Medien, Lobby & PR

Dienstag, 3. Januar 2012

Den Kommentar zum unpräsidentalen Verhalten C. Wulffs

... überlassse ich einem, der es wissen muss. Und es vor fast sechs Jahren im "Spiegel" aussprach, so dass es unser immer peinlicher werdender Bundespräsi es auch hätte wissen können:
Döpfner: Größer als die Schlagzeilen der "Bild"-Zeitung ist gelegentlich nur die Heuchelei mancher Prominenter, wenn sie sich als Opfer stilisieren. Erst wollen sie von der Plattform profitieren, und hinterher, wenn's mal unangenehm wird, kritisieren sie, dass "Bild" immer noch da ist. Wer Privates schützen will, kann das in der Regel auch. Oder haben Sie etwa über Schily, Künast, Trittin oder Köhler irgendwelche Homestorys gelesen? Aber wer mit dem Privatleben Wahlkampf macht, der muss auch damit leben, dass die Boulevardpresse da ist, wenn der Haussegen schief hängt. Für die "Bild"-Zeitung gilt das Prinzip: Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten. Diese Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen.
Wir Deutschen sind unberechenbar Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner debattiert mit Literaturnobelpreisträger Günter Grass über die Medienmacht des Verlags, das Amerika-Bild der Deutschen sowie Verdienste und Fehler der 68er (DER SPIEGEL, 25/2006 vom 19.06.2006)

Mittwoch, 6. Juli 2011

Ist Rassismus das richtige Wort? Ja!

Wieder einmal hadere ich mit einem Artikel der "Zeit". Dieses Mal allerdings nicht wegen mangelhafter Recherche und Voreingenommenheit gegen Nicht-Mainstream-Religiöse, sondern weil die Autorin des Artikels "Deutschenfeindlichkeit" Rassismus ist das falsche Wort vieles (meiner Ansicht nach zutreffend) erkennt - und trotzdem zu einem seltsamen Schluss kommt.

Völlig mit Frau Dernbach stimme ich überein, wen sie ausspricht, was leider selten genug und deutlich genug ausgesprochen wird:
Rassismus ist eine auffallend selten verwendete Vokabel im deutschen politischen Wörterbuch. EU und UN haben mehrfach beklagt, dass der Begriff hierzulande auf Antisemitismus verengt werde, was es Behörden und Politik schwer mache, andere Formen von Rassismus zu erkennen und zu bekämpfen. Das Institut für Menschenrechte mahnte, etwa in der Sarrazin-Debatte, dass endlich über Rassismus zu reden sei und nicht nur den von rechtsaußen.
So weit, so gut. Aber:
Nun geschieht’s. Leider an der falschen Stelle. Rassismus war immer der Vorwurf der Unterdrückten an die Adresse der Unterdrücker, der Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse gegen deren Nutznießer. Er erzählt von Macht.
Und das stimmt eben nicht immer!
Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.
(Rassismusdefinition nach Albert Memmi).

"Klassischer" Rassismus ist es, wenn Kultur, sozialer Status, Begabung und Charakter, Verhalten, usw. von Menschen einer bestimmten Gruppe als durch die erbbiologische Ausstattung bestimmt gelten. Analog gibt es den "Kulturrassismus" oder Kulturalismus, in dem an die Stelle des biologistischen Rassebegriffs eben die "Kultur" tritt.
Der Punkt ist, dass Eigenschaften verallgemeinert (z. B. nicht: "Einige Griechen sind korrupt" sondern: "Die Griechen sind korrupt") und verabsolutiert werden. (Die "Korruptheit der Griechen" wird zum Begriff erhoben, Bestechlichkeit und die Bereitschaft, zu bestechen, als kennzeichnende Eigenschaft "des Griechen" gesehen.)

Dann gibt es Rassisten, die ich an anderer Stelle "bescheidene Rassisten" nannte.
Ein "bescheidener Rassist" vermeidet es, die jeweils eigene Rasse als eine allen anderen überlegene Herrenrasse darzustellen. Oberflächlich betrachtet vermeidet er überhaupt die Wertung von Rassen. Er betont lediglich, dass es nun einmal rassische Unterschiede gäbe und verknüpft diese eng mit kulturellen Formen. Da er ethnische und rassische Minderheiten nicht zerstören will, hält ein "bescheidener Rassist" sich selbst nicht für einen Rassisten. Vielleicht nennt er sich "Ethnopluralist". Vielleicht befürwortet er sogar eine "radikale Multikulturalität"– als ausdrückliche Alternative zum "Melting Pot" und alles nivellierender "Multi-Kulti".

Entscheidend ist dabei, wie Memmi schreibt, und wie es der deutsch-jüdische Historiker Michael Wolffsson während einer Fernseh-Diskussion treffend sagte:
“Rassismus und Gewalt sind ein Wort!”
Das kann körperliche, verbale oder institutionelle Gewalt sein. (Ein Beispiel für "instutionelle Gewalt" ist der Umgang der EU mit Flüchtlingen.)

Rassismus lässt sich auch gegen Xenophobie / Fremdenfeindlichkeit abgrenzen: Ein Rassist beschränkt sich nicht darauf, zu sagen “Ich mag Dich nicht, weil Du anders bist”, sondern meint: “Ich bin etwas Besseres als Du, da Du die falschen Vorfahren hast”.

Schon daraus wird klar: Eine Tat aus Hass gegen "die" Deutschen kann mit Fug und Recht rassistisch genannt werden.

Frau Dernbach schreibt:
Dass Migranten in einer Machtposition gegenüber autochthonen Deutschen wären, würde wohl auch Ministerin Schröder nicht behaupten.
Das würde sie nicht behaupten, aber auch ohne Machtposition und ohne tatsächliche oder vermeintliche "Überlegenheit" kann jemand rassistisch sein!
Ich gebe ihr recht, wenn sie schreibt:
Der Kampfbegriff der Deutschenfeindlichkeit soll aber auch nicht Wirklichkeit beschreiben, sondern die Mehrheit moralisch entlasten.
Ich stimme ich aber nicht zu, wenn sie dann schreibt:
Wenn junge Türken, Kosovaren und Libanesen auch Rassisten sind, sind wir vielleicht gar nicht so schlimm?
Wenn Türken, Kosovaren und Libanesen Rassisten sind, dann sind sie auch dann Rassisten, wenn "wir" ihnen gegenüber Rassisten sind.
Im konkreten Fall verallgemeinerten die Täter tatsächliche oder fiktiven Unterschiede zum Schaden ihres Opfers, um ihre Aggression zu rechtfertigen.
Das ist Rassismus, auch dann, wenn ihr Rassismus vielleicht aus ihrer Lage als Minderheit in Deutschland heraus erklärbar, vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grade entschuldbar ist!

Um es deutlich zu sagen: Sie rechtfertigt oder relativiert in ihrem Artikel keine Straftaten und sie setzt die Täter nicht moralisch ins Recht. Es stimmt leider auch, dass die deutsche Gesellschaft (als Konstrukt, der einzelne Deutsche und auch einzelnen Gruppe innerhalb dieser Gesellschaft können völlig anders denken) strukturell rassistisch ist und insbesondere bestimmte Einwanderergruppen und ihre Nachkommen benachteiligt.

Es geht um den Begriff "Rassismus".

