutschland) keiner großen Anhängerschaft.

Eine wichtige Frage - nämlich die nach der Religion der Germanen, einschließlich der Nordgermanen, vor der Christianisierung habe ich bereits an andere Stelle ausführlich beantwortet: Die "alten Germanen" hatten keine Religion. Nur soviel in Kürze: es gab keine heiligen Bücher, keine göttlichen Offenbarungen, die nur auserwählten Propheten (und sonst niemandem) zuteil werden, keine "unfehlbaren" Religionsführer, keinen Priesterstand (Goden waren keine Priester im antiken, geschweige denn christlichem Sinne), keine verbindliche Glaubensvorschriften. Was auch der Grund war, weshalb Jesus relativ mühelos in die Götterwelt vieler wikingerzeitlicher Nordeuropäer integriert werden konnte - ohne das die "Christusverehrer" damit auch schon Christen geworden wären. Die Grenze zwischen "Heidentum" und "Christentum" war offensichtlich recht fließend. Noch im 11. Jahrhundert gab es Gussformen, mit denen je nach Bedarf christliche Kreuze oder Thorshämmer gegossen werden konnten. Bezeichnend ist die Annahme des Christentums durch den Isländischen Althing im Jahre 1000 - übrigens, was gern verschwiegen wird, auf Druck des norwegischen Königs Ólaf Tryggvason, der sich selbst für einen Christen hielt. Nach dem Althingbeschluss durften heidnische Götter zunächst weiter verehrt werden.
Die Missionierung folgte oft politischen Zwecken; das Volk wurde von der "heilsanstaltlichen" Kirchorganisation erfasst, die wiederum eine Machtbasis des sich zentralisierenden Königstums war. Als sich monarchistisch verfasste Staaten in Nordeuropa durchgesetzt hatten, endete die "Wikingerzeit". Auch nachdem sich Königtum und Adel herausgebildet hatten, wurde der "Staat" in Nordeuropa nicht über ein räumliche Territorium definiert (etwa "Dänemark"), sondern über seine Menschen und deren Stellung zum Herrscher (in modernen Begriffen "König der Dänen" statt "König von Dänemark"). Deshalb zog der Tod eines "starken" Königs nicht selten den Zerfall seines Reiches nach sich - Norwegen wurde z. B. mehrmals "geeint" und zerfiel eben so oft wieder in Kleinkönigtümer.

Der immer wieder aufscheinende, vermutlich durch die harten Lebensbedingungen verstärkte, Pragmatismus der "Wikinger" erstreckte sich auch auf das "geistliche" Leben. So heißt es in einem Sagatext, ein Vater hätte sich enttäuscht von Odin abgewandt, nachdem zwei seiner Söhne im Kampf gefallen waren (Odin ist unter vielem Anderen ein Schlachtengott) - er würde nun lieber Thor verehren. Die Anekdote vom Wikinger-Händler, der sich über die schlechte Qualität des Taufhemdes beklagte, denn bei all seinen über 20 vorherigen Taufen hätte er bessere Hemden bekommen, mag von einem christlichen Chronisten, der die "Verstocktheit" und "Doppelzüngigkeit" der Normannen beklagte, erfunden worden sein, aber ohne einen tatsächlich ausgeprägten Pragmatismus, gepaart mit Individualismus und Habgier, ergibt die Anekdote keinen Sinn.

Stichwort "Individualismus". Es wäre falsch, diesen mit dem modernen "Einzelkämpfertum", der Ich-Bezogenheit einer auf permanenten Wettbewerb ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaft gleichzusetzen. Der einzelne Nordgermane war seiner Familie und seiner Sippe verpflichtet, und sie wiederum dem Einzelnen. Der "wikingerzeitliche Individualismus" ist als das Streben zu umschreiben, seine Lebensverhältnisse in die eigenen Hände zu nehmen, sein "Glück zu machen" - (im Unterschied zu Moderne, in dem mir nur nur versprochen wird, ich könnte "es" allein schaffen - wobei ich im Falle des Scheiterns eben "selbst schuld" an meinem Unglück sei). Wichtig ist, dass das Streben nach Glück dem Heil keinen Schaden zufügt. (Wobei das Kapitel Heil einen eigenen Beitrag wert ist - zum Beispiel, allerdings bezogen auf die heutige Zeit, diesen: Heil. - Nur eins: Es ist kein Zustand, den einer für sich allein haben kann. Heil ist verbindlich. Seine Annahme hat immer Konsequenzen. Seine Errichtung bedeutet Arbeit, und ihr Lohn ist nicht immer gewiss. bei den Wikinger so wie heute.)

Mit den Wikingern ist es fast so wie mit dem Ungarn der Zwischenkriegszeit: es war keine Republik, sondern ein Königreich. Aber ohne einen König - Ungarn hatte einen Reichsverweser, Admiral (nicht etwa General, obwohl Ungarn noch nicht einmal Zugang zum Meer hat) Miklós Horthy.
Also: zur Wikingerzeit waren die Familien der Nordgermanen patriarchalisch organisiert. Dass heißt, so patriarchalisch waren die Verhältnisse nicht, die Stellung der Frauen war gemessen an der Verhältnissen im christlichen Europa stark - Frauen konnten Erben, für ihre minderjährigen Söhne herrschen und hatte in Haus und Hof die "Schlüsselgewalt". Es gab drei soziale Klassen, "Edle", Freie und Unfreie, wobei das (noch) keine starren und abgeschotteten "Stände" im Sinne der Feudalordnung waren - es gab noch eine gewisse soziale Mobilität. Alle Versuche, Konstrukte wie "Lehrstand" oder "Nährstand" auf die Wikingerzeit zu projektieren, sind unhistorischer Blödsinn. Zu bestimmten Zeitpunkten fanden die Versammlungen der freien Männer (Thing) statt, bei denen wichtige Entscheidungen besprochen und getroffen wurden, so z. B. die Wahl des Jarls oder des Königs. Das klingt beinahe demokratisch - aber nur auf Island und in geringerem Maße in anderen atlantischen Siedlungsgebieten entstand daraus eine "echte" Demokratie - und zwar eine parlamentarische Demokratie, die praktikabler und stabiler war, als z. B. das athenische Modell. Übrigens war die Macht der Herrscher noch in der frühen Wikingerzeit eingeschränkt - es gab (gewählte) Herzöge bzw. im Norden eher Heerkönige, die den militärischen Oberbefehl innehatten - und wenig mehr. Fast kann man die Geschichte der Wikingerzeit als die Geschichte eine jahrhundertelang andauernden Putsches ansehen, in dem die Könige Nordeuropas von beschränkten Herrschern von Volkes Gnaden zu unanfechtbaren Monarchen von "Gottes Gnaden" aufstiegen.
Die Wikinger galten als mutig - aber selbstmörderisches Heldentum war ihnen fremd. Sie galten als unerbittlich - aber Gastfreundschaft war "Ehrensache". Sie waren Räuber - aber mehr noch gewiefte Händler. Sie besaßen eine Schrift, aber ihre Kultur beruhte auf mündlicher Tradition.
Sie waren höchst widersprüchlich. Was sie eigentlich für ideologischen Missbrauch völlig unbrauchbar machen müsste. Eigentlich.
Karsten (Gast) - 20. Jul, 11:09

Con?

Ich dachte immer, das heißt "Convention".

MMarheinecke - 20. Jul, 11:23

Ja, die Version gibt es auch ...

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