Unsichtbare Sprachbarrieren und die Türsteher der Eliten

In der Publizistik und Medienwissenschaft wie auch in der Soziologie gibt es den Begriff des "Gatekeeper".

Wörtlich heißt das "Torwächter". Man könnte auch, von der Funktion her "Türsteher sagen". Wie ein Türsteher nach für Außenstehende oft rätselhaften Kriterien darüber entscheidet, wer in den Nachtclub darf und wer nicht, können Gatekeeper darüber entscheiden, welche Nachricht in den Medien erscheinen.
Andere Türsteher sind jene, die aufgrund ihrer Fähigkeiten (z. B. als Gutachter) und Positionen (z. B. als Vorgesetzter) die "soziale Mobilität" von Menschen beeinflussen können.

Besonders deutlich wird die Analogie zum Türsteher in der Arbeitswelt. Soziologische Untersuchungen weisen darauf hin, dass für Wirtschaftseliten zum überwiegenden Teil Menschen rekrutiert werden, die in der entsprechenden Elite aufgewachsen sind. Der Soziologe und Kriminalschriftsteller Horst Bosetzsky (-ky) lästerte einmal, über Bewerber für den gehobene und höheren öffentlichen Dienst würde so entschieden, als ob hervorragende Beamteneigenschaften erblich wären.
Noch ausgeprägter ist dieses quasi-aristokratische Denken in den Führungsetagen der "freien Wirtschaft". Ein "Aufsteiger" muss schon sehr tüchtig sein, um sich in der deutschen "Führungselite" etablieren zu können: Gut vier Fünftel der Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen kommen aus Familien größerere Unternehmer, leitender Angestellter, höherer Beamter und akademischer Freiberufler. Die soziale Eliten sind im heutigen Deutschland vor allem das (Groß-)Bürgertum und das Bildungsbürgertum, die "Mittelschichtgesellschaft" der BRD nach dem "Wirtschaftswunder" ist weitgehend passé.
Und die Abschottung nimmt zu: Wissenschaft und Politik waren bis in die 1980er Jahre noch sozial durchlässige Sektoren. Auch hier hat sich auch hier das Bürgertum durchgesetzt. Waren in der 1. großen Koalition von 1966 nur 2 von den 6 wichtigsten Regierungsämtern mit Repräsentanten des Bürgertums besetzt, sind es heute 5 von 6. Der Anteil der "Bürgerkinder" unter den Professoren beträgt etwa 50% - gemessen an der Bevölkerung ist der Anteil des Bürgertums (ohne das "Kleinbürgertum") 3,5%, der des Großbürgertums 0,5%.

Das dieser Effekt tatsächlich auf sozialer Abschottung und nicht etwa auf Leistungen beruht, zeigt eine Untersuchung des Institutes für Soziologie an der TU Darmstadt: Wer aus der Familie eines leitenden Angestellten kommt, hat eine 10 mal so gute Chance, in die Führungsetage eines Großkonzerns aufzusteigen, als ein fachlich gleichguter Kommilitone aus einer Arbeiterfamilie. Wer einen Geschäftsführer oder ein Vorstandsmitglied zum Vater hat, dessen Aussichten sind 17 mal besser als die als "Kind kleiner Leute".

Eliten orientieren sich am "Stallgeruch". Sie bevorzugen ihresgleichen. Wenn der familiäre Hintergrund z. B. eines Bewerbers bekannt ist, vielleicht sogar "Vitamin B" im Spiel ist, überrascht das nicht. Im Alltag z. B. eines Einstellungsverfahrens ist das allerdings nicht die Regel. Hier greifen subtilere, den Gatekeepern oft nicht einmal selbst bewusste Mechanismen. Die Gatekeeper erkennen anhand ihrer sozial, von Kind auf eingeübten Kenntnis der Untertöne die Zugehörigkeit von Bewerbern zu einem ihnen selber entsprechenden sozialen Milieu. Sie "spüren", ob jemand "dazugehört".

In der "guten alten" Zeit ließen sich solche Milieuunterschiede noch relativ einfach an der Kleidung oder den Manieren erkennen. Das dürfte in der Zeit des sorgfältigen Bewerbertrainings und einer doch ziemlich nivellierten Alltagskultur nur noch in Extremfällen relevant sein. Das wichtigste Indiz für den richtigen "Stallgeruch" ist die Sprache. Damit sind nicht nur offensichtliche und leider reale sprachliche Defizite der "Unterschicht" gemeint, auch nicht die Fachsprache, in der ein Bewerber sattelfest sein muss.