Hätte Frau Dernbach recht, dann wäre Positivrassismus kein Rassismus.
Ein Beispiel für Positivrassismus ist Thilo Sarrazin, der die Intelligenz der osteuropäischer jüdischer Einwanderer und den Fleiß vietnamesischer Einwanderer in einer Weise lobt, aus der sich schließen lässt, dass er Intelligenz und Fleiß für "angeborene" Eigenschaften der jeweiligen Einwanderergruppen hält. (Aus diesem Beispiel wird übrigens deutlich, dass Positivtivrassismus oft mit negativem Rassismus gekoppelt ist.)
Ja, und auch Positivrassismus ist mit Gewalt verbunden - wenn auch nur mit struktureller Gewalt, gegen die "schlechten" Einwanderergruppen, und auch gegen einzelne Mitglieder der vermeintlich bevorzugten Gruppe, die in eine Rolle gedrängt werden, die sie sich (meistens) nicht ausgesucht haben.
Ein hässliches (und dabei nicht einmal böse gemeintes) Beispiel für Positivrassismus gab der Tagesschau-Korrespondent Michael Castritius, als er bei den Olympischen Spielen 2008 erklärte warum jamaikanische Sprinter so erfolgreich sind. Sein "Erklärungsmodell" ist rassistisch, obwohl im Durchschnitt die untersuchten Athleten westafrikanischer Herkunft mehr "schnelle" Muskelfasern haben als im Durchschnitt die untersuchten Athleten europäischer Herkunft.
Der Punkt ist: über den einzelnen Menschen sagt diese Statistik nichts aus! Um ein anderes Beispiel zu nehmen: im Durchschnitt gesehen sind Nordeuropäer körperlich deutlich größer als Thailänder, und dafür sind nachweislich genetische Ursachen ausschlaggebend. Aber es gibt sehr wohl Nordeuropäer, die kleiner sind, als "durchschnittliche" Thais!
Positivrassimus schlägt unter Umständen schnell in "typischen" Rassismus um: "Schwarze können zwar schneller laufen, sind aber weniger intelligent als Weiße."
Oder, etwas subtiler: "Asiaten können sich viel besser konzentrieren als Europäer, aber dafür ist ihr kreatives Denken weniger entwickelt". Im diesem Beispiel kann eine "kulturelle" Begründung an Stelle der "biologischen" treten.

Im Läuferbeispiel verallgemeinerte und verabsolutierte der Tagesschau-Reporter einen tatsächlichen Unterschied zum Nutzen der "weißen" Läufer (die dann für ihren "Misserfolg" gegen die schwarzen Läufer mit ihren besseren "biologischen Voraussetzungen" nichts können) und rechtfertigen die "Privilegien" "unserer" Läufer ("eigentlich wären sie die Sieger"). Also Rassismus.

Montag, 13. Juni 2011

Gedankensplitter über NULL-Nachrichten

Wer aufmerksam die traditionellen und "neuen" Medien beobachtet, kennt sie: die Null-Nachrichten.
Null-Nachrichten sind Nachrichten über etwas, das weder neu, noch irgendwie hilfreich, noch näher besehen in irgend einer Weise sensationell wäre - aber trotzdem das Interesse vieler Menschen weckt und sich manchmal zum medialen Sturm im Wasserglas entwickelt.
Um es mit einem abgenutzten, aber treffenden Vergleich zu sagen: "Hund beißt Mann" ist keine Nachricht, "Mann beißt Hund" ist eine Nachricht und "Mann beißt vielleicht etwas, was möglicherweise ein Hund sein könnte" eine Null-Nachricht. Null-Nachrichten sind also nicht irrelevante Klatschgeschichten oder inhaltslose Pressemeldungen, sondern etwas, was auf den ersten Blick tatsächlich interessant, vielleicht sogar sensationell oder wirklich wichtig aussieht - oder wenigstens so verpackt wird, dass es interessant, sensationell oder wichtig erscheint.

Eine Beinahe-Null-Nachricht ist meiner Ansicht der Fall einer Lesbischen syrischen Bloggerin, die sich als Vierzigjähriger aus Georgia entpuppte.
Der Spruch "In the internet no one knows you are a dog" ist fast 20 Jahre alt. Wer "net-affin" ist, für den sind "Sockenpuppen", Fake-Blogs, Täuschungen und Selbsttäuschungen (wie die schier unausrottbare Story von den Heilkräutern, die die EU angeblich abschaffen will) alltägliche Erfahrungen. Daher war ich, obwohl ich die Bloggerin für authentisch hielt, auch nicht weiter schockiert oder enttäuscht, als ich erfuhr, dass sie eine Kunstfigur ist. Keine große Überraschung, keine Sensation.

Null-Meldungen sind fast immer Gerüchte und Spekulationen, die nicht mehr als Gerüchte und Spekulationen wahrgenommen werden. Eine typische Null-Meldung der letzten Wochen beruhte im Kern auf Überlegungen der Deutschen Fußball-Liga (DFL), möglicherweise Bundesliga-Spiele künftig über mobiles TV, also das Streaming im Internet und über mobile Endgeräte (iPad, iPhone) zu übertragen. Wie aus dieser "Mücke" der "Elefant" wurde, dass die ARD-"Sportschau vor dem Aus" stünde, dokumentiert Bildblog.

Ich will nicht behaupten, dass ich Null-Nachrichten immer als solche durchschauen würde.
Eine Null-Nachricht, auf die ich "anbiss", war die Nachricht, neu gefundene Dokumente könnten ein neues Licht auf die Geschichte der Raketenentwicklung in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom werfen. Neues Licht auf Rolle Wernher von Brauns?". Von Braun paktierte mit den Nazis, gilt aber als einer der größten Raumfahrtpioniere und als geistiger "Vater" der ersten Großrakete (und Terrorwaffe) A4 bzw. V2. Zwei Wissenschaftler der TU Cottbus legten in einer Pressemeldung nahe, dass von Braun vielleicht gar nicht der "geniale Konstrukteur" der V2 gewesen wäre - "ohne die genauere Erforschung vorschnell vorwegnehmen zu wollen", wie sie schreiben.

Sie stützen sich auf das Dossier Dr. Paul Schröders, eines früheren Mitarbeiters von Brauns, aus dem ihrer Ansicht nach hervorginge dass dieser bei der V2 nach einigen Misserfolgen "von jeglicher Planung ausgeschlossen war". Uta Mense, Denkmalpflegerin an der Universität, spürte die Papiere im Rahmen einer Arbeit über die frühere Heeresversuchsanstalt Peenemünde im Militärhistorischen Bundesarchiv in Freiburg auf.
Dr. Schröder war in der" Heeresversuchsanstalt Peenemünde" als Mathematiker an der Entwicklung der Flugsteuerung beteiligt. Anfang der 50er-Jahren wandte er sich mit dem Schriftsatz in den USA an die Presse und an Regierungsstellen, um, wie es in der Pressemeldung heißt"
die US-Behörden auf diverse Inkompetenzen des ehemaligen Technischen Direktors aus Peenemünde aufmerksam machen wollen, weil seiner Ansicht nach die Weiterentwicklung der Raketentechnologie in den USA behindert wurde
Warum sprach ich auf diese Meldung an, und hielt sie für substanziell und wichtig?
Für "wichtig" hielt ich sie grundsätzlich schon deshalb, weil ich mich für Raumfahrt, und für Technikgeschichte interessiere.
Der zweite Grund lag darin, dass Wernher von Braun eine der ambivalentesten Konstukteure in der an ambivalenten Charakteren nicht eben armen Geschichte der Großraketen ist. Ich traue "des Teufels Ingenieur" buchstäblich alles zu, während ich bei einem integeren Forscher oder Konstrukteur sofort vermutetet hätte, dass Dr.Schröder ihn nur anschwärzen wollte.
Drittens war von Braun am größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte beteiligt und profitierte von ihm - ohne Zwangsarbeiter schon in der A4-Vorserienproduktion, ohne die sich zu Tode schuftenden Sklavenarbeiter in der unterirdischen Waffenfabrik hätten die A4 nicht gebaut werden können.
Viertens, und am wichtigsten, war er eine Schlüsselfigur sowohl für die Entwicklung für die militärischen Großraketen der USA wie für die Raumfahrt der USA gewesen. Denkt man sich von Braun aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts weg, wäre sie anders verlaufen.
Der fünfte Grund, dass es mich erstaunte, dass es über Wernher von Braun überhaupt noch neue wichtige Erkenntnisse geben könne, ist dagegen eher eine meine Neugier verstärkender Faktor.

Wieso ist die Nachricht über den angeblich jahrelang von jeder technischen Entwicklung ausgeschlossenen Wernher von Braun in Peenemünde eine Null-Nachricht? Weil das, was von ihr neu ist, reine Spekulation auf extrem wackeliger Grundlage ist.

