Was die "Piraten" von den "frühen Grünen" unterscheidet

Ich gebe es ja zu: ich bin einer jener heute "alten Säcke", die gern von ihrer politisch wilden Jugend erzählen. Wobei ich zugeben muss, dass ich alles andere als "wild" war. Und entgegen einiger Legenden waren auch die GRÜNEN damals, in den 1980ern, halb so wild. Unter den eher zahmen Grünlingen war ich wohl einer der zahmsten ...

Es gibt viele Parallelen zwischen den 80er-Grünen und den heutigen "Piraten". Spätestens nach dem für viele überraschenden Erfolg der Piratenpartei bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen merken das sogar die sonst in dieser Hinsicht eher verschnarchten etablierten Medien.

Bei allen Gemeinsamkeiten - Basisdemokratie, Herkunft aus einer Protestbewegung, angebliche "ein-Punkte-Partei", die schnell ein Vollparteiprogramm entwickelt, die zeitweilige Gefahr, von "Rechtsaußen" unterwandert zu werden, usw. - und selbstverständlich sind auch die "Piraten" gegen AKWs, für regenerative Energiequellen, für mehr Umweltschutz usw. - fällt mir ein gravierender Unterschied auf.

Nein, ich meine nicht den noch ziemlich geringen Frauenanteil bei den "Piraten". Das ändert sich ja bereits. Ich meine einen grundlegenden strukturellen Unterschied.

Die "Piraten" sind fast durchweg neophil.

Die GRÜNEN waren größtenteils neophob (und sind sich, so viel sich bei den GRÜNEN geändert hat, in dieser Hinsicht treu geblieben).

"Neophil" bedeutet: das "Neue liebend". Das heißt nicht, das Menschen mit neophilen Neigungen immer allem hinterherlaufen, was gerade "neu", "in" oder nur "modisch" sind. Man kann Neophile auch nicht einfach als "fortschrittsgläubig" bezeichnen, und auch "progressiv" trifft es nicht ganz.
Nein, Neophile mögen den Wandel. Sie sind experimentierfreudig, begrüßen im Großen und Ganzen technischen und sozialen Fortschritt - wenn es in ihren Augen wirklich Fortschritt ist. Und sie schwärmen meistens für moderne Technik. Nachtrag: Neophile sind neugierig. Tatsächlich ist Neugier das typische Merkmal der Neophilen.
Natürlich sehen auch die mögliche Gefahren, auch solche, die mit moderner Technik verbunden sind, aber sie sehen sie eher in einem Missbrauch technischer oder organisatorischer Möglichkeiten, als in der Technik selbst.
Es kann aber sein, dass extreme Neophilie in Unrast, und in Lust auf Veränderung der Veränderung willen umkippt. Die Dosis macht das Gift.

