Zukunftsvisionen? - Das ich nicht lache ...

Von heute abend an präsentiert arte die dreiteilige Reihe 2057- Die Welt der Zukunft . (Jeweils am folgenden Sonntag wird die Sendung im ZDF wiederholt.)
Wie sieht unser Leben, unser Alltag in 50 Jahren aus? Diese Frage stellt die 3-teilige Dokumentation und schafft in fiktionalen Spielszenen ein realistisches Abbild des Lebens in 50 Jahren.
Ich sehe die Reihe mit gemischten Gefühlen. Es geht nämlich nicht um "das Leben in 50 Jahren", also um eine Prognose, sondern schlicht um Science Fiction. Zwar SF auf der Grundlage handfester Forschungsergebnisse, aber dennoch, aus der simple Tatsache heraus, dass die Entdeckungen, Erfindungen und Entwicklungen der Zukunft noch nicht gemacht sind, hochgradig spekulativ.
Wie spekulativ kann man ermessen, wenn man sich z. B. "Zukunftsvisionen" aus den 50er und 60er Jahren ansieht, die das Leben im frühen 21. Jahrhundert zum Thema hatten.
(Ein amüsantes Beispiel aus dem Jahr 1950: Miracles You’ll See In The Next Fifty Years.
Ein interessanter Artikel aus dem Jahr 2000 zum Thema "Zukunftsvisonen von gestern": So sollten wir leben.)

Wenn sich eine Prognose stellen läßt, dann die, dass die Welt im Jahre 2057 sehr wahrscheinlich völlig anders aussehen wird als in "Die Welt der Zukunft".

Allerdings regen solche Zukunftszenarien die Phantasie und Neugier an, zeigen, dass Probleme dazu da sind, gelöst zu werden. Deshalb freue ich mich darüber, dass "Die Welt der Zukunft" gesendet wird. Mit wäre es aber sehr viel lieber, wenn sie als "ehrliche" Science Fiction ohne pseudokumentarisches Drumherum präsentiert würde. Es mangelt nicht an guten Vorbildern, wie den "Science Thrillern"
Rainer Erlers aus den 70er und 80er Jahren. Erlers Filme befassten sich oft mit brisanten gesellschaftlichen Themen wie Atomkraft, Atommüll, Ethik in der wissenschaftlichen Forschung, Genmanipulation, Organhandel. Obwohl sie klar als Fiktionen erkennbar waren, lösten sie kontroverse Reaktionen und lebhafte Diskussionen aus.

Aber vermutlich liegt es daran, dass Science Fiction im deutschen Fernsehen (angeblich) "nicht gut läuft" und "Infotainment" ("Sendung mit der Maus" für Erwachsene plus opulente Bilder - wobei sich die Themenwahl danach richtet, das es sich gut visuell darstellen läßt) gute Einschaltquoten bringt.

Weiterer Senf zum Thema "Prognosen und Zukunftsvisionen":
Ausreden
Orakelzeit
Warum wir süchtig nach Prognosen sind - auch wenn sie in die Hose gehen
Das Ende eines Verkehrsmittels?
Divination zum Jahreswechsel
Karsten (Gast) - 17. Mär, 17:50

Andererseits bin ich immer schockiert, wenn ich sehe, wie oft die Science Fiction meiner Kindheit (also aus den 80er Jahren) sich verdammt nah an der Realität unserer heutigen Zeit bewegt. Sowohl technisch als auch soziologisch - und vor allem im letzteren Bereich...

