Donnerstag, 3. Januar 2008

The Professor!

The Professor: J. R. R. Tolkien

Ich hebe mein Horn auf den Professor, John R. R. Tolkien.
The 2008 birthday toast

Dienstag, 1. Januar 2008

Der Pfeil der Zeit - oder: John Constantine lebt!

Anlass ist ein Film im Fernsehen, den ich mir nicht ansehen werde (weil ich ihn schon kenne): Constantine. Er ist, nebenbei bemerkt, ein heißer Anwärter für meine kleine Rubrik "Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme"; das soll hier und heute nicht Thema sein.

Was mich am Film schwer irritierte, war nicht die geänderte Haarfarbe oder der vom Original, den bei uns viel zu wenig bekannten "Hellblazer"-Comics, abweichende Wohnort John Constantines. Tatsächlich stellt der Film das mythologische Konzept von "Hellblazer" auf den Kopf: In den Comics (er hat auch "Gastauftritte" in anderen Comics des "DC-Multiversums") lebt John Constantine in einer Welt, in der alle Götter aller Panthea gleichzeitig existieren und sich von der Verehrung der Sterblichen nähren. Deshalb kann Constantine sowohl die Hölle (im Stile fundamentalistischer Christen) aufsuchen wie sich mit einem aztekischen Totengott unterhalten. Der Film porträtiert das "Jenseits" nach christlichen Vorgaben, genauer gesagt, Vorstellungen aus dem katholische Volksglauben. Da ist es nur konsequent, dass John Constantine im Film kein Magier, Weltenwanderer und (verbitterter) Humanist ist, sondern eine Art Exorzist mit dem Auftrag der Dämonenbekämpfung.

Ich tröste mich mit der Erkenntnis, dass der John Constantine im Film jemand ganz anderes als der John Constantine im Comic ist. Wichtigstes Indiz: Constantine spricht sich in Wirklichkeit "-teine" aus, nicht "-tin" wie im Film. Schrieb ich eben "in Wirklichkeit", obwohl John Constantine eine Comic-Figur ist?
Eben dessen bin ich mir gar nicht mal so sicher. John Moore, der als sein "Erfinder" gilt, gibt an, John Constantine zwei Mal im wirklichen Leben getroffen zu haben Real-life apearances - und so verrückt es klingt: ich glaube ihm.

John Constantine (c) DC Comics
John Constantine aus "Hellblazer"

Würde ich gerade eine Science-Fiction-Story schreiben (wohlgemerkt: Science Fiction, nicht Fantasy), dann würde ich das Erscheinen Constantines in "unserem Universum" wissenschaftlich-spekulativ so erklären:

Ich greife auf eine Hypothese des Kosmologen und Astrophysikers Max Tegmark zurück, die auf der viel diskutierten "Multiversums"-Hypothese aufbaut, nach der es nicht nur dieses Universum, in den wir leben, gibt, sondern mehrere. Mehr noch: er behauptet, dass alle überhaupt möglichen Universen wirklich sind. Ihm zufolge besitzen einige von ihnen Zeit, andere nicht. Aber sie sind nicht in der Zeit. Die Zeit existiert in ihnen, nicht umgekehrt.Auf einem hochkarätig besetzten Symposium der New York Academy of Science, über das Rüdiger Vaas in der aktuellen bild der wissenschaft berichtet, setzte Tegmak seiner provokanten These noch eins drauf:
"Warum ist die Entropie so niedrig? Weil wir in einem Multiversum leben."
(Zitiert nach: bild der wissenschaft, Heft 1 / 2008, Artikel: "Die mysteriöse Richtung der Zeit" von Rüdiger Vaas.)
Das heißt: Weil es jedes mögliche Universum gibt, egal, wie unwahrscheinlich es ist, muss es auch unser Universum geben. Wir können in der überwältigenden Mehrzahl der Universen nicht existieren, weil die meisten Universen sozusagen, wie Vaas es formuliert, "totgeboren" sind - weil die ihn ihnen herrschenden Naturkonstanten etwa die Entstehung von Sternen und schweren Elementen gar nicht zulassen. Wir sollten uns also nicht über die lebensfreundlichen Bedingungen in unserem Universum wundern. Das ist genau so wenig überraschend, wie die Tatsache, dass wir auf der Erde leben und nicht auf Merkur oder Pluto, denn dort wäre es für Leben, wie wir es kennen, zu heiß oder zu kalt.
Tegmark glaubt, wie viele andere Physiker, dass die Zeit "vorwärts" läuft, weil wir in einem Universum, in dem das nicht so wäre, schlicht nicht existieren könnten.
Egal, wie umstritten Tegmarks Deutung noch ist - die Idee eines Multiversums, in dem alle Universen existieren, die überhaupt existieren können, ist für Science Fiction Autoren unbestreitbar reizvoll. Wenn es unendlich viele Universen gibt, dann existieren auch alle Universen, in denen die aus unserem Universum bekannten Naturgesetze gelten. Alle. Damit gibt es nicht nur uns unendlich oft, es würden nicht nur unendlich viele Universen existieren, in denen Hitler den 2. Weltkrieg gewonnen hätte, und ebenso so unendlich viele, in dem ich die heutige Nacht in einem Gefängnis verbracht habe, sondern auch alle "fiktiv erdachten" Universen, solange nur ihre "Schöpfer" darauf achteten, keine die Existenz von Leben gefährdenden abweichenden Naturkonstanten einzuführen, existieren. (Besonders freigiebigen Gebrauch von dieser Idee machte Robert A. Heinlein, dessen "Alterswerke" ab "The Number of the Beast" fast alle in einem Multiversum spielen, in dem alle "fiktiv erdachten" Universen existieren - also auch alle Romanfiguren Heinleins. Und selbstverständlich auch John Constantine.)

Ich mag dieser radikalen Idee nicht ganz folgen, auch nicht als SF-Schreiber. Sympatischer ist mir ein neues, pfiffiges, Modell, das von der aus Albanien stammenden Physikerin Laura Mersini stammt: Sie beschreibt eine Art Selektionsmechanismus, der nur solche Universen groß und stark werden lässt, die eine niedrige Entrophie besitzen. Voraussetzung ist die Existenz vieler physikalischer Möglichkeiten - etwa die in den letzten Jahren viel diskutierte "Landschaft" der Stringtheorien; ein "heißer Anwärter" für eine Weltformel. Eine Formel, die eine enorme (aber nicht unendliche) Menge von Lösungen hat - vielleicht 10500. Jede Lösung würde einem möglichen Universum entsprechen. Für eine "anthropische" Erklärung im Stile Tegmarks wäre selbst diese enorme Zahl viel zu klein. Doch Laura Mersini hat einen Mechanismus in den quantenkosmologischen Grundgleichungen entdeckt, der wie ein Filter wirkt: In der "Landschaft" der möglichen Anfangsbedingungen für eine inflationäre Ausdehung eines Universums (die wiederum Grundvoraussetzung für eine niedrige Entropie ist) kommt es gleichsam zu einem Kampf zwischen den Eigenschaften der Materie und der Schwerkraft.
Die meisten Kombinationen dieser Größen führen entweder zu Universen, die sofort wieder kollabieren, oder solchen, die in eine zyklische Dynamik geraten, also sich in einer Ewigen Wiederkehr selbst wiederholen, sich also ebenfalls nicht entwickeln können. Nur eine bestimmte "Mischung" der Anfangsbedingungen führt zu Inflation - und damit zu Universen mit niedriger Entrophie. Aus der Fülle der theoretischen Möglichkeiten sind Universen der Art unseres Universums also ziemlich wahrscheinlich. Festzuhalten bleibt: es gibt mehr als nur ein Universum, und alle "erfolgreichen" Universen sind dem uns bekannten sehr ähnlich.
Bei all dem ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass "Zeit" eine von der Entrophie abgeleitete Größe ist - und keine elementare Eigenschaft unseres Universums oder anderer Universen. Es gilt nach wie vor "Zeit ist eine Illusion" - und wir altern nicht etwa, weil die Zeit vergeht, sondern die Zeit vergeht, weil wir altern.