Schon der Umstand, dass gemäß Michael Neufelds anerkannter und gründlichen Biographie von Brauns, "Wernher von Braun: Visionär des Weltraums - Ingenieur des Krieges (Rezension in der "Welt", Rezension von Dr. Stefan Schulze, Rezensionen auf Buch.de) Dr. Schröder von Braun für arrogant und anmaßend, von Braun dagegen den Mathematiker für unerträglich pessimistisch hielt, und Schröder mit Billigung des Leiters der Heeresversuchsanstalt, Dornberger, 1939 abschob, weckt Misstrauen an Dr. Schröders Darstellung.

Entscheidend ist aber Dr. Schröders Darstellung der Dissertation Wernher von Brauns: Sie bestünde aus einer "Bildersammlung" sowie einem Text, der "etwa dem Niveau eines Studenten im zweiten Semester entspricht". Man habe dem Kandidaten dafür den Doktor der Philosophie verliehen, nicht den für Naturwissenschaften. Den Doktorgrad habe von Braun allein den guten Beziehungen seiner Familie zu verdanken.

Wernher von Braun promovierte 1934 in der Tat zum Dr. phil. (ein Titel, der bis heute noch an einige Universitäten auch für Doktoren der Naturwissenschaften vergeben wird) bei Erich Schumann, Ordinarius und Direktor des Zweiten Physikalischen Institutes der Universität Berlin und Karl Becker, Honorarprofessor für den Bereich Wehrwissenschaft an der Universität Berlin und ordentlicher Professor für Technische Physik an der TH Charlottenburg (heute Technische Universität) Berlin. Seine Dissertation Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zu dem Problem der Flüssigkeitsrakete war zwar in Nazideutschland Geheimsache, wurde nach dem Krieg aber publiziert, in Deutschland 1959 bei der "Deutsche Gesellschaft f. Raketentechnik u. Raumfahrt e.V." als Sonderheft der Fachzeitschrift "Raketentechnik und Raumfahrtforschung". 2007 erschien ein Reprint beim Elbe-Dnjepr-Verlag, ein Faksimile der Dissertation als pdf kann nach vorheriger Anmeldung von der Website Aggregat 2 des
"Sächsisches Verein für historisches Fluggerät e.V." heruntergeladen werden.
Ich kann also selbst nachsehen, ob von Braun tatsächlich eine "Dünnbrettbohrer-Diss" ablieferte, wie Dr. Schröder behauptete.

Von Braun mit "cum laude" benotete Dissertation hat in der Zeitschriften-Ausgabe einen Umfang von 48 Seiten, das Typoskript ist ca. 150 Seiten lang. Das mag wenig erscheinen, ist ist bei Arbeiten der Experimentalphysik allerdings keineswegs ungewöhnlich. Von einer "Bildersammlung" kann schwerlich die Rede sein, es sei denn, man nennt die seitenlangen Diagramme und Formeln so. Mir jedenfalls vermittelt sie den Eindruck einer typischen Dissertation im Bereich der experimentellen Naturwissenschaft, wo die Arbeit in erster Linie im Labor oder auf dem Prüfstand, und nicht am Schreibtisch geleistet wird.
Soweit ich es beurteilen kann, leistete von Braun echte Pionierarbeit. Er kannte und zitierte zwar die theoretischen Vorarbeiten Hermann Oberths, aber sonst war er bei seiner Arbeit auf sich und seine unmittelbaren Mitarbeiter gestellt. Es gibt zwar noch die entfernte Möglichkeit, dass jemand anders für ihn die Arbeit gemacht hat, aber 1934 gab es auf der ganzen Welt nur eine handvoll Menschen, die dazu überhaupt in der Lage gewesen wären.
Promotionsbetrug ist also extrem unwahrscheinlich, und eine "Arbeit auf dem Niveau eines Studenten im zweiten Semester" ist sie nun wirklich auch nicht. Vielleicht vermisste Dr. Schröder als Mathematiker bei den Differenzialgleichungen die mathematische Eleganz - Mathematiker halten Physiker, vor allem Experimentalphysiker, in dieser Hinsicht bekanntlich gern für schludrig und unbeholfen. Vielleicht meinte er ja, dass die verwendete Mathematik von Mathe-Studenten spätestens nach dem zweiten Semester beherrscht würde. Für erheblich wahrscheinlicher halte ich es, dass Dr. Schröder die Arbeit Dr. von Brauns nie selbst gelesen hatte, was, da er ja als Steuerungsfachmann arbeitete, und sein Fachgebiet die in von Brauns Dissertation untersuchten Verbrennungsvorgänge in Raketentriebwerken nur am Rande berührte, nicht verwunderlich wäre.

Dr. Paul Schröder hat, was die Dissertation von Brauns angeht, also gelogen oder, was auch nicht viel besser ist, aufgrund von Gerüchten drauflos spekuliert, was kein gutes Licht auf ihn wirft!

Eine weitere Unstimmigkeit ist, dass der Projektleiter Walter Dornberger von Braun jahrelang alle Kompetenzen entzogen hätte. Schröder schließt das aus der angeblichen Abwesenheit von Brauns bei wichtigen Sitzungen. Allerdings gehörte Schröder nach 1939 nicht mehr zum Entwicklungsteam, konnte also gar nicht aus erster Hand wissen, an welchen Sitzungen von Braun, immerhin technischer Direktors der Versuchsanstalt, seitdem teilnahm.

Was von der "Sensation" bleibt, sind altbekannte Tatsachen. Von Braun war kein herausragender Experte, kein Spitzenwissenschaftler oder -techniker auf einem bestimmten Gebiet. Er war Generalist, ein technischer Manager, der den Überblick über das Projekt behielt und Detailfragen delegierte. Es ist also nichts Besonderes, wenn er sich auf dem Gebiet etwa der Steuerung weit weniger gut auskannte als seine Mitarbeiter. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass von Braun von seinem Vorgesetzten und Freund Dornberger zurückgepfiffen wurde, weil er dazu neigte, sich zu viel um technische Details zu sorgen. Es ist eine erst recht banale Feststellung , dass von Braun Fehler machte und Irrwege (auch technische, politische und ethische sowieso) einschlug.
"Niemand hat behauptet, von Braun hätte die Flüssigkeitsrakete erfunden oder die V2 allein entwickelt."
Jesco von Puttkamer in Dieser Mann - ein Schwindler? ("Die Welt").

Der Archivfund von Schröders Dossier ist eine zeitgeschichtliche Marginalie. Die Geschichte der V-Waffenentwicklung muss nicht einmal in Details nicht neu geschrieben werden.

Mittwoch, 16. März 2011

Warum sind wir dumm?



Das geht über den konkreten Fall "Atomenergie" hinaus. Warum bin ich (und sind andere) dergestalt manipulierbar, dass wir uns gegen eigene, vitale Interessen entscheiden?

Einen Teil der Antwort gibt der kleine Spot schon selbst: "Meinungsmache - aufgebaut auf sorgsamer Beobachtung der Zielgruppe - funktioniert!"
Wie sie funktioniert, hat Albrecht Müller in seinem sehr empfehlenswerten Buch Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen dargestellt.
Wie die Meinungsmache "kontra Ausstieg" vielleicht im Fall der Fuskushima-Katastrophe und des Atomausstiegs aussehen könnte, beschreibt "Susanne" in ihrem Kommentar zu Claudia Klingers Blogbeitrag Moratorium: Beruhigungspille und Entlarvung vieler Lügen. Ob es so kommt, wie "Susanne" befürchtet, hängt weniger davon ab, welche und wie große Medienkampagnen usw. der Klüngel aus (Partei-)Politik und Energieoligopolisten fahren wird, sondern von den Reaktionen des Volkes, von unseren Reaktionen.
Meinungsmache erklärt nur die Hälfte des Problems, denn wie in der Produktwerbung muss die Zielgruppe zu "packen" sein, es muss potenzielle "Kunden" geben, die den Manipulatoren ihre Botschaft "abkaufen", propagandistisches Dünnblech für "bare Münze" nehmen.