MMarheinecke - 18. Mär, 09:22

Ja, das ist eben die Natur der "Science Fiction"

SF stellt die Frage "Was wäre wenn" (und nicht etwa: "Was wird sein" wie die Futurologie. Sie sollte deshalb vielleicht besser "Speculative Fiction" genannt werden.
Die SF der 80er Jahre war stark vom "Cyberpunk" geprägt und in der Tat bewegt sich die Welt seitdem in eine ähnliche Richtung, wie sie z. B. William Gibson damals dargestellt hat - weniger, weil Gibson die Zukunft richtig "hochgerechnet" hätte - gerade da, wo er es wirklich tat, liegt er ziemlich "daneben" . Die Spekulationen des Gibsonschen "Cyberpunk" beruhen auf zwei Grundvoraussetzungen 1. Was wäre wenn der Staat (die Staaten) von großen Konzernen kontrolliert würden, die die staatliche Monopol-Macht für ihre Zwecke instrumentalisieren. 2. Was wäre wenn praktisch die gesamte Kommunikation und alle ökonomischen Transaktionen in einem weltweiten, nicht hierachischen Datennetz ablaufen würden.

Weil diese Annahmen sich als richtig erwiesen haben, treffen auch andere Elemente der Cyberpunk-Romane zu - einfach, weil der Autor sich um eine plausible Geschichte mit glaubwüdigen Protagonisten bemüht.

Von der ersten Folge der "2057"-Reihe bin ich übrigens - trotz nicht allzu hoch gespannter Erwartungen - enttäuscht. Sie macht - als SF-Literatur / Film gesehen- den Fehler, die "Lieblingsideen" der herangezogenen Forscher sozusagen in die Zukunft zu verlängern, ohne darauf zu achten, ob sich ein schlüssiges, plausibler Gesamtszenario ergibt. Da paßt einiges nicht bruchlos zusammen.
Aus der Sicht der Futurologie macht sie den Fehler, Trend der Gegenwart einfach zu "verlängern" bzw. hochzurechnen. Weswegen auch diese "Zukunftsvision" mehr über die Zeit, in der sie entstand, als über die Zeit, von der sie berichten will, verrät. Die aktuellen Themen sind "Zweiklassenmedizin" und "Totalüberwachung des Bürgers". Ob sie in ein paar Jahren noch in dieser Form relevant sein werden, ist durchaus fraglich.

Jedenfalls habe ich mich dauern gefragt, was wohl Erler aus dem Stoff gemacht hätte. (Zwei Dinge gewiss: er hätte sein Szenario näher an der heutigen Zeit angesiedelt - und eine weniger konstruierte Story erzählt.)

Das Krankenversicherungssystem mit Platinkarte usw. ähnelt
verdächtig dem beim Cyberpunk-Rollenspiel "Shadowrun". Wobei "Doc Wagon" bei Shadowrun aus gutem Grund keine medizinische Totalüberwachung seiner Kunden betreibt: 1. weil der betriebene Aufwand in keinem Verhältnis zu den eingesparten Kosten durch Aufdeckung minimaler "Gesundheitssünden" steht, 2. weil eine solche allgemeine Überwachung immer nur mit Unterstützung der staatliche Autorität machbar ist (und "staatliche Autoriät" gibt es in Shadowrun kaum noch), 3. weil es durchaus Alternativen und damit wirksame Konkurrenz zu den Diensten von Doc Wagon gibt - vor allem auf dem "Grund- und Notversorgungslevel" - bis hin zu einem medizinischen Schwarzmarkt. Was heißt - wem die Überwacherei zu weit geht, der kann "aussteigen", ohne das der Ausstieg gleich lebensgefährlich wird. Weshalb es in "Shadowrun" so eine "Gesundheitspolizei" nicht gibt.