Ich neige (als Amateurphilosoph, -kosmologe, und -SF-Schreiber) zu einem Modell der "offenen Wirklichkeit". Das hieße etwa: es ist durchaus möglich "in der Zeit zu reisen". Aber wäre ein Zeitreisender in der "Vergangenheit", etwa dem Jahr 1908, angekommen, dann gilt diese "Offenheit" auch für seine aktuellen Gegenwart, die Erde des Jahres 1908. Es ist ihm auch dort nicht möglich, die "Zukunft" vorherzusagen, denn es gibt sie noch nicht - und er kommt nur aus einer "möglichen" (oder virtuellen) Zukunft. Er weiß über die Zukunft "seines" 1908 nichts genaues, z. B. nützt es ihm gar nichts, wenn er die Lottozahlen oder ähnliches wüsste. Dafür hätte er aber die Chance, auf den jungen, obdachlosen Postkartenmaler Adolf Hitler in einer Weise einzuwirken, dass in dieser, nun seiner, Welt eine bestimmte schreckliche mögliche Zukunft sich niemals manifestieren wird. (Gut, ich habe keine Beweise dafür, dass es sich wirklich so verhält. Aber ich erlebe die Welt genau so.)

Zurück zu John Constantine - er hat zwei in der Welt der Comichelden seltene Eigenschaften: ersten altert er, und zwar in genau der gleichen Weise, wie ein unzweifelbar für uns realer Mensch, der wie er am 10. Mai 1953, in Liverpool, England, zu Welt kam, altert. Die zweite Eigenschaft: er ist sich der Existenz anderer, alternativer, Universen bewusst - einschließlich der "unserer" Realität.

So gesehen, ist John Constantine ein Comicheld, der leicht in "unserer" Realität existieren könnte. Jedenfalls würde ich nicht an meinem Verstand zweifeln, wenn ich ihm begegnen würde. (Während ich genau das täte, wenn mir Superman oder Mickey Maus über den Weg laufen würden.)

Montag, 31. Dezember 2007

Blick in die Sterne ...

Zu Silvester haben "Blicke in die Zukunft" Hochkonjunktur - meiner Ansicht ein müßiges Unterfangen, denn "die Zukunft" gibt es ja nicht.

Weil es aber "Möglichkeiten" gibt, können Divinationen oder Orakel durchaus sinnvoll sein. Man sollte sie aber nie für "die Zukunft" halten.

Egal, was man von Astrologie als Divinationsmethode hält: Völliger Unsinn sind solche Scharlatanerien wie "das große Jahreshoroskop" (gerade wieder in fast allen Illustrierten und Boulevardblättern und auf zahllosen Internet-Portalen zu bewundern) - im Vergleich dazu sind Methoden wie Bleigiessen und Kaffeesatzlesen seriös zu nennen.

Trotzdem - ich wage eine Prognose, und zwar aufgrund einer konkreten Himmelsbeobachtung:

In wenigen Tagen, genauer gesagt am 29.01.2008, wird der Asteroid 2007 TU24, 400 m Durchmesser, scheinbare Helligkeit 10,5m, in nur 0,004 AE die Erde passieren. Zu sehen ist er nahe dem "großen Wagen".

Wer mag, kann sich das Bahndiagramm auf der Website des Jet Propulsion Laboratory der NASA (für Raumfahrt-Unkundige: dass sind die mit den Raumsonden) ansehen: Orbit Diagram (2007 TU24) (Java erforderlich).

