Wer aufmerksam die traditionellen und "neuen" Medien beobachtet, kennt sie: die Null-Nachrichten.
Null-Nachrichten sind Nachrichten über etwas, das weder neu, noch irgendwie hilfreich, noch näher besehen in irgend einer Weise sensationell wäre - aber trotzdem das Interesse vieler Menschen weckt und sich manchmal zum medialen Sturm im Wasserglas entwickelt.
Um es mit einem abgenutzten, aber treffenden Vergleich zu sagen: "Hund beißt Mann" ist keine Nachricht, "Mann beißt Hund" ist eine Nachricht und "Mann beißt vielleicht etwas, was möglicherweise ein Hund sein könnte" eine Null-Nachricht. Null-Nachrichten sind also nicht irrelevante Klatschgeschichten oder inhaltslose Pressemeldungen, sondern etwas, was auf den ersten Blick tatsächlich interessant, vielleicht sogar sensationell oder wirklich wichtig aussieht - oder wenigstens so verpackt wird, dass es interessant, sensationell oder wichtig erscheint.
Eine Beinahe-Null-Nachricht ist meiner Ansicht der Fall einer
Lesbischen syrischen Bloggerin, die sich als Vierzigjähriger aus Georgia entpuppte.
Der Spruch "In the internet no one knows you are a dog" ist fast 20 Jahre alt. Wer "net-affin" ist, für den sind "Sockenpuppen", Fake-Blogs, Täuschungen und Selbsttäuschungen (wie die schier unausrottbare Story von den Heilkräutern, die die EU angeblich abschaffen will) alltägliche Erfahrungen. Daher war ich, obwohl ich die Bloggerin für authentisch hielt, auch nicht weiter schockiert oder enttäuscht, als ich erfuhr, dass sie eine Kunstfigur ist. Keine große Überraschung, keine Sensation.
Null-Meldungen sind fast immer Gerüchte und Spekulationen, die nicht mehr als Gerüchte und Spekulationen wahrgenommen werden. Eine typische Null-Meldung der letzten Wochen beruhte im Kern auf Überlegungen der Deutschen Fußball-Liga (DFL), möglicherweise Bundesliga-Spiele künftig über mobiles TV, also das Streaming im Internet und über mobile Endgeräte (iPad, iPhone) zu übertragen. Wie aus dieser "Mücke" der "Elefant" wurde, dass die ARD-"Sportschau vor dem Aus" stünde, dokumentiert
Bildblog.
Ich will nicht behaupten, dass ich Null-Nachrichten immer als solche durchschauen würde.
Eine Null-Nachricht, auf die ich "anbiss", war die Nachricht, neu gefundene Dokumente könnten ein neues Licht auf die Geschichte der Raketenentwicklung in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom werfen.
Neues Licht auf Rolle Wernher von Brauns?". Von Braun paktierte mit den Nazis, gilt aber als einer der größten Raumfahrtpioniere und als geistiger "Vater" der ersten Großrakete (und Terrorwaffe) A4 bzw. V2. Zwei Wissenschaftler der TU Cottbus legten in einer
Pressemeldung nahe, dass von Braun vielleicht gar nicht der "geniale Konstrukteur" der V2 gewesen wäre - "ohne die genauere Erforschung vorschnell vorwegnehmen zu wollen", wie sie schreiben.
Sie stützen sich auf das Dossier Dr. Paul Schröders, eines früheren Mitarbeiters von Brauns, aus dem ihrer Ansicht nach hervorginge dass dieser bei der V2 nach einigen Misserfolgen "von jeglicher Planung ausgeschlossen war". Uta Mense, Denkmalpflegerin an der Universität, spürte die Papiere im Rahmen einer Arbeit über die frühere Heeresversuchsanstalt Peenemünde im Militärhistorischen Bundesarchiv in Freiburg auf.
Dr. Schröder war in der" Heeresversuchsanstalt Peenemünde" als Mathematiker an der Entwicklung der Flugsteuerung beteiligt. Anfang der 50er-Jahren wandte er sich mit dem Schriftsatz in den USA an die Presse und an Regierungsstellen, um, wie es in der Pressemeldung heißt"
die US-Behörden auf diverse Inkompetenzen des ehemaligen Technischen Direktors aus Peenemünde aufmerksam machen wollen, weil seiner Ansicht nach die Weiterentwicklung der Raketentechnologie in den USA behindert wurde
Warum sprach ich auf diese Meldung an, und hielt sie für substanziell und wichtig?