Ich könnte jetzt, wie Burks es tut einfach sagen:
Die breite Masse denkt nicht rational, sondern instinktiv wie ein Tier. Argumente zählen nicht. Man kann sie in jede Richtung manipulieren, vor allem in Deutschland mit seiner obrigkeitshörigen Tradition.
(Wobei sich gegen die menschliche Natur wenig, aber gegen Ausprägungen wie die deutsche obrigkeitshörige Tradition usw. Einiges tun ließe.)

Wie kommt es, dass, sozusagen in Umkehr des Prinzips der Schwarmintelligenz, hundert Menschen zusammen so viel dümmer sein können als die meisten von ihnen alleine? Wieso die "breite Masse", wie schon Adolf H. in einem Anfall von Ehrlichkeit schrieb, leichter zu belügen ist als ein halbwegs intelligenter Einzelner?

Ein Artikel aus der neusten Ausgabe des populärwissenschaftlichen Magazins "Bild der Wissenschaft" stimmt da wenig optimistisch. "Betonkopf auf dem Wendehals" ist der Artikel von Rolf Degen überschrieben, und "Neue Experimente zeigen, dass sich Menschen rasch dem Gruppendruck beugen und voller Überzeugung die Unwahrheit verbreiten. Und: wer am heftigsten lügt, wirkt am glaubwürdigsten." Letzteres stimmt übrigens in dieser allgemein gehaltenen Form nicht. Was ein Problem des Wissenschaftsjournalismus beleuchtet: Wer vereinfacht, verfälscht damit oft auch.
Nun hege ich eine gewisse Skepsis gegen sozialpsychologische Experimente, wie ich eine gewisse Skepsis gegenüber der wissenschaftsjournalistischen Aufbereitung der Ergebnisse solcher Experimente hege. Wobei "Bild der Wissenschaft" um einige Zehnerpotenzen glaubwürdiger und seriöser ist als die BILD (ohne Wissenschaft), und ich Degen für einen seriösen und sorgfältigen Wissenschaftsjournalisten halte.

Das Fazit aus dem Artikel ist:
  • Durch kollektives Schweigen können sich Außenseiterpositionen durchsetzen.
    Degen nennt das Beispiel der Alkoholprohibition in den USA, die nur deshalb 14 Jahre fortbestehen konnte, weil der einzelne Amerikaner fürchtete, mit seiner Ablehnung allein dazustehen. (Wobei meiner Ansicht nach der Effekt nicht eingetreten wäre, wenn Alkoholkonsum in der Gesellschaft der USA nicht von vornherein extrem negativ, als "unmoralisch", bewertet gewesen wäre. Z. B. konnten sich Gesetzesvorstöße zur Prohibition in Schweden nicht durchsetzen, in Dänemark war selbst das schwedischen Modell der staatlichen Alkoholkontrolle politisch nicht durchsetzbar.)
  • Unter sozialem Druck laufen viele Menschen zur Mehrheitsmeinung über. Gruppendruck wirkt, was nicht überrascht, dann besonders stark, wenn die Mehrheit heftig auf den "Abweichlern" herumhackt. Soweit ist das Allgemeinwissen für jeden, der sich für "Meinungsmache" interessiert, aber:
  • Mitläufer, die ihre Meinung geändert haben, wirken erstaunlicherweise überzeugender als Standhafte.
Es ist dieser letzte Punkt, der vielleicht erklärt, wieso wir - ich nehme mich nicht aus - uns immer wieder für "dumm" verkaufen lassen. Die wahrscheinliche Erklärung ist einfach: wer unter Gruppendruck "umkippt" und sich der Norm unterwirft, ist unsicher, versucht das zu überspielen, tritt nach außen hin besonders entschieden auf, aus der Befürchtung, dass die anderen merken könnten, dass sie sich angebiedert hätten. Unbeteiligte bemerken diese Entschiedenheit und halten die "Wendehälse" für besonders überzeugend.
So werden sie zu Vollstreckern von Normen, die keiner haben will.
Ich ergänze:
So können sie auch zu Vollstreckern von Normen werden, die nur sehr wenige haben wollen.
"Wendehälse" und Opportunisten sind also für jeden "Meinungsmacher" attraktiv - es ist erst einmal wichtig, möglichst breite, wenn auch vielleicht nur oberflächliche oder sogar gespielte Zustimmung zu erzielen - der "Rest" fällt dann auch noch um, bis auf ganz wenige, die dann als "halsstarriger Querulanten" ausgegrenzt werden. "Falsche" Überzeugung kann also "echte" Überzeugung nach sich ziehen.

Nicht ganz neu, aber aufs Neue bestätigt, ist die Einsicht, dass die Manipulierbarkeit durch Gruppendruck nicht von Einstellungen wie "besonders rebellisch" oder "besonders mitfühlend" und auch nicht von Glaube, Bildungsniveau oder politischer Einstellung abhängt. (Das ist keine Entschuldigung für die "deutsche Obrigkeitshörigkeit", könnte aber erklären, wie sie überhaupt zur "Tradition" werden konnte, und wieso sie sich von "rechts" bis "links" in allen politischen Lagern findet.)
Da sie um die Stärke des Gruppendrucks wissen, operieren Meinungsmacher gerne mit (ruhig einmal fingierten) Umfrageergebnissen. ("80% Zustimmung zu Karl-Theodor zu Guttenberg!")

Warum wir "Herdentiere" sind, erklärt sich zwanglos daraus, dass unsere Vorfahren in Herden bzw. größeren Gruppen lebende Primaten waren. Auch in der bereits menschlichen Geschichte war es oft so, dass unsere Vorfahren oft in Gruppen steckten, die auf Gedeih und Verderb auf die Loyalität jedes einzelnen Gruppenmitgliedes angewiesen waren. Umgekehrt konnte kaum jemand auf Dauer außerhalb der Gemeinschaft überleben. Die Furcht, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden, sitzt uns tief im limbischen System.
Das heißt aber noch lange nicht, dass Meinungsmacher uns beliebig in den Händen hätten!

Die Psychologin Linda SKita von der University of Minesota konstatiert, dass nur Menschen, bei denen gewisse Themen moralisch stark besetzt sind, dem Gruppendruck widerständen. Das erklärt die Standhaftigkeit von Umweltschützern, aber auch die von religiösen Fundamentalisten.
Wer der festen Überzeugung ist, dass etwas richtig oder falsch ist, dass etwas "so sein muss" oder "so nicht sein darf", bleibt trotz widerstrebender Mehrheit seinen Überzeugungen treu.
(Was unter politisch-praktischen Gesichtspunkten leider auch heißen kann, dass sich Fanatiker gegen "Normale" durchsetzen oder wenigstens mit ihrem Fanatismus durchkommen.)

Folgt man dem Psychologen Dale T. Miller, dann tolerieren Menschen ungerechte soziale Bedingungen, dulden schlechte Entscheidungen und unterlassen das Drängen auf Reformen, weil sie annehmen, dass die Mehrheit ihre Meinung nicht teilt, und weil sie glauben, dass die Enthüllung der Wahrheit ihnen außer Beschämung nichts bringen wird.

Daher ist der erste Schritt aus der selbst verschuldeten Dummheit die Frage: "Weiß ich überhaupt, was die Mehrheit wirklich denkt?"

Es meiner Ansicht nach keine schlechte Idee, wie Miller vorschlägt, zu versuchen, im Einklang mit unseren privaten Ansichten zu handeln und auch nach außen zu unseren Gefühlen zu stehen.
Wer zu einer Gruppe gehört, sollte sich als "Advocatus Diaboli" betätigen und Gegenargumente ausloten. Personen, die übereifrig auf die Parteilinie pochen und sich vor Zweifeln abschotten, sollten unsere Alarmanlagen schrillen lassen.

Das hilft alles nicht immer im Kampf gegen die "kollektive Dummheit" (die manchmal, das darf man auch nicht übersehen, auch "kollektive Weisheit" sein kann). Aber es ist ganz hilfreich, wenn man uns für dumm verkaufen will.