Ein sehr schönes und historisch interessantes Beispiel für eine subtile Sprachbarriere findet in der Autobiographie des Wissenschaftspublizisten Hoimar von Ditfurth "Innenansichten eines Zeitgenossen", eine Episode aus dem Jahre 1931: das Hausmädchen der v. Ditfurths hatte im Überschwang politischer Gefühle einen Brief an Hitler geschrieben, und sogar einen "persönlichen" Anwortbrief erhalten (wahrscheinlich ein Standardtext, bei dem nur die Anrede personalisiert war - in solchen Dingen waren die Nazis ihren politischen Konkurrenten weit voraus).
Da aber war ein Punkt, der mich stutzig machte. Ich verschwieg es Hertha, um ihre offensichtliche Freude nicht zu trüben. Der Eindruck jedoch, den ich bei dieser ersten Gelegenheit von Hitler gewann, war, ich kann es nicht anders sagen, ausgesprochen ungünstig. "Wertes Fräulein ..." das schrieb ein Herr einfach nicht. "Sehr geehrtes..." oder einfach "Geehrtes ..." das wäre in Ordnung gewesen, ebenso so auch "Verehrtes...", meinetwegen auch noch "Liebes Fräulein Mehrling". Aber "Wertes...", das war spießig und unmöglich. Soviel war auch mir als Elfjährigem mit absoluter Gewißheit klar. Denn mochten wir auch noch so arm sein, die vielfältigen kleinen sprachlichen und Verhaltensmerkmale, die dem Eingeweihten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse signalisierten und die jemand, der nicht dazugehört, in aller Regel nicht registriert, die hatte man uns so eingedrillt, daß sie uns in Fleisch und Blut übergegangen waren.
(Bemerkenswert übrigens, dass die Familie, obwohl auf "kleinbürgerliche" Vermögensverhältnisse verarmt, ein Hausmädchen hatte: Adel verpflichtet.)
Ein Brief mit der Anrede "Werter Herr ..." ist im kaufmännischen Schriftverkehr tabu. Ich kenne "Werter Herr, Werte Frau usw." fast nur in ironisch-warnender Bedeutung, im Sinne von "Freundchen": "Werter Herr, da gehen Sie aber zu weit!" Ähnlich ist es mit der Grußformel "Hochachtungsvoll" - So unterschreibt man als Kaufmann nur Mahnungen oder "böse Briefe". Offensichtlich ist es im "alten Adel" ähnlich wie bei den "ehrbaren Kaufleuten".

Tatsächlich ist nichts so verräterisch wie der Sprachgebrauch, nicht einmal die neuerdings wieder gefragten Tischmanieren. Übrigens ist ein wichtiger Punkt bei allen "verräterischen Kleinigkeiten" Souveränität, das heißt, dass man mit all den Regeln und Maßstäben gelassen umgeht. Wer immer sich streng nach Benimmbuch benimmt, fällt auf die Dauer auf. Meistens nicht einmal bewusst: "Gute Manieren hat er ja, aber irgendwas stimmt mit ihm nicht ..."

Dass selbst mein Sprachgebrauch verrät, dass ich "nicht dazugehöre" wurde mir klar, als ich für eine "Frauenzeitschrift" (Klatsch, Mode, Kochrezepte - eben Regenbogenpresse, "Yellow Press") als freier Mitarbeiter einige Artikel schrieb, die seltsamerweise von der zuständigen Redakteurin sehr stark redigiert wurden. Nun ist "redigiert werden" in der Presse völlig normal, der sprachliche Perfektionismus dieser noch jungen Dame (aus einer alten Adelsfamilie - so was ist in der Regenbogenpresse offensichtlich gefragt) war aber schon einigermaßen befremdlich. Mir wurden z. B. alle "technisch-fachsprachlichen" Ausdrücke, wie "Anmoderation" und alles, was auf lässige Umgangssprache hinwies, glatt gestrichen, in der Attitüde einer strengen Deutschlehrerin.
Erst im Nachhinein wurde mir klar: das besagte Blatt betrieb systematisch sprachliche Mimikry. Es täuschte Seriosität vor, in dem es auf sprachliche Feinheiten acht gab. Tenor: "Wir sind schließlich die Neue Goldene Freizeit (Titel geändert) und nicht die BILD". Es überwand dank "gewählter Sprache" und einiger anderer Tricks erstaunlich erfolgreich die Türsteher der "besseren Gesellschaft", bis hin zu Königshäusern. Zugleich gab das "gute Deutsch" den Leserinnen die Illusion, eine Zeitschrift mit Niveau und keine "Proletenillustrierte" zu lesen.

