Was zusammengehört ... (historische Gedanken zum 1. Mai)

Heute ist die Ansicht weit verbreitet, die Lebensreform, die seit dem später 19. Jahrhundert vor allem in Mittel- und Nordeuropa viele Anhänger hatte, als "bürgerliche Fluchtbewegung" zu betrachten - und in großen geistigen Abstand zur sozialistischen Arbeiterbewegung und den liberalen Sozialreformern zu sehen.

Bekannt ist, dass viele "Lebensreformer" einen starken Hang zur Esoterik theosophischen Machtart hatten. Nicht wenige orientierten sich deutlich in die völkische Richtung. Und es war kein "historischer Betriebsunfall", dass einige prominente Lebensreformer sich später den Nazi anschlossen.

Da überrascht es, wenn ausgerechnet der Jugendstilkünstler und Lebensreformer Hugo Höppener, besser bekannt als "Fidus", bekannt als völkischer Esoteriker, Gründungsmitglied der Germanischen Glaubens Gemeinschaft (GGG) und ab 1932 NSDAP-Mitglied Jahre zuvor für das SPD-Organ "Vorwärts" Titelgraphiken schuf:
Maifeier

oder für die Gründung anarcho-sozialistischer Kommunen warb:
Kommune

Fidus war kein Einzelfall. Wie viele seiner Mit-Lebensreformer reagierte er auf und agitierte gegen eine selbstgefällige, ungerechte, soziale Misstände großzügig "übersehende" bürgerliche Gesellschaft. Tatsächlich gehörten, so schien es, die drei freidenkerischen Traditionslinien - der soziale Liberalismus, die sozialistisch-sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die "grün-alternative" Lebensreform - damals eng zusammen.

Der "Spaltpilz", der Fidus und andere Lebensreformer etwa ab 1910 in schroffen Gegensatz zu den "linken" und "links-liberalen" Sozialreformern brachte, war meiner Ansicht nach ihr Verhältnis zur Moderne. Ihre Anfälligkeit für inhumane Ideologien, dass sie bestimmte Aspekte der "Moderne" nicht nur kritisierten, sondern hassten.("Hass führt auf die dunkle Seite der Macht.") Ihre Kritik an der modernen Industriegesellschaft kippte in eine Gegnerschaft zur Moderne an sich um. Wobei das anti-rationale Weltbild der Theosophie, ihr Antimaterialsmus (alzu leicht verwechselt mit Idealismus) und ihre esoterische Einweihungshierarchie ein wesendtlicher Faktor war. Hinzu kam, dass die Lebensreformer immer detailiertere Utopien schufen und immer utopisch dachten - im Sinne eines "Generalplans für eine perfekte Gesellschaft". Utopisches Denken ist in der Konsequenz immer totalitär.

Eines der wichtigsten Ziele der Nazis war der Kampf gegen "die Moderne" - gegen die politische Moderne: Internationalismus, Liberalismus, Demokratie, Sozialismus - und auch gegen die kulturelle Moderne, vor allem auch gegen moderne Kunst. Obwohl die Nazi-Ideologie gerade für nonkonformistische Künstler und Lebens-Künstler extrem gefährlich war, unterstützten viele Lebensreformer die Nazis und ihre Steigbügelhalter aktiv und begeistert. Dass Künstler wie Emil Nolde sogar jener Partei beitraten, deren Obere seine Bilder wenig später als "entartet" brandmarkten und ihm Malverbot auflegten, dass vormalige Lebensreformer willig in der SS mitmachten, war Spätfolge der esoterischen und antimodernen Ausrichtung der Lebensreform. Sie war innerlich vergiftet, von theosophischer Esoterik, von völkischem Denken, von Industriefeindlichkeit, von Elitedenken, auch von Abneigung gegen den materialistischen Sozialismus - bei gleichzeitigem Anti-Kapitalismus.
Aber der schlimmste Abweg der Lebensreformer war die Ästhetisierung der Politik. Ohne die Ästhetisierung der Politik ist der Faschismus in all seinen Abarten meiner Ansicht nach kaum Verständlich.

Sicher trugen auch die weltanschauliche Entwicklung der liberalen und der sozialistischen Sozialreformer zur Entfremdung und sogar Feindschaft zwischen den drei freidenkerischen Traditionslinien bei. Genannt sei nur der Atheismus und eine oft unkritische Fortschrittsideologie.

Der Weg, der zusammenbringt, was zusammengehört, führt nicht über unkritisches, Gegensätze großzügig unter den "wir wollen doch alle eine menschlichere Gesellschaft" Teppich schiebenden Verbrüderungsdenken. Tatsächlich ist so ein Denken und Handeln gefährlich, denn es schaft Scharniere zwischen autoritären bis diktatorischen, jedenfall anti-emanzipatorischen, Gesellschaftsmodellen. Konkret: der Einstiegsweg für Rechtextremisten.
Deshalb sehe ich den Weg zur Wiedervereinigung der drei freidenkerischen Traditionslinien zu einem neuen Anfang in einem neuen Humanismus. Ein schwieriger Weg, denn es ist nicht einfach, esoterische Heilslehren zu bekämpfen, ohne in einen Anti-Spiritualismus zu verfallen. Aber ich vermute, dass der soziale Liberalismus, die sozialistisch-sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die alternative Lebensreform, genügend humanistische Traditionen gemeinsam haben, um zugleich sinnvoll zusammenarbeiten und in-humane Denkweisen ausschließen zu können.
Es verblüfft mich, wie wenig diese drei Strömungen und ihre jeweils handelnden Personen von ihren eigenen aktuellen wie historischen Verbindungslinien wissen.

