"Alle reden vom Wetter" - Auch die Bahn

Am 7. Dezember stand das offizielle Jubiläum "175 Jahre Eisenbahn in Deutschland" an. Anlass für mich, auf einige Aspekte der Bahngeschichte hinzuweisen, die in der offiziellen Selbstdarstellung der Deutschen Bahn AG eher untergehen.

Heute würde diese kühne Werbeaussage aus dem Jahr 1966 wohl hämisches Grinsen bis bitteres Lachen nach sich ziehen. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich, dass sie noch funktionieren würde:
Alle reden vom Wetter. Wir nicht. - DB-Werbung 1966

2010 scheint der alte Werbespruch nicht mehr zu gelten. Vom 8. bis zum 11. Januar überzog Sturmtief "Daisy" das Land mit Schnee und Eis - und der deutsche Zugverkehr brach zeit- und streckenweise völlig zusammen. Durch Schnee und aufgewirbelten Schotter wurden Züge beschädigt, Weichen froren ein, Oberleitungen vereisten und brachen. Hunderttausende froren in auf der Bahnhöfen. Das war umso peinlicher, da erst am 20. Dezember 2009 der Zugverkehr im Nordwesten winterbedingt weitgehend zum Erliegen gekommen war. Diesen Winter sollte alles besser werden, die Deutsche Bahn sei organisatorisch, technisch und personell auf den Winter vorbereitet, hieß es noch Anfang November. Ende November fuhr, pünktlich mit dem ersten Schnee, die Bahn nicht mehr pünktlich. Alls es dann zu Schneeverwehungen kam, müsste der Verkehr zwischen Leipzig und Nürnberg zeitweise eingestellt werden. Auch im übrigen DB Netz mussten Bahnreisende mit größeren Verspätungen und Zugausfällen rechnen.

Über witterungsbedingte Probleme berichtet regelmäßig der
Fahrgastverband PRO BAHN.

War vor 44 Jahren die Bahn wirklich wetterfester? Fragt man Menschen, die damals regelmäßig mit der Bahn fuhren, dann erfährt man, dass es auch damals bei Schneesturm oder hartem Frost festgefrorene Weichen, Schneeverwehungen, defekte Oberleitungen usw. gab - und entsprechend auch Verspätungen. Allerdings konnte sich niemand daran erinnern, dass es damals "so ein Chaos" gegeben hätte - "irgendwie sei es immer weiter gegangen." Das passt zu einem weiteren Slogan aus den 1960er Jahren: "Wir fahren immer. Die Bahn".
Alles deutet darauf hin, dass die Deutsche Bundesbahn damals tatsächlich, verglichen mit anderen Verkehrsmitteln, relativ unabhängig vom Wetter war.

Eine gern genommene Erklärung ist die, dass die moderne Technik eben anfälliger sei, als die von damals, und verweist auf "Pannenzüge" wie die Triebwagen der Baureihen 425 und 426 oder dem ICE-TD der Baureihe 605 oder auf "Schönwetterloks" wie die TRAXX F140 AC1 (DBAG Baureihe 185) oder die Baureihe 101.

Man sollte sich vor allzu viel Technik-Nostalgie hüten: Auch in den 1960er Jahren und früher gab es Loks und Triebwagen mit erheblichen "Kinderkrankheiten". Es gab auch die eine oder andere komplette Fehlkonstruktion. Das ist in der technischen Entwicklung normal. Ein Beispiel: die "Pannenlok" der späten 1950er und frühen 1960er Jahre war ausgerechnet die heute von Eisenbahnenthusiasten gefeierte Baureihe V 200 (ab 1968: BR 220). Klar, sie war eine technische Pionierleistung, und auch klar, sie sieht gut aus - aber es ist kein Zufall, dass keine V 200 30 Jahre Dienst bei der DB schaffte (das ist für Dieselloks normalerweise "kein Alter"). Die V 200 stieß im Betrieb oft an ihre Leistungsgrenzen, was nicht selten zu Verspätungen führte und zu Schäden an den überlasteten Motoren. Außerdem war sie als zweimotorige Lok wartungsintensiv. Am Beispiel V 200 wird deutlich, dass auch technisch hervorragende Konstruktionen in der Praxis enttäuschen können, und dass schon damals der Hang der DB bestand, an vermeintliche "Paradepferde" so viele Vorschusslorbeeren zu verteilen, dass die Erwartungen beinahe zwangsläufig enttäuscht werden müssen.

Was aber bei den Pannen und Mängeln neuerer Fahrzeugtypen auffällt, ist die Ursache: Sparsamkeit an der falschen Stelle - Kosten reduzieren, koste es, was es wolle. Ein Beispiel sind die "Regio Swinger" genannten Neigezüge der Baureihe 612. Sie ist zwar, anders als die Vorgängerbaureihe 611 (treffender Spitznamen "Pannolino", in Anlehnung an den erfolgreichen Neigezug BR 610 "Pendolino") technisch im Prinzip gelungen, aber die Sensorik wurde ohne technische Rechtfertigung sparsamer entworfen, als nötig - was auf kurvenreichen Strecken ein Fahrgefühl wie auf einem kleinen Boot in bewegte See zu Folge hat. (Spitznamen wie "Kotzbomber","Kippelzug","Wackeldackel" oder "Menschenschredder" sprechen für sich.) Der bekannteste Fall für Sparsamkeit am falschen Platz sind die Klimaanlagen der ICEs und ICs, die nur bis zu Außentemperaturen bis 32° C ausgelegt sind, und während einer Hitzewelle im Juli 2010 reihenweise ausfielen. Gefährlich ist die "sparsame Auslegung" bei den zu schwach dimensionierten Radsatzwellen der ICE 3 , die zum Achsbruch-Unfall von Köln am 9. Juli 2008 führten.