Es ist also möglich, "Türsteher" zu überlisten, und zwar durch das Setzen der richtigen Kennzeichen und durch "schleimen" - anbiedern und schmeicheln. Die vor dem Nachtclub genau so wie die vor der "guten Gesellschaft". Die Frage ist allerdings, ob das für den Einzelnen immer sinnvoll ist. Und ob das auch für die "Eliten" sinnvoll ist - das Beispiel aus der Klatschpresse ist bezeichnend. Es gibt, vertrauen die Gatekeeper auf die "verräterischen Kleinigkeiten", eine offene Flanke für Karrieristen, die nichts so gut können wie sich gut selbst in Szene zu setzten.

Die zweite Frage ist die, ob wir durch solche Abschottungsmechnismen nicht auf die Dauer zu einer Klassengesellschaft im alten Stil werden, einer "geschlossenen Gesellschaft", einer Art Ständestaat. Soziale Mobilität, übrigens auch die nach "unten", zeichnet dynamische, anpassungsfähige, liberale Gesellschaften aus. Ständegesellschaften, in denen die richtige "Kinderstube" über den Status entscheidet, sind strukturell stockkonservativ und lassen zu viele Talente der "breiten Bevölkerung" ungenutzt.
Rayson (Gast) - 25. Nov, 20:00

Dass es diese Mechanismen gibt, steht außer Frage.

Dahinter stehen natürlich Irrtümer und Irrwege. Ein Irrtum wäre es, eine Gesellschaft danach zu beurteilen, wer in Großkonzernen an die Spitze tritt. Ein Irrweg, daran staatlich etwas ändern zu wollen.

Interessanter wäre die Sicht darauf, wie viele Gelegenheiten es für "Outsider" gibt, sich jenseits dieser Hierarchien, also auf dem Markt, zu präsentieren. Wir können nicht verhindern, dass sich Verkrustungen, "closed shops", bilden. Aber wir müssen es Störern. also denen mit anderen Ideen und Ansätzen, ermöglichen, den lieben Frieden dadurch zu stören, dass sie ihre Modelle selbst zur Abstimmung stellen.

MMarheinecke - 25. Nov, 20:35

An staatliches "Gegensteuern" denke ich am wenigsten. Denn: gerade in staatlichen Institutionen ist das Protegee-Wesen gut entwickelt. Von einer Reform des Schulwesens halte ich mehr - weg von der frühen "Selektion", hin zu einer einheitlichen Schule bis etwa zur 9. Klasse nach skandinavischem Muster. (Die schneiden auch bei PISA bekanntlich besser ab als unsere "Drei-Klassen-Schule.) Studiengebühren halte ich für kontraproduktiv, die "Akademikerschwemme" ist, von einige wenigen Modestudiengängen abgesehen, Legende. Bei den Natur- und Gesellschaftswissenschaften mangelt es schon seit einiger Zeit an Studenten, bei Ingenieuren noch mehr. Damit will ich nichts gegen "Eliteunis" sagen, nur: die "Breite Basis" darf nicht vernachlässigt werden. Bildung / Ausbildung ist so ziemlich der einzige "Rohstoff", den wir haben, ich sehe lieber Bildung subventioniert als bestimmte Formen der Energieerzeugung. (Egal, ob Windkraft oder Steinkohle.)

Ja, ich hoffe auch auf mehr "Quereinsteiger" - und zwar nicht solche, die sich per Mimikry den "Eliten" anpassen, sondern solche, die sich mit frischen Ideen und Einsatzbereitschaft einen guten Ruf verdienen. Leider scheinen zu viele Menschen, die das Zeug dazu hätten, zu feige zu sein. (Ich fasse mir da durchaus an die eigenen Nase.)

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