Ergänzung, um Mißverständnisse zu vermeiden:
Mit "freidenkerisch" meine ich "im Gegensatz zum religiösen Dogmatismus und zur von Obrigkeiten / Autoritäten verordneten Glaubens- Moral- und Verhaltensregeln stehend". Im Duden ist "freidenkerisch" etwas mißverständlich als "nicht weltanschaulich gebunden" definiert. Ich beziehe sich ausdrücklich nicht auf den atheistischen "Freidenker"-Begriff, wie er z. B. in der DDR gebräuchlich war. Und Kommentare, in denen ich in unflätiger Weise als etwas beschimpft werde, was ich mit Sicherheit nicht bin, werde ich weiterhin sofort löschen.
pil (Gast) - 1. Mai, 08:48

Wieder Mal höchst interessant und anregend. Nur eines stört mich: War der Kampf gegen die Moderne wirklich das Hauptanliegen des Nationalsozialismus? Ich habe da meine Zweifel. Sicher, propagandistisch setzte man voll auf diese Ressentiments.

Doch durch die gesamte nationalsozialistische Politik zieht sich ein ungeheurer Modernisierungswille: Von der Autobahn bis zum wissenschaftlich hochgezüchteten Supermenschen - oder dessen Schattenmann, dem rationell ausgebeuteten "Menschenvieh". Die Nationalsozialisten haben die Moderne nicht bekämpft, sie haben sie auf schreckliche Art auf die Spitze getrieben.

Dass die moderne westliche Gesellschaft die Katastrophe heute den Konservativen, Romantikern und "Ewiggestrigen" überantworten will, hat vielleicht auch mit Verdrängung zu tun. Der Gedanke, dass da Professoren, Ingenieure, Industrielle und pflichtbewusste Staatsdiener am Werk waren, wäre doch zu irritierend. Also waren es durchgeknallte Okkultisten, Verlierertypen, miese Künstler, Spinner. Und mit denen hat man ja nichts zu tun....

MMarheinecke - 1. Mai, 09:37

Reaktionäre Moderne

Gegen die technische bzw. industrielle Moderne hatten die Nazis selbstverständlich nichts - im Gegenteil, sie war für ihre Ziele unentbehrlich. Aber schon mit der wissenschaftlichen Moderne taten sich hochrangige Nazis mitunter schwer, so wurde die Relativitätstheorie manchmal als "jüdische Physik" beschimpft.
Für Hitler z. B. war es ungemein typisch, dass er alles, was er nicht verstand, ablehnte. Düsenflugzeuge und lange Zeit auch Raketen verstand er nicht und mochte er folglich nicht - was die Entwicklungen entsprechender Waffen glücklicherweise verzögerte. Die Atombombe verstand er erst recht nicht.

Die "reaktionären Modernität", ein Begriff, auf den ich in Eichsfelds kritischer von Braun-Biographie "Mondsüchtig - Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei" stieß, ist ungemein typisch für den NS. (Zum Buch: Kalte Duschen.) Darauf gekommen ist schon Thoman Mann, als er von einem "hochtechnisierten Romantizismus (...) einer Mischung aus leistungsfähiger Fortgeschrittenheit und Vergangenheitstraum" sprach. Der Fortschrittsgedanke der Nazis bezog sich auf die Technik, ihr Vergangenheitstraum dagegen auf politisch-soziale Zustände.

Selbstverständlich hätte der NS-Staat ohne Professoren, Ingenieure, Industrielle und pflichtbewusste Staatsdiener keine zwei Stunden lang funktioniert. Einige der duchgeknalltesten Nazi-Okkultisten waren sogar Professoren, Ingenieure, Industrielle.
Chat Atkins (Gast) - 1. Mai, 13:55

In der SPD gab es damals noch den Hofgeismaraner Kreis mit Ernst Niekisch an der Spitze (verurteilter Führer der zweiten Münchner Räterepublik), der dann eine 'Achse 'Berlin-Moskau' gegen 'das Westliche' schmieden wollte. Dann war Niekisch Kopf des sog. 'Nationalbolschewismus', zusammen mit einer ganzen Reihe von Leuten, die auch aus dem Landvolk kamen, von der Bündischen Jugend, aus Strassers Schwarzer Front. Die Gebrüder Jünger waren wohl zeitweilig auch dabei. Die Weimarer Republik war voller Intellektueller die links- und rechtsradikal zugleich daherschwärmten. Nur überstieg ihr Output an Texten allemal ihren Anhang in der Realität ...

Pil (Gast) - 2. Mai, 10:17

Hei Martin

Ja, da magst Du recht haben. Moderne im Sinn von Aufklärung und Liberalismus lehnten die Nazis zweifellos ab. Allerdings war ihre Vorstellung von Vergangenheit eine modernistische Utopie. Ganz ähnliches kann man heute bei Moslembrüdern und ihren Ablegern entdecken: Wir sprechen hier nicht von "echten" Konservativen, die engstirnig ihre überkommene Gesellschaftsordnung verteidigen wollen bzw sich nostalgisch nach dieser zurücksehnen und Mühe mit dem Neuen haben, sondern von durch und durch modernen Menschen, die sich eine Vergangenheit erfinden und sie mit extremstem, modernstem Zweckrationalismus durchsetzen wollen.

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