Das Szenario in "2057" ähnelt einer Kombination der Nachteile eines privaten und eines staatlichen Krankenversicherungssystems, und das noch verbunden mit einer massiven (und medizinisch kaum zu rechtfertigen) "Vorsorge-Ideologie". Es ist also eine Verlängerung der heutigen Misstände im deutschen und französischen Gesundheitssystem. Als Kritik vielleicht gut - aber im "Erler-Ansatz" wäre sie m. E. weitaus wirksamer.
Karsten (Gast) - 18. Mär, 18:44

Ja, ich meinte genau William Gibson und auch das Spiel "Shadowrun", dessen erste Version ich als 14jähriger mit großer Begeisterung gelesen und gespielt habe. :)

Was Gibson betrifft, so trifft allerdings eher die Bridge-Trilogie als die ursprünglichen Neuromancer-Bücher die Entwicklung, wie ich sie selbst erlebt habe - der Unterschied ist meiner Ansicht nach Schmutz vs. sterile Sauberkeit als Grundstimmung, und wir landen da doch eher bei letzterem.
MMarheinecke - 19. Mär, 16:03

Falls hier jemand nur "Bahnhof" versteht

Es gibt einen Artikel in der wikipedia, an dem auch ein Fan dieses Subgenres der Science Fiction (also z. B. ich) wenig zu meckern hat: Cyberpunk. Das ist ein guter Schnitt, denn fragt man drei Science Fiction-Experten, was denn eigentlich Cyberpunk sei, erhält man in der Regel vier verschiedene Antworten. Es gibt auch einen ausführlichen, allerdings etwas älteren (von 2000) Artikel zum Thema auf fantastic-online.de Cyberpunk - vorgestern "Underground", gestern SF-Mode - und morgen Realität?.

Hier ein "Sixth World Wiki"-Artikel zum medizinischen Dienst DocWagon. Das Vorbild für den medizinischen Notfalldienst in "2057 - Die Welt der Zukunft" ist unverkennbar, aber eben durch die die düstere und gewaltlastige Cyberpunk-Welt von Shadowrun geprägt.

Karsten (Gast) - 23. Mär, 16:44

Hab mir den verlinkten Artikel gerade mal angesehen. Und auf den Autor geachtet. Schleichwerbung, das hier... :)

Aber jedenfalls wirst Du mir immer sympathischer, Martin. :)
Gregor Keuschnig - 19. Mär, 16:15

Erler habe ich schon...

beim "Aufstand der Alten" schmerzlich vermisst.

Ein Film über die Zukunft im Jahre 2057 hat u. a. den Vorteil, dass diejenigen, die sich diesen Beitrag heute mit Sinn und Verstand anschauen können, in 2057 vermutlich nicht mehr leben werden. Die Autoren brauchen also nicht zu befürchten, dass man ihnen "beikommt" (sie werden ja selber nicht mehr leben). Das macht einerseits frei im Kopf - erzeugt jedoch andererseits eine gewisse spielerische Unersthaftigkeit, die schön zum anschauen ist, mich jedoch aufgrund des oben beschriebenen Tatbestands eher depressiv zurücklässt.

MMarheinecke - 19. Mär, 16:48

Der "Aufstand der Alten" ist nicht nur entäuschend, er ist Propaganda

Und zwar eine Form der PR bzw. des Lobbyistmus für die sich ein Erler nicht hergeben würde: lobbycontrol:ZDF-Themenschwerpunkt Demographie als Bühne der Lobbyisten. Das betrifft nicht "nur" das dokumentarische Umfeld, sondern leider auch den Dreiteiler selbst: er impliziert, ganz im Sinne z. B. der INSM, die Regierung habe ihre Hausaufgaben in Sachen “Reformen” nicht gemacht, der Bürger nicht in Sachen privater Vorsorge.
Gregor Keuschnig - 22. Mär, 08:48

Naja, Propaganda...

ist ein hartes Wort. Der Film zeigte das, was letztlich geschehen wird - vermutlich nicht in dieser Übertreibung. Die Sozialkassen werden irgendwann nicht mehr in der Lage sein, für Pflegebedürftige (die natürlich vorher ihre Rücklagen aufgebraucht haben) zwischen 2500 und 3800 Euro pro Monat zu bezahlen. Diese Summen stehen - nebenbei gesagt - in gar keinem Verhältnis zur Leistung, die dort erbracht wird. Insofern wurde schon gezeigt, womit die heute 40-50jährigen in 20 Jahren rechnen können. Glücklich ist, wer sich Reserven angespart hat - für die anderen ist mit dem derzeitigen System im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat mehr zu machen - wenn denn die Lebenserwartung tatsächlich so weiter steigt (was ich bezweifle, weil die gesundheitliche Versorgung irgendwann eingeschränkt werden wird - Stichwort Zweiklassenmedizin [die wir längst schon haben]).
MMarheinecke - 22. Mär, 12:25