"Neophob" bedeutet: das "Neue fürchtend". Das ist nicht unbedingt das selbe wie konservativ. Um den Unterschied zu verdeutlichen: Konservativ wäre eine Aussage wie:
"Die Familie hat sich als Institution und Keimzelle der Gesellschaft bewährt, deshalb wäre es falsch, sie infrage zu stellen, und deshalb sollten Familien unterstützt werden".
Neophob wäre die Aussage:
"Es gibt keine brauchbare Alternative zur Familie, wie sie nun einmal ist. Alle Versuche, die hergebrachte Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kindern durch andere Modelle, von der Patchwork-Familie über die Homo-Ehe mit Adaptionsrecht bis zu 'Kommunen' zu ersetzen, sind gefährlich und daher entschieden abzulehnen. "
Neophobie kann anderseits eine Überlebenstatik sein - es gibt Situtationen, in denen Neugier tödlich sein kann und Angst vor Veränderung Schutz. Auch hier gilt: es ist eine Frage der Dosis. die war und ist bei den GRÜNEN und ihrem Umfeld allerdings schon verdammt hoch.
Ich wähle bewusst das Thema "Familie und Lebenspartnerschaft" als Beispiel, weil die GRÜNEN auf diesem Gebiet gerade nicht neophob sind oder waren.
Extrem neophob waren viele, sehr viele "Altgrüne" auf dem Gebiet der Technik. Geradezu legendär und aus heutiger Sicht lächerlich sind die Ängste, die sich für viele Grüne mit Computern verbanden - nicht nur wegen des möglichem Missbrauchs, nicht nur wegen der Auswirkungen der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV), wie man es damals allgemein nannte, auf den Arbeitsmarkt, sondern an und für sich. Zwar waren auch damals unter den Grünen jene "Extrem-Ökos", die auf mein Eingeständnis, ich hätte mir einen PC gekauft, etwa so reagierten, als hätte ich einen kleinen Kernreaktor im Keller, eher die Ausnahme, aber die Beschlüsse der GAL (Grün-Alternative-Liste in Hamburg), für die Bürgerschaftsfraktion keine Computer nutzen zu wollen, kamen nicht von ungefähr.
Ein Überrest diese Haltung zeigte der Berliner GRÜNEN-Bundestagsabgeordnete Ströbele vor einigen Jahren, als er von Schüler-Reportern gefragt wurde, ob er einen Computer hätte, und er antworte: "Leider ja".
Selbst beim keineswegs technikfeindlichen und im Prinzip sogar computerfreundlichen "ökolinken" Flügel gab es Aussage wie, dass drei Technologien an sich menschenfeindlich und daher kompromisslos abzulehnen seien: Atomtechnologie, Gentechnologie und Raumfahrt.
Besonders bizarr wurde es manchmal, wenn die Rede auf regenerative, oder, wie es damals genannt wurde, alternative Energiequellen kam. Ich erinnere mich lebhaft an eine Diskussion über Photovoltaik, in der mein Gesprächspartner mir "bewies", dass immer mehr Energie für die Produktion der Solarzellen aufgewendet werden müsse, als diese Zellen jemals in ihrer Lebenszeit erzeugen könnten - und zwar "grundsätzlich". Grundlegende Verbesserungen in Wirkungsgrad und Lebensdauer schloss er aus.
Solche "Argumente" gegen Photovoltaik kannte ich sonst nur von glühenden Atomstromfans.
Noch bizarrer, wenn auch nicht in der GRÜNEN-Partei selbst angesiedelt, war eine kleine Broschüre über den Selbstbau von kleinen Windkraftwerken. Seltsam war nur, dass die AutorInnen der Broschüre behaupteten, auf Dinge wie Wirkungsgrad käme es nicht an, das sei das beschränkte Denken von Fachidioten, die nicht in alten Ölfässern (einem der Materialien, aus dem die Eigenbau-Windrotoren bestanden) denken würden. Anders gesagt: es herrschte eine starke Vorliebe für "mittlere Technologie", als Gegensatz zur "undurchschaubaren" Hochtechnologie und "das menschliche Maß übersteigenden" Großtechnik. Manchmal kam es mir so vor, als ob für manche "High-Tech" schon bei einer Fahrrad-Gangschaltung anfing.
Typisch war damals eine Wahlkampf-Aussage wie: "Wir müssen zurück zu einer ökologisch orientierten Wirtschaftsordnung", worauf sich sofort die Frage gestellt hätte, wann und wo es schon mal eine "ökologisch orientierte Wirtschaftsordnung" gegeben hätte, etwa in der Altsteinzeit? Eine ökologische Wirtschaftsordnung auf mehr als Wildbeuterniveau ist etwas noch nie Dagewesenes in der Menschheitsgeschichte. Aber vor so viel Neuem scheinen viele Menschen, vor allem in Deutschland, Angst zu haben.
Aber auch ich stellte die Frage nicht, denn ich wollte zwar nicht zurück zu vormodernen Produktionsweisen, stellte aber die implizite Behauptung, früher, in vorindustriellen Zeiten hätte es nicht nur keine nennenswerte Umweltverschmutzung gegeben, sondern wäre auch das ökologische Bewusstsein ausgeprägter gewesen, nicht in Frage.