Für "wichtig" hielt ich sie grundsätzlich schon deshalb, weil ich mich für Raumfahrt, und für Technikgeschichte interessiere.
Der zweite Grund lag darin, dass Wernher von Braun eine der ambivalentesten Konstukteure in der an ambivalenten Charakteren nicht eben armen Geschichte der Großraketen ist. Ich traue "des Teufels Ingenieur" buchstäblich
alles zu, während ich bei einem integeren Forscher oder Konstrukteur sofort vermutetet hätte, dass Dr.Schröder ihn nur anschwärzen wollte.
Drittens war von Braun am größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte beteiligt und profitierte von ihm - ohne Zwangsarbeiter schon in der A4-Vorserienproduktion, ohne die sich zu Tode schuftenden Sklavenarbeiter in der unterirdischen Waffenfabrik hätten die A4 nicht gebaut werden können.
Viertens, und am wichtigsten, war er eine Schlüsselfigur sowohl für die Entwicklung für die militärischen Großraketen der USA wie für die Raumfahrt der USA gewesen. Denkt man sich von Braun aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts weg, wäre sie anders verlaufen.
Der fünfte Grund, dass es mich erstaunte, dass es über Wernher von Braun überhaupt noch neue wichtige Erkenntnisse geben könne, ist dagegen eher eine meine Neugier verstärkender Faktor.
Wieso ist die Nachricht über den angeblich jahrelang von jeder technischen Entwicklung ausgeschlossenen Wernher von Braun in Peenemünde eine Null-Nachricht? Weil das, was von ihr neu ist, reine Spekulation auf extrem wackeliger Grundlage ist.
Schon der Umstand, dass gemäß Michael Neufelds anerkannter und gründlichen Biographie von Brauns, "Wernher von Braun: Visionär des Weltraums - Ingenieur des Krieges (
Rezension in der "Welt",
Rezension von Dr. Stefan Schulze, Rezensionen auf
Buch.de) Dr. Schröder von Braun für arrogant und anmaßend, von Braun dagegen den Mathematiker für unerträglich pessimistisch hielt, und Schröder mit Billigung des Leiters der Heeresversuchsanstalt, Dornberger, 1939 abschob, weckt Misstrauen an Dr. Schröders Darstellung.
Entscheidend ist aber Dr. Schröders Darstellung der Dissertation Wernher von Brauns: Sie bestünde aus einer "Bildersammlung" sowie einem Text, der "etwa dem Niveau eines Studenten im zweiten Semester entspricht". Man habe dem Kandidaten dafür den Doktor der Philosophie verliehen, nicht den für Naturwissenschaften. Den Doktorgrad habe von Braun allein den guten Beziehungen seiner Familie zu verdanken.
Wernher von Braun promovierte 1934 in der Tat zum Dr. phil. (ein Titel, der bis heute noch an einige Universitäten auch für Doktoren der Naturwissenschaften vergeben wird) bei
Erich Schumann, Ordinarius und Direktor des Zweiten Physikalischen Institutes der Universität Berlin und
Karl Becker, Honorarprofessor für den Bereich Wehrwissenschaft an der Universität Berlin und ordentlicher Professor für Technische Physik an der TH Charlottenburg (heute Technische Universität) Berlin. Seine Dissertation
Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zu dem Problem der Flüssigkeitsrakete war zwar in Nazideutschland Geheimsache, wurde nach dem Krieg aber publiziert, in Deutschland 1959 bei der "Deutsche Gesellschaft f. Raketentechnik u. Raumfahrt e.V." als Sonderheft der Fachzeitschrift "Raketentechnik und Raumfahrtforschung". 2007 erschien ein Reprint beim Elbe-Dnjepr-Verlag, ein Faksimile der Dissertation als pdf kann nach vorheriger Anmeldung von der Website
Aggregat 2 des
"Sächsisches Verein für historisches Fluggerät e.V." heruntergeladen werden.
Ich kann also selbst nachsehen, ob von Braun tatsächlich eine "Dünnbrettbohrer-Diss" ablieferte, wie Dr. Schröder behauptete.