Mittwoch, 2. März 2011

Meinungsmache funktioniert

Hunderttausende wollen sich mit dem Rücktritt von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg nicht abfinden (stern.de) - Ja, Meinungsmache funktioniert - "BILD dir deine Meinung".
Und "konservative Apo"? Liebe stern.de, das müsstet ihr eigentlich besser wissen. KTG ist ein Verräter an konservativen Werten - Ehrlichkeit, Ehre, Anstand, Bescheidenheit, Fleiß? - "Konservativ" ist bei dem nur der Schnitt des Blazers!

Albrecht Müller von den "NachDenkSeiten" hat recht: Die Mehrheit der Menschen ist der gezielten Agitation oft hilflos ausgeliefert – auch dank der Unfähigkeit der Medien, Widersprüche aufzudecken und aufzuklären. Was natürlich auch den "Stern" und "stern.de" betrifft.
Meinungsmache funktioniert; mit ausreichend finanziellen Mitteln und den richtigen Verbindungen, und dem Wissen, welchen "Knöpfe" man bei wem drücken muss, kann man sich durchaus eine eigene "Bürgerbewegung" kaufen.
Aber dazu gehören noch andere, die, die sich allzu gerne belügen lassen.
Gern belügen lassen sich Aufsteiger, die gern glauben, jede hätte die gleichen Chancen gehabt. Gern belügen lassen sich die "Konservativen" (die "Radikalen der Mitte") , die zu gern glauben, ihre Doppelmoral sei normal und akzeptabel. Gern belügen lassen sich die wirtschaftlich bedrohten Mittelschichtler, wenn ihre Angst beschwichtigt und ihr Zorn auf "die da draußen" und "die Schmarotzer da unten" umgelenkt wird. Gern belügen lassen sich die Abgehängten, Armen, Chancenlosen, weil sie die Wirklichkeit schon lange nicht mehr ertragen.

Was das für Folgen hat, hat Haekelschwein schön sarkastisch auf "Netzpolitik" kommentiert.
Wer nur Boulevardmedien konsumiert, aber kaum seriöse Zeitungen oder Bücher liest, für den ist alles unterhalb von Superstars, Sensationen und Riesenwirbeln jenseits der Wahrnehmungsschwelle, für den gibt es nur total toll oder total scheiße.
Was tun? Haekelschwein schlägt vor:
Statt Häme über die Guttenberger auszuschütten, sollten sich Bildungsbürger und etablierte Parteien überlegen, wie sie die Alltagspolitik verständlicher, aber auch mal spannender und begeisternder verkaufen könnten, damit nicht nur Buchstabenfresser sich dafür interessieren, sondern auch Menschen mit weniger Abstraktionsvermögen. Warum kann eine Regierungserklärung nicht so mitreißend sein wie eine Apple-Keynote? Man kann doch politische Themen auch mal mit Schwung und Begeisterung verkaufen. Die Boulevardmedien wiederum sollten sich fragen lassen, ob Personalisierung und ständiges emotionales Dauerfeuer der einzige Weg sein muss, die Zielgruppe anzusprechen, oder ob man nicht mal ein paar Gänge zurückschalten kann; wer ständig Überwürztes isst, verliert das Gespür für die feineren Geschmacksnuancen.
Das Dumme ist nur: die Boulevardmedien verdienen ganz gut am "überwürzen", finanziell und politisch. Und "Bild" wurde nicht von Bauarbeitern, Hausfrauen und Frührentnern, die es oft nicht besser wissen, zum "Leitmedium" gemacht, sondern von denen, die sehr wohl wissen, was von "Bild" zu halten ist.

Judith Holofernes hat recht: jeder "ironischer Bildleser", der weiß, wie dieses Blatt lügt, und es trotzdem kauft, weil es "unterhaltsam / schön gaga / popkulturell oder herrlich doof" ist - oder auch, weil die BILD einen spannenden Sportteil hat - ist einer zu viel. Auch noch bezahlen für die Lügen? Nein!

Samstag, 5. Februar 2011

Das letzte Tabu

Ein Gedankenexperiment, angeregt durch einen Blogbeitrag von Ace Kaise: Til Schweiger fordert... Ja, was eigentlich? .

Til Schweiger wütet bei Lanz gegen Sexualstraftäter
Man stelle sich vor, Til Schweiger hätte in einer Talkshow gefordert, Anlagebetrüger nach verbüßter Strafe per Internet-Pranger kenntlich zu machen. Immerhin hätten diese Kriminellen Tausenden ihrer Opfer die gesichert geglaubte wirtschaftliche Existenz ruiniert und sind auch nach verbüßen ihrer Strafe mit ihrem Wissen über Finanzmärkte und ihrer Fähigkeit, Gutgläubige über den Tisch zu ziehen, nach wie vor gefährlich.

Absurd? Nicht unbedingt. In späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war es üblich, einen Betrüger körperlich zu "zeichnen", durch Aufschlitzen der Nase oder eines Ohrs (daher kommt der Begriff "Schlitzohr"). Sicherlich könnte der eine oder andere durch eine "Betrüger-Warnliste" vor dem Ruin durch Anlagebetrug gerettet werden. Aber eben so sicher würde sie in der Praxis jede Rehabilitation unmöglich machen.

Til Schweiger würde wahrscheinlich antworten, es ginge schließlich nicht um schnödes Geld, sondern um Kinder. Da müsse man einfach, nach dem Vorbild der USA, doch das "Gutmenschentum" an den Nagel hängen und im Internet die Aufenthaltsorte entlassener Sexualstraftäter veröffentlichen. Da könne er sehe, ob in seiner Nachbarschaft ein Sexualstraftäter lebe oder nicht.
Schweiger ist Familienvater und hat Angst um seine Kinder. Aber das ist meines Erachtens nicht der entscheidende Grund, aus dem er so viel öffentliche Zustimmung für seinen Wutausbruch erhielt.

Bekanntlich werden die meisten Sexualverbrechen an Kindern von Verwandten, guten Bekannten und Familienangehörigen verübt. Laut Statistik des BKA sind das 96 % - nur 4 % der Täter gehören zu denen, die Schweiger um seine Kinder fürchten lässt.
Genau so bekanntlich wird diese traurige Tatsache gern verdrängt. Die Täter, die so etwas schreckliches wie Kinder vergewaltigen tun, sind (in der Regel) "normale" Menschen und meistens "normale Menschen, die wir kennen".
Daher ist es so beruhigend, sich auf "abnorme" Sextäter zu konzentrieren, die einem fremd sind, und die daher gekennzeichnet werden müssen.

Hinzu kommt, dass Schweiger mit einem Teil seines Wutausbruches einen tatsächlichen wunden Punkt berührt: Deutschland ist in der Tat eine "Tätergesellschaft", wie es eine Mitarbeiterin der Opferberatungsstelle "Wildwasser" ausdrückt. Es beginne damit, dass das Opfer einer Sexualstraftat ein Glaubwürdigkeitsgutachten vorlegen müsse. Vor allem die psychischen Schäden des Opfers werden kaum gewürdigt. Es wird in der Tat weitaus mehr für die Täter als für die Opfer getan.
Beifall für Til Schweigers Wutrede gegen Sex-Täter (der Westen)
Das ist allerdings kein Zufall. Sowohl die Gesetze wie die öffentliche Empörung konzentriert sich auf die Täter, wobei in den Boulevardmedien (und das können inzwischen sogar "An-sich-Qualitätsmedien" sein) offen Rachephantasien gepflegt werden. Es ist offensichtlich, dass eine harte Strafe für den Täter, womöglich die Todesstrafe, den Opfern auch nicht hilft.
Auch Till Schweigers Vorstellung, es müsse einen Internetpranger für Sextäter geben, ist faktisch täterfixiert! Denn ob das eine wirksame Prävention wäre, darf nach den Erfahrungen in den USA bezweifelt werden.

Es gibt aber noch einen tieferen Grund, wieso Schweiger mit diesem Wutausbruch so gut punkten kann - während er mit einen ähnlichen Ausbruch zu einem anderen Thema sich wahrscheinlich unmöglich gemacht hätte. Es ist der selbe Grund, wieso z. B. der Diskurs über Internetsperren immer und immer wieder auf das Thema "Kinderpornos" im Internet kommt.

Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern ist, so der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, das einzige Tabu, das nach den Zeiten der sexuellen Aufklärung blieb.
Ich bin allerdings der Ansicht, dass es mindestens ein weiteres noch allgemein wirksames sexuelles Tabu gibt: das Inzesttabu. Selbst eindeutig einvernehmlicher Sex unter nahen Verwandten ist nach wie vor strafbar - obwohl es kein Opfer gibt. Das Inzesttabu schützt in gewisser Weise sogar eine große Tätergruppe der sexuellen Gewalttäter gegen Kinder, die der Eltern und Geschwister.

Ein Tabu ist etwa anderes als eine gesellschaftliche Ächtung. Raubmord ist allgemein geächtet, es gibt praktisch niemanden, der für einen Raubmörder auch nur ein Quentchen Verständnis hätte. Trotzdem umgibt das Verbrechen "Raubmord" kein Tabu.
Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos. Mit Tabu belegte Handlungen unterliegen stillschweigenden Übereinkünften, die tiefer in das allgemeine Verhalten eingreifen als Gesetze und geschriebene und ungeschriebene Regeln und Normen.
Tabus gewährleisten eine nahezu maximale Übereinstimmung des Verhaltens und Handelns einer sozialen Gruppe - wer ein Tabu verletzt oder auch nur hinterfragt, wird ausgegrenzt. Nicht allein der Täter ist "abgrundtief böse", sondern auch jeder, der wagt, den Täter nicht für "abgrundtief böse" zu halten. Auch weil normalerweise niemand enge Bekannte oder Familienangehörige für durch und durch "böse" hält, konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf nur vier Prozent der potenziellen Täter.

Tabus haben aber auch eine andere Seite: sie stiften Konsens, sie halten eine Gemeinschaft zusammen. Tabus stabilisieren das Machtgefüge einer Gesellschaft, denn Tabus beruhen auf existenziell empfundener, verinnerlichter Strafangst.
Damit gerät das einzige verbliebene Sexualtabu automatisch in den Fokus, wenn z. B. Politiker Zustimmung zu Gesetzentwürfen erzielen wollen, die beim Wahlvolk wenig beliebt sind. Mit dem Thema "Kinderschänder" erreicht man die am Leichtesten.
Das Inzesttabu wäre dafür nicht mobilisierbar, denn Inzest "im Internet" geht nicht.

Interview mit Volkmar Sigusch Kindesmissbrauch "Es muss endlich um die Opfer gehen"

Nachtrag: Es kursieren unterschiedliche Angaben darüber, wie hoch der Anteil der "fremden und unbekannten" Täter im Vergleich zu Tätern aus dem "Nahbereich" sind. Die von mir oben genannten 96 % der Sexualverbrechen an Kindern, die von "Verwandten, guten Bekannten und Familienangehörigen" hängen sehr davon ab, wie diese Gruppen definiert werden - und auch davon, welche Taten als "Sexualverbrechen" aufgefasst werden. Hinzu kommt eine Dunkelziffer, über deren Höhe es weit voneinander abweichenden Schätzung gibt.
Bei der Kriminalstatistik muss man sich vor Augen halten, dass darunter nur die Taten fallen, die angezeigt wurden. Je näher der Täter dem Opfer steht, desto geringer ist die Chance, dass es zu einer Anzeige kommt.
Hart gesagt: diese Zahl ist in beide Richtungen manipulierbar.

Unabhängig von den Zahlen gilt:
Klischee und Wirklichkeit: Während Kinder auch heute immer noch vorwiegend vor dem "fremden Mann" gewarnt werden, tritt sexueller Missbrauch durch Fremde vergleichsweise selten auf. Fremden Tätern sind in der erster Linie exhibitionistische und damit die eher harmlosen Formen des Missbrauchs zuzurechnen. Allerdings begehen (zumeist) fremde Täter auch die - sehr seltenen - Extremtaten (Entführung, Missbrauch, Misshandlung und schließlich sogar Tötung). Einen totalen Schutz vor solchen Gewalttaten gibt es nicht; dennoch sind eine fortwährende Angst oder gar Panik weder angebracht noch hilfreich. Denn: Nicht verängstigte, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Kinder, sondern mutige, starke und selbstbewusste Kinder sind am wirksamsten vor sexuellem Missbrauch geschützt.
(Aus: Polizei-Beratung: Sexueller Missbrauch von Kindern)

Mittwoch, 29. Dezember 2010

“Thor”-Film: Schwarzer Heimdall ärgert Rassisten

Die Comic-Verfilmung "Thor" dürfte, nach allen verfügbaren Informationen, ein grottendämlicher Streifen sein (hoffentlich ist er wenigstens "gut doof"). Als bekennender Anhänger der Götter Asgards (der echten!), der Superhelden-Comics durchaus nicht abgeneigt ist (gut, Spiderman ist cooler als der Comic-Thor) und der gut gemachtes Popcorn-Kino zu schätzen weiß, lassen mich schon Pressetext und Trailer vermuten, dass der Film nicht nach meinem Geschmack sein dürfte.

Aber eines finde ich an diesem Film schon jetzt wirklich Klasse. Die Rolle des Asgard-Wächters Heimdall (und Träger des Gjallarhorns) wurde mit dem dem britischen Schauspieler Idris Elba besetzt. Und der ist schwarz.
Das wäre an und für sich nicht der Rede Wert, denn Jaimie Alexander, die Sif spielt, ist dunkelhaarig, obwohl Sifs typisches Attribut die goldene Haare sind. Über Heimdall ist nur bekannt, dass er goldene Zähne hat. In der Völuspa wird Heimdall "Vater aller Menschen" genannt. In der kürzeren Seherinnenrede (Völuspa in Skamma) heißt es, er sei "sippenverwandt sämtlichem Volk". Rückschlüsse auf die Hautfarbe lässt das nicht zu.
Davon abgesehen entspricht das Aussehen der Götter im Film nicht so ganz der Darstellung im Marvel-Comic - und ganz gewiss nicht den Vorstellungen, die sich heidnische Nordgermanen vor über 1000 Jahren von ihren Götter machten. Was fürs Popcorn-Kino schnuppe ist.

Also - Heimdall ist im "Thor"-Film dunkelhäutig. Na und?

Gäbe es da nicht Rassenreinheitsfanatiker, die das anders sehen. Würden die Typen das nicht so ernst meinen - es wäre zum Schreien komisch: Boycott Thor by Marvel Studios.
Ähnliche Ansichten vertritt die der "Tea Party"-Bewegung nahestehende "Council of Conservative Citizens" (CCC).
Die CCC ist nicht ganz glücklich über Elbas Auftritt in "Thor". Auf der "Statement of Principles"-Seite der CCC heißt es, "die Vereinigten Staaten sind ein europäisches Land und die Amerikaner sind Teil der europäischen Völker" (das dürften die Indianer etwas anders sehen) und sind selbstredend gegen "Rassenmischung" (das sahen die alten Wikinger deutlich anders).
Die CCC schreibt auf ihrer Website, dass Marvel den "Krieg gegen die nordischen Mythologie erklärt hätte, mit "einer beleidigenden Multi-Kulti-Überarbeitung". Komisch nur, dass die CCC überzeugt ist, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ein christliches Land seien, und dass eine Regierung und die öffentliche Führungskräfte auf allen Ebenen christlichen Glauben und Werte widerspiegeln müssen. Eigentlich sollte diesen "Konservativen" die nordische Mythologie so was von egal sein (ist sie nicht, weil es gerade ins rassenquasslerische Weltbild passt).
Denn eines dürfte klar sein: was die "Boykott Thor"-Leute und die CCCs wirklich motiviert, ist nicht ihre Liebe für altnordische Mythologie. Sondern Rassismus.