Propaganda ist schon richtig

und auch kein hartes Wort, sondern eine Beschreibung, was er ist. Weil er die Ursachen der Misere, die Du durchaus zutreffend beschreibts, verschleiert bzw. die falschen Ursachen nennt.

Dass es demographische Veränderungen gibt, ist klar. Aber: die Verläßlichkeit der Prognosen ist stark anzuzweifeln. Noch stärker anzweifeln läßt sich, wie sich der stets beschworene Wandel auf die Renten auswirkt. (Da spielen noch andere Aspekte wie etwa die Produktivitätsentwicklung eine Rolle.)
Dass heute die Rentenversicherung in der Misere steckt, hat kaum etwas mit der Lebenserwartung zu tun. Eher mit jahrzehntelanger hoher Arbeitslosigkeit und (im Schnitt) sinkenden Arbeitnehmereinkommen (Billiglohnsektor). Außerdem an permanenten politischen Eingriffen ins Versicherungssystem aus "sachfremden" Überlegungen. (Angefangen bei der Dynamisierung der Renten, die Adenauer seinerzeit gegen den Widerstand praktisch aller Fachleute einführte - war halt wieder mal Wahlkampf.)
Übrigens: wer sich Reserven angespart hat, hat, von wenige priviligierten Versicherungsformen, Pech gehabt, wenn er längere Zeit arbeitslos wird. Ich hatte mal ´ne nicht unflotte Kapitallebensversicherung - tja, bis ...
Gregor Keuschnig - 22. Mär, 13:41

Ich glaube auch nicht...

dass die Misere der Rentenversicherung mit dem so oft genannten demografischen Faktor was zu tun hat: Hätten wir mehr Nachfrager auf dem Arbeitsmarkt, wäre erst einmal nur eines sicher: die Arbeitslosigkeit wäre höher. Mehr Kinder lösen das Problem nicht a priori, so lange nicht sichergestellt ist (so weit das überhaupt sicherstellbar ist), dass auch später Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Diesen Punkt konnte Adenauer nicht voraussehen - bei allen Fehlern, die er 1957(?) gemacht hat. Man ist damals gar nicht auf die Idee gekommen, was die Automation 20-30 Jahre später leistet und die (sogenannte) Globalisierung jetzt.

Natürlich ist eine angesparte Reserve in dem Moment nur noch Makulatur, wenn längere Arbeitslosigkeit eintritt. Insofern ist das Geschwätz der Politik, man soll "Eigenverantwortung" leisten, heuchlerisch. Geradezu ein Musterbeispiels für die virulene Ahnungslosigkeit der politischen "Eliten" war für mich Münterferings Äusserung im Rahmen der "Rente mit 67"-Diskussion: Wer nicht vorsorge, müsse eben im Alter auf der Straße Balalaika spielen oder Lotto spielen.

Propagandistisch war der Film höchstens dahingehend, dass er das aktuelle Rentenversicherungssystem als Fehler quasi von Anfang an darstellte. Selbst man über die Film genannten Ursachen geteilter Meinung ist, so ist die Folgenbeschreibung immerhin so gelungen, dass es (allerdings kurzzeitig) eine Diskussion über die Sache gab. Bis dann die nächste Sau durchs Mediendorf gejagt wurde.

Das man von seiten der Politiker nicht klug geworden ist, zeigt sich ja in der Diskussion um die Nivellierung der Pflegeversicherung.

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