Von Braun mit "cum laude" benotete Dissertation hat in der Zeitschriften-Ausgabe einen Umfang von 48 Seiten, das Typoskript ist ca. 150 Seiten lang. Das mag wenig erscheinen, ist ist bei Arbeiten der Experimentalphysik allerdings keineswegs ungewöhnlich. Von einer "Bildersammlung" kann schwerlich die Rede sein, es sei denn, man nennt die seitenlangen Diagramme und Formeln so. Mir jedenfalls vermittelt sie den Eindruck einer typischen Dissertation im Bereich der experimentellen Naturwissenschaft, wo die Arbeit in erster Linie im Labor oder auf dem Prüfstand, und nicht am Schreibtisch geleistet wird.
Soweit ich es beurteilen kann, leistete von Braun echte Pionierarbeit. Er kannte und zitierte zwar die theoretischen Vorarbeiten
Hermann Oberths, aber sonst war er bei seiner Arbeit auf sich und seine unmittelbaren Mitarbeiter gestellt. Es gibt zwar noch die entfernte Möglichkeit, dass jemand anders für ihn die Arbeit gemacht hat, aber 1934 gab es auf der ganzen Welt nur eine handvoll Menschen, die dazu überhaupt in der Lage gewesen wären.
Promotionsbetrug ist also extrem unwahrscheinlich, und eine "Arbeit auf dem Niveau eines Studenten im zweiten Semester" ist sie nun wirklich auch nicht. Vielleicht vermisste Dr. Schröder als Mathematiker bei den Differenzialgleichungen die mathematische Eleganz - Mathematiker halten Physiker, vor allem Experimentalphysiker, in dieser Hinsicht bekanntlich gern für schludrig und unbeholfen. Vielleicht meinte er ja, dass die verwendete Mathematik von Mathe-Studenten spätestens nach dem zweiten Semester beherrscht würde. Für erheblich wahrscheinlicher halte ich es, dass Dr. Schröder die Arbeit Dr. von Brauns nie selbst gelesen hatte, was, da er ja als Steuerungsfachmann arbeitete, und sein Fachgebiet die in von Brauns Dissertation untersuchten Verbrennungsvorgänge in Raketentriebwerken nur am Rande berührte, nicht verwunderlich wäre.
Dr. Paul Schröder hat, was die Dissertation von Brauns angeht, also gelogen oder, was auch nicht viel besser ist, aufgrund von Gerüchten drauflos spekuliert, was kein gutes Licht auf ihn wirft!
Eine weitere Unstimmigkeit ist, dass der Projektleiter
Walter Dornberger von Braun jahrelang alle Kompetenzen entzogen hätte. Schröder schließt das aus der angeblichen Abwesenheit von Brauns bei wichtigen Sitzungen. Allerdings gehörte Schröder nach 1939 nicht mehr zum Entwicklungsteam, konnte also gar nicht aus erster Hand wissen, an welchen Sitzungen von Braun, immerhin technischer Direktors der Versuchsanstalt, seitdem teilnahm.
Was von der "Sensation" bleibt, sind altbekannte Tatsachen. Von Braun war kein herausragender Experte, kein Spitzenwissenschaftler oder -techniker auf einem bestimmten Gebiet. Er war Generalist, ein technischer Manager, der den Überblick über das Projekt behielt und Detailfragen delegierte. Es ist also nichts Besonderes, wenn er sich auf dem Gebiet etwa der Steuerung weit weniger gut auskannte als seine Mitarbeiter. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass von Braun von seinem Vorgesetzten und Freund Dornberger zurückgepfiffen wurde, weil er dazu neigte, sich zu viel um technische Details zu sorgen. Es ist eine erst recht banale Feststellung , dass von Braun Fehler machte und Irrwege (auch technische, politische und ethische sowieso) einschlug.
"Niemand hat behauptet, von Braun hätte die Flüssigkeitsrakete erfunden oder die V2 allein entwickelt."
Jesco von Puttkamer in
Dieser Mann - ein Schwindler? ("Die Welt").
Der Archivfund von Schröders Dossier ist eine zeitgeschichtliche Marginalie. Die Geschichte der V-Waffenentwicklung muss nicht einmal in Details nicht neu geschrieben werden.