Thor lässt Nazis durchdrehen (11k2)
Racists Totally Freak Out Over Idris Elba Playing Norse God in 'Thor' (comicsalliance).
(Auch wenn ich mit "a made-up mythological god who never existed" nicht so ganz einverstanden bin ... )

Montag, 29. November 2010

Alle Urheber sind gleich, aber einige Urheber sind gleicher

Heute findet die öffentliche Expertenanhörung der Enquête-Kommission zum Thema "Entwicklung des Urheberrechts in der digitalen Gesellschaft" statt. Einen Live-Stream sollte es beim Parlamentsfernsehen geben.
(Heute in der Enquête: Das Urheberrecht (netzpolitik))

Ein heikler Punkt ist die Frage, ob eine Verschärfung des Urheberrechts und seine "robuste" Durchsetzung (etwa über die "Three Strikes"-Regelung für Downloads illegaler Kopien) tatsächlich den Urhebern (Künstlern, Autoren) zugute kommt, oder nicht doch allein den Inhabern der Verwertungsrechte. Eine weitere heikle Frage ist, ob das Urheberrecht allen Urhebern in gleicher Weise zugute kommt - oder ob einige Urheber (die Großverdiener) doch "gleicher" sind.

Mathias Spielkamp antwortete in seinem Blog bereits auf den Fragenkatalog zur öffentlichen Anhörung Urheberrecht der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft am 29. November: Entwicklung des Urheberrechts in der digitalen Gesellschaft – Antworten auf die Fragen zur öffentlichen Anhörung Urheberrecht der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft

Für die Frage, ob das Urheberrecht allen Autoren gleichermaßen nützt, ist Spielkamps Antwort sehr aufschlussreich:
I.10.b) Welche Tendenz lässt sich zwischen dem Einkommen aus sogenannter Erst- und Zweitverwertung etwa durch Verlage insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Buy-​Out-Verträge feststellen? (B’90/ DIE GRÜNEN)

Antwort: Die Frage, welchen Einfluss urheberrechtliche Regulierungen auf die wirtschaftliche Lage von Freiberuflern haben, ist äußerst schwer zu beantworten. Der bisher methodisch am weitesten entwickelte und damit aufschlussreichste Versuch wurde von Kretschmer und Hardwick unternommen, die in einer vergleichenden Umfrage unter britischen und deutschen „writers“ (im Folgenden „Autoren“) herauszufinden versuchten, welcher Anteil am Einkommen der Autoren auf der Basis des Urheberrechtsschutzes zustande kommt.

Die Umfrage unter 25.000 Autoren in Deutschland und Großbritannien ergab für professionelle Autoren (definiert als Autoren, die mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Schreiben verbringen) in Deutschland im Jahr 2005 folgende Ergebnisse (Auswahl):
  • Sie erzielten ein mittleres Einkommen von 12.000 Euro („median income“, also der Wert, der die Stichprobe in zwei Hälften teilt, nicht zu verwechseln mit dem Durchschnittseinkommen). Das entsprach 42 Prozent des mittleren Nettoeinkommens aller deutschen Erwerbstätigen.
  • Das Einkommen aus tatsächlicher urheberrechtlicher Nutzung (aus Tantiemen der VG Wort) ist stärker verzerrt als alle anderen Einkommensarten: der Gini-Koeffizient1 für das Einkommen aus Autorentätigkeit ist 0,52, für das vollständige individuelle Einkommen ist 0,43 und für das Haushaltseinkommen ist 0,42. Der Gini-Koeffizient für das aus der VG-Wort-Ausschüttung erzielte Einkommen liegt bei 0,67. Das legt nahe, dass die momentane Urheberrechtsregulierung das Risiko der Ungleichverteilung verschärft, so Kretschmer und Hardwick. Die VG Wort hat im Jahr 2005 46.100.528 Euro an 94.101 Autoren ausgeschüttet, was ein Durchschnittseinkommen von 490 Euro und ein mittleres Einkommen von 197 Euro bedeutet.
  • Autoren, die mit ihren Verlagen bzw. Produzenten über das Honorar verhandeln, verdienen etwa das Doppelte dessen, was andere Autoren einnehmen. Die Ursache dafür kann nicht genau geklärt werden; Kretschmer und Hardwick gehen davon aus, dass es sich um ein „two way relationship“ handelt: Publishers or producers may only listen to authors with bargaining power – but equally, engaging in bargaining may increase the author’s bargaining power. (Verlage hören unter Umständen nur auf Autoren mit einer gewissen Verhandlungsmacht – gleichzeitig kann zu einer verbesserten Verhandlungsposition führen, überhaupt erst Verhandlungen zu führen.)
  • Verstärkte Verwertung im Internet hat nicht dazu geführt, dass Autoren mehr verdienen. 14,7 Prozent der britischen und 9,2 Prozent der deutschen Autoren haben Zahlungen für Internetverwertungen ihre Werke erhalten.
  • Das typische Einkommen der Autoren ist seit dem Jahr 2000 gefallen (sowohl in Deutschland, als auch in Großbritannien).
Es stellt sich also heraus, dass das Einkommen aus urheberrechtlicher Nutzung zum einen gering ist, zum anderen stark zugunsten der stärksten Marktteilnehmer verzerrt. Dabei ist zu beachten, dass Kretschmer und Hardwick unterscheiden zwischen Urheberrechts- und Nicht-Urheberrechtseinkommen („copyright and non-copyright earnings“), und Urheberrechtseinkommen als den Teil des Einkommens definieren, der aus Zahlungen der Verwertungsgesellschaften für abgabepflichtige Zweitnutzungen rührt, nicht jedoch vertraglich vereinbartes Einkommen. Diese Einschätzung kann vor allem aufgrund der Analysen zu Urhebervertragsrecht und AGB-Regelungen geteilt werden, da sie nahe legen, dass das Urheberrecht – zumindest derzeit – die Verhandlungsposition der Autoren nicht stärkt.
Im Bereich "Musik" dürfte die Verzerrung zugunsten der stärksten Marktteilnehmer noch erheblich deutlicher sein. Während die Regelungen der VG Wort für die Kleinverdiener unter den Schreiberlingen (also die meisten) einigermaßen fair sind, trifft das auf die GEMA ganz und gar nicht zu: Die Künstlertantiemen werden nach einem hochkomplizierten "PRO-Verfahren" berechnet, das Großkünstler, die ohnedies bereits hohe Einnahmen erzielen, bevorteilt, während "kleinere" Künstler und Bands benachteiligt werden.

Donnerstag, 19. August 2010

Ausweichthemen

Es gibt Themen, die sind wichtig und brisant.
Datenschutz zum Beispiel.
Sie liegen buchstäblich in der Luft. Es ist einfach nicht möglich, sie zu ignorieren.

Aber - diese Themen sind unbequem. Greift man sie als Politiker auf, dann besteht die Gefahr, Unterstützer und Parteispender zu vergraulen, sich beim Wählerklientel unbeliebt zu machen, sich innerhalb der eigenen Partei Feinde zu machen, dem politischen Gegner eine "Blöße" geben.
Greift man sie als Journalist auf, dann macht man sich bei Politikern unbeliebt, setzt Kontakte aufs Spiel, verärgert Werbekunden, riskiert Meinungsverschiedenheiten mit der Verlagsleitung.

Also sucht man sich ein Ersatzthema heraus. Ein scheinbar brisantes Thema am Rande des wirklich relevanten Themas. Brisante Themen im Bereich Datenschutz sind z. B. auf staatlicher Seite Vorratsdatenspeicherung (ja, immer noch nicht vom Tisch!), Volkszählung, ELENA, SWIFT-Abkommen mit den USA, Weitergabe von Fluggastdaten, elektronischer Personalausweis, Telekommunikationsüberwachung, aber auch der flächendeckende Einsatz von Überwachungskameras und vieles mehr. Auf Seiten der Privatwirtschaft: Mitarbeiterüberwachung, Weitergabe von Kundendaten, Weitergabe von Personaldaten, zweifelhafte Praktiken von Auskunfteien und Kreditüberwachungsinstituten, irreführende "Kundenkarten" und "Gewinnspielaktionen" zwecks Datengewinnung usw. und natürlich das riesige Fass des mangelhaften Datenschutzes bei "online communities" wie facebook.

Aber das sind Themen, mit denen man bei "wichtigen Leuten" und "relevanten Interessengruppen" anecken kann. Mit denen man sich unter Umständen unbeliebt macht.