Es gibt auch technische Faktoren, die die Störanfälligkeit gegenüber 1966 erhöhen, für die die DB AG nichts kann. Zum Beispiel ist Elektrotraktion gegenüber extremen Wetterverhältnisse empfindlicher als Diesel- oder Dampftraktion (die 1966 noch Gang und Gebe war): Oberleitungen können durch umfallende Bäume bei Sturm zerstört werden, bei Eisregen vereisen usw.. Während der starken Schneeverwehungen Ende November musste der Schnellverkehr auf 160 km/h gedrosselt werden, was die ICE und IC-Fahrpläne durcheinanderbrachte - 160 km/h war 1966 die Höchstgeschwindigkeit der damals schnellsten Serienlokomotiven der DB, der BR E 10.12 (ab 1968: 112). (Übrigens gehört die kobaltblau/beige lackierte E 10 1311, die auf dem alten DB-Plakat durch den Schnee rast, zu dieser Baureihe.) Nur die vier Vorserien-Lokomotiven der Schnellfahrlokomotive E 03 (103) waren schneller.

Erheblich mehr ins Gewicht fällt allerdings, dass die Deutsche Bahn AG seit Mitte der 1990er Jahre sehr an der Infrastruktur, am rollenden Material und an der Wartung gespart hat. "Kosten sparen, koste, was es wolle" - bis 2008 mit ständigem Seitenblick auf den geplanten Börsengang der DB AG. Die Bahn ist "auf Kante genäht", es fehlen z. B. Resevelokomotiven und -wagen.

Solange weiterhin der unternehmerische Wille zur Investition in das Gleisnetz, in Signalanlagen, in Weichenheizungen, in Wartungspersonal und in störungssichere Zugtechnik fehlt, habe ich keine Hoffnung auf Besserung.
Auch die "alte Bundesbahn" war nicht gegen das Wetter oder gegen Pannen immun. Aber der Werbespruch "Wir fahren immer" traf zu. So, wie er heute noch z. B. für die Schweizer Bundesbahn oder die japanischen Bahnen zutrifft.
Hohe Zuverlässigkeit ist also möglich - wenn es den unternehmerischen und den politischen Willen gibt!
henteaser (Gast) - 12. Dez, 23:06

Vermutlich ist auch das ein Teil des kapitalismusbedingten permanenten Katastrophenzustands: "Es fällt heutzutage praktisch niemandem auf, dass die heftigen Folgen der Winterverhältnisse nicht dem Wetter zuzuschreiben sind, sondern der herbeigeführten Verschlechterung der Möglichkeiten damit umzugehen."
http://www.nachdenkseiten.de/?p=7694

MMarheinecke - 13. Dez, 20:53

"Pannenzüge" und "Schwarzer Peter"?

Wer hat Schuld an den vielen Pannen bei vielen nach 1994 eingeführten Baureihen der DB? Dabei gibt es ein "Schwarzer Peter"-Spiel zwischen der Deutschen Bahn und der Industrie. ("Schwarze Peter Spiele" bzw. Schuldzuweisungen verzögern Problemlösungen unnötig, aber es verschafft den Beteiligen offensichtlich ein gutes Gefühl, dass "der Andere" "schuld" hat.)

Z. B. meinte Siemens-Sprecher, die Häufung von Störungen sei bei einer neuen, komplexen Zug-Technologie wie beim ICE 3 normal. Darauf hin reagierte DB angesäuert.
Die Deutsche Bahn erwartet zu Recht von der Industrie ein einigermaßen fehlerfreies Produkt. Anderseits fällt auf, dass sie der Industrie oft sehr enge Termine setzt, zu eng, wenn völlig neu entwickelte Technik, wie beim ICE 3 oder dem ICE TD, eingesetzt wird. Es bleibt einfache zu wenig Zeit zum ausführlichen Testen der neuen Zug-Garnituren - die dann ihre "Kinderkrankheiten" im planmäßigen Betrieb haben.
Es stimmt wohl, dass die Bahn extrem hochgesteckte Ziele verfolgt und wegen ihrer Eile den Zugherstellern ein großes technisches Risiko aufbürdet.
Auf der anderen Seite neigen manche Hersteller dazu, bei den Vorgaben der Bahn sozusagen "Dienst nach Vorschrift" zu machen - nicht aus Schikane, sondern um Herstellungskosten einzusparen. Dann wird eben die Klimaanlage - praxisfremd - haargenau auf die Vorgabe "32 Grad" ausgelegt, oder eine Achse zu schwach dimensioniert, wenn die Bahn zu schwach dimensioniert Achsen zugrunde legt.

henteaser (Gast) - 17. Dez, 10:02

Wobei natürlich ein vermutlich oft zutreffendes Vorurteil gegen Technik ist, dass sie dann eben doch zu komplex ist, um verlässlich zu funktionieren. Die Legende besagt ja z.B., dass etliche Wunderwaffen der US-Armee nicht für den Einsatz in sandstürmischen Gegenden taugen.

Und wer Bahnausfälle seltsam findet, sollte sich auch fragen, wie der Stromausfall (im westlichen Deutschland) von vor zwei(?) Jahren möglich war oder der Brand im Düsseldorfer Flughafen. Außer backlashendem 'Sparzwang' fällt mir da keine Erklärung ein.

Fazit: Das Schielen auf die billigste Lösung ist systemimmanentes menschliches Versagen nach dem Motto "Bis hierhin ging's gut".

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