Genug der Anekdoten aus der Zeit, als die GRÜNEN noch "grün" waren, und ich zur Minderheit der technikaffinien "Grünlinge" gehörte. Die Neophobie beschränkte sich nämlich nicht nur auf Technik, nur fiel sie da besonders auf. Ich behaupte, auch wenn ich bei den GRÜNEN nur dabei, aber nicht mittendrin war, dass die GRÜNEN damals mehrheitlich in Veränderungen, dem Unbekannten, Gefahren sahen. Politisch äußerte sich das z. B. in der damals weit verbreiteten Ansicht, im Interesse des Friedens müsse der "Ostblock" - die von der UdSSR beherrschten "real-sozialistischen" Teile der Welt - unbedingt erhalten werden, jeder Wandel würde zu Instabilität führen und damit den Krieg unausweichlich machen. Nicht, dass die GRÜNEN damals z. B. die DDR, so wie sie war, für ideal gehalten hätte - sie sollte natürlich unweltfreundlicher und vielleicht sogar demokratischer werden - aber das politische und wirtschaftliche System an sich sollte, des lieben Friedens wegen, nicht angetastet werden.
Diese Haltung war übrigens ein wesentlicher Grund dafür, wieso die GRÜNEN nach der deutschen Vereinigung im "Osten" so schwer Fuß fassen konnten, selbst nach der Fusion mit der Ex-DDR Bürgerrechtsbewegung "Bündnis 90". Die GRÜNEN galten als "Wessipartei", die sie voll und ganz auf "Westinteressen" eingestellt hätte und denen die Probleme "der im Osten" völlig egal wären.

Ich will nicht behaupten, dass die GRÜNEN nicht viel zum Besseren bewegt hätten. Sie war eine Partei, deren Zeit gekommen war, die es einfach geben musste. Sie war mir auch lange Zeit - sogar bis zur zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Koalition, also über Joschka Fischers Zustimmung zur deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg und am Afghanistan-Krieg hinweg - die mit Abstand sympathischste Partei, auch wenn ich kein Mitglied mehr war.

Aber ihre tief sitzenden Neophobie in wichtigen Feldern der Politik machte sie auf die Dauer zur in mancher Hinsicht konservativsten Partei in der deutschen Parteilandschaft. Nicht nur im Sinne von "wertekonservativ" wohlgemerkt, sondern im Sinne von "bürgerlich-konservativ". Oder, wie es Jutta Ditfurth schon vor über 20 Jahren auf ihrer drastische Art ausdrückte: Ökospiesser.

Ich hoffe, dass bei den "Piraten" ihre Neophilie nicht eines Tages ebenso verhängnisvoll werden wird, wie die Neophobie der GRÜNEN.
Gregor Keuschnig - 17. Okt, 13:31

Sehr schöner Aufsatz, der mir tatsächlich in kondensierter Form die Konservatismus der Grünen als "Neophobie" nahegebracht hat.

Ich glaube auch, dass hier der fundamentale programmatische Unterschied zwischen Piraten und Grüne gefunden wurde (ich glaube, man nennt das inzwischen etwas holprig "Markenkern"). Dieser Unterschied läßt meinen bisherigen Befund ins Wanken geraten. Ich dachte, dass die Piraten eine ähnliche Entwicklung im Parteiensystem wie die Grünen nehmen werden.

Bei den Grünen war die Möglichkeit der Regierungspartei nur möglich, weil ihr fundamentalistischer Flügel, der die Systemfrage "neophil" beantwortete, irgendwann vertrieben wurde - und die Partei somit "neophob" wurde. Dies ist bei den Piraten eher nicht zu erwarten. Dann würden sie nur eine EIntagsfliege bleiben bzw. einige ihrer Protagonisten den Marsch in die Institutionen antreten..

Köppnick - 18. Okt, 20:02

Das ist eine interessante Sichtweise. Wohin die Reise bei den Piraten gehen wird, vermag ich derzeit nicht zu sagen, es liegt ja in der Zukunft. Ich vermute aber, dass ihnen eine längere Existenz beschieden sein wird, denn genauso wie damals bei den Grünen langfristig nichts an der Umweltproblematik vorbei führte, so sind jetzt auf längere Sicht Änderungen unserer Haltung bezüglich den klassischen Formen der Demokratie und der Wirtschaft unvermeidbar. Die Grünen können das nicht mehr leisten, denn sie sind tatsächlich jetzt auf eine seltsame Weise bürgerlich und konservativ geworden - nicht, dass ich das verurteile, aber es reicht nicht.

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