Also wendet man sich lieber Themen zu, bei denen es zwar strenggenommen gar keine Probleme gibt - die aber unbedingt gelöst werden müssen! Und bei denen jemand der "Böse" ist, den man sowieso aus verschiedenen, teils nachvollziehbaren, teils auf Vorurteilen basierender Gründe sowieso nicht mag. Ja, ich meine das Sommertheater um Google Street View.

Geht es bei Street View überhaupt um Datenschutz, geht es überhaupt um Privatsphäre? Was mir vor allem auffällt, ist geradezu demonstrative Ahnungslosigkeit über Datenschutz und die tatsächliche Verletzung der Privatsphäre. Groteske Fehleinschätzungen bleibe da nicht aus. Aber die Angst vor Street View kommt aus der berechtigten, aber diffusen, Ahnung, dass die Privatsphäre missachtet wird. Das "Ausweichthema" Street View kanalisiert also Ahnungen und Ängste.
Nebenbei bemerkt, zeugt auch die "Lösung" Verpixelung von einer gewissen Weltfremdheit bzw. Phantasielosigkeit. Wäre ich Einbrecher und würde ich einen Bruch ausbaldowern, dann würden verpixelte Häuser mein Interesse daran wecken, die Häuser mal direkt in Augenschein zu nehmen. Denn im wirklichen Leben sind die ja nicht verpixelt - und die für einen erfolgreichen Bruch wirklich interessanten Details sind auf Street View ja sowieso nicht zu erkennen. (Foursquare wäre unter Umständen für potenzielle Einbrecher interessanter ...)
Es könnte auch andere geben, für die gerade verpixelte Häuser interessant sein könnten.

Street View ist nur eines von vielen Ausweichthemen, wenn die wirklich brisanten Themen zu heikel sind.

Dann geht es z. B. darum, ob die ausführliche Anamnese des homöopathisch tätigen Arztes von gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden sollten (und nicht etwa die homöophathischen Arzneimittel, die müssen sowieso privat bezahlt werden). Und nicht darum, wie die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wirklich gewährleistet werden könnte. Oder um "unvermeidliche" Rationierungen. Oder auch um hohe Arzneimittelpreise. Oder um "erfundene" Krankheiten und Überdiagnostik. Oder vieles mehr, was am Gesundheitswesen wirklich und kostenträchtig im Argen liegt.

Dann geht es um die "Hartz-IV-Chipcard" für Bildungsleistungen (eine ziemliche windige Sache, an der ganz gut verdient werden kann) - und nicht darum dass das Bundesverfassungsgerichts die Bundesregierung auffordert, bis zum Ende des Jahres für alle Kinder und Jugendlichen das Existenzminimum zu definieren und sicherzustellen.

Auch das die deutschen Medien in geradezu hetzerischer Wesen über Griechenlands Wirtschaftskrise berichteten (und mit Klischee wie "faule Griechen" usw. nicht sparte), war offensichtlich ein Ausweichthema. Die Wirtschaftskrise ist, trotz (Pseudo-)Aufschwung, auch in Deutschland nicht überwunden. Es war auch kein Hauptthema, dass die "Medizin" für die "Krankheit" Griechenlands, das von IWF und EU erzwungenen brutale Einsparprogramm, nach aller ökonomischen Vernunft zur Deflation führen würde.

Montag, 16. August 2010

"Wenn du nicht mindestens einmal deine Meinung über das Thema geändert hast, hast du schlecht recherchiert"

Lesens- und beherzenswertes aus Lars Fischblog: Wie man den Stand der Forschung herausfindet - 13 Tipps für Blogger
Wenn du nicht mindestens einmal deine Meinung über das Thema geändert hast, hast du schlecht recherchiert
Es ist alles ein bisschen komplizierter, als es am Anfang aussieht. Zusätzliche Informationen bedeuten neue Perspektiven. Wenn sich deine Perspektive auf das Thema während der Recherche nicht verändert, deutet das möglicherweise darauf hin, dass du wenig wirklich neue Informationen sammelst.
Diese Erfahrung mache ich auch immer wieder. Dieser besondere Merksatz triff nicht nur auf das Gebiet des Wissenschaftsjournalismus oder auf Wissenschaftsblogs zu, sondern überall, wo überhaupt recherchiert wird.

Ich will aber nicht verschweigen, dass solche Erfahrungen manchmal irritieren, vor allem dann, wenn sie den Bereich der "reinen Wissenschaft" überschreiten. Vor Jahren brachten mich Recherchen über den Leukämie-Cluster im Gebiet Geesthacht arg ins Schwimmen. Denn sie ergaben offensichtlich, dass nicht nur, wie ich erwartete, die Kernkraftsbefürworter ein "taktisches Verhältnis zu Wahrheit" haben, sondern auch die Atomkraftgegner.

Eine andere Erfahrung, die ich einige Mal machen musste: für erstaunlich viele Menschen ist jemand, der nicht genau mit ihrer Ansicht übereinstimmt, automatisch ein "Gegner". Ich wurde z. B. von einem nicht ganz unwichtigen Umweltpolitiker der "Linken" in die Ecke der bösen "Klimaskeptiker" gestellt. (Ein saudummer Begriff, der mich zu einer Satire ermunterte: Neue Verschwörungsbücher aus dem ARIO-Verlag Die 2. "Buchvorstellung": "Klimaskepsis: Klima – gibt es das überhaupt?")
Das heißt: wer, wie ich, hinsichtlich der Aussagekraft von Klimamodellen Zweifel hat (ohne deshalb die globale Erwärmung als solche oder die Wirkung von menschlichen Aktivitäten auf das Klima zu bestreiten), und vor allem auf das "apokalyptische Denken" mancher (nicht aller) Klimaaktivisten hinweist, gehört offensichtlich zu den "Bösen". (Wobei ich meine Ansicht zum Klimawandel und seinen Folgen an sich im Laufe der Jahre mehrmals geändert habe.)

Ich vermute, dass dieses Denken in "gut-böse"-Gegensätzen, in "entweder/oder"-Alternativen und, in gesteigerter Form, in der Annahme, bestimmte Handlungsweisen seien "alternativlos", kulturell bestimmt ist. Jedenfalls entspricht es nicht dem wissenschaftlichen Denken.

Aber Denken in einfachen Gegensätzen ist (auch aus kulturellen Gründen) einfacher zu vermitteln, als "sowohl-als-auch", "weder-noch" oder gar: "so einfach sind die Dinge nicht". Mehr noch: ich habe den Eindruck, dass wir in einer Kultur leben, die, entgegen ihrer beinahe täglichen anderen Erfahrung, auf "ewige und einzige Wahrheiten" gepolt ist. Wäre das anders, hätten Spekulationen, die metaphysischen Annahmen als physische Ursache physischer Tatsachen heranziehen, wie das "Intelligent Design" als vermeintliche Alternative zum neodarwinistischen Evolutionsmodell, keine Chance. Einfach, weil "I. D." die Kategorien zwischen Psysik und Metaphysik, zwischen"wissenschaftlichen Theorien" und "sinnstiftenden Mythen", verwechselt: "Intelligent Design" ist etwa so, als ob ich, als Asatrú, ernsthaft einen Donnergott wie Thor irgendwo in den elektrostatischen Prozessen eines Gewitters unterzubringen versuchen würde.
Aber da die in Rede stehende metaphysische Annahme eine "ewige (Glaubens)-Wahrheit" ist, nämlich die Annahme, es gäbe einen "Designer", sprich Schöpfergott, und die gut bestätigte Evolutionstheorie "nur" eine Theorie auf dem derzeitigen Stand des Wissens ist, hat die "ewige Wahrheit", auch wenn sie im konkreten Fall unsinnig ist, gegenüber der "Theorie" bei vielen Menschen einen emotionalen Vorsprung.

Es sind meiner Ansicht also nicht nur Zeitdruck und Oberflächlichkeit, die gründlichen Recherchen, die unweigerlich Überraschungen bereit halten, im Wege stehen. Es sind auch nicht immer verfestigte Vorurteile, ideologische Scheuklappen und Interessengebundenheit, die einem offenen Umgang mit Fakten im Wege stehen.
Es ist auch und gerade die Angst vor unangenehmen oder unbequemen Überraschungen.

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