Meine nicht-astrologische Vorhersage: die BILD (und ähnliche mediale Intelligenzdimmer) werden mit Schlagzeilen der Machart "Killer-Asteroid bedroht die Erde!" aufmachen.
0,004 Astronomische Einheiten (AE) sind übrigens etwa 600.000 km. (Genau: 598391 km. Der Mond ist zwischen 363.300 km und 405.500 km von der Erde entfernt.)

Als Nicht-BILDleser weiß ich nicht, ob es im Spätsommer der Asteroid 2007 RS1 in die Balkenüberschriftzone geschafft hatte.
Am 5. September 2007 näherte sich 2007RS1 der Erde noch viel näher, nämlich auf 0,0005 AE (ca. 75.000 km).

Könnte sein, dass er wegen seines geschätzten Durchmessers von 1,7 bis 3,8 Metern den Weltuntergangsnachrichtenverbreitern entging?
Trotzdem: für das Springer-Hochhaus hätte es gereicht! Photobucket

Allen meinen Lesern ein glückliches, gesundes, skandal- , abhör- und astroideneinschlagfreies neues Jahr 2008!

MartinM

Sonntag, 30. Dezember 2007

Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme: Barbarella

Dieser Artikel folgt der inneren Logik dieses Blogs: im Sommer schriebt ich eine kleine Reihe über den "Summer of Love" 1967 und im Herbst gibt es einen (ungeplanten) Raumfahrt-Schwerpunkt. Außerdem war wieder mal eine Expedition in die Wunderwelt der gut-doofen Filme fällig - warum nicht Barbarella?
Außerdem fügt sich Barbarella irgendwie gut an die bereits besprochenen gut-doofen Filme
Die Blaue Lagune und "300" an: drei irgendwie erotische Filme, die nicht im Entferntesten irgendwie realistisch genannt werden können. Jedenfalls irgendwie.

"Barbarella" war, anders als manche Kommentatoren anlässlich des Geburtstag Jane Fondas am 21. Dezember, meinten, nicht der Karriere-Durchbruch der vielseitigen, sehr politisch engagierten, sehr widersprüchlichen, und in ihrem Engagement mitunter widersprüchlichen Schauspielerin. Jane Fonda erreichte ihren Durchbruch mit der Western-Kommödie "Cat Ballou" (1965), ihren ersten Golden Globe erhielt sie sogar schon 1962 für ihre Rolle in "A Walk on the Wild Side". Tatsächlich erwies sich "Barbarella" (1968) eher als Karriere-Gift, denn der spätere Kultfilm fiel sowohl bei den Kritikern wie an den Kinokassen durch, und legte die damals 30-jährige Fonda auf das problematische Image des "Sexsymbols" fest.

Barbarella-Filmplakat
Werbeplakat für den Film "Barbarella"

Wieso der Film damals durchfiel, obwohl er wie kaum ein andere dem "Zeitgeist" der Pop-Art und Psychedelic-Ära und der anbrechenden "Sexwelle" entsprach, ist immer noch ein Rätsel. Vielleicht entsprach zu sehr der "vordersten Front" des Spätsechziger-Zeitgeist, so dass er für die breite Masse des Publikums einfach einige Jahre "zu früh" kam. (Für die damals eher konservative Filmkritik sowieso.)

Die Frage, wieso der Streifen heute Kultstatus geniest, lässt sich leicht beantworten. "Kult" ist schon die Anfangsszene, in der Barbarella, dargestellt von Jane Fonda, sich in Schwerelosigkeit ihres Raumanzugs entledigt - bis auf die Haut. Taktisch geschickt platzierte Buchstaben des Titelvorspannes sorgten dafür, dass der "Space Strip" dennoch innerhalb "jugendfreier" Normen blieb.
Die große Stärke des Films ist, dass er sich keine Sekunde lang selbst ernst nimmt - wobei die Ironie erstaunlicherweise vielen Kritikern entging. Sie begriffen (noch) nicht, dass "Trash" (oder "Camp") auch Absicht sein kann. Berühmt wurde der Film durch die zahlreichen angedeuteten Sex-Szenen, die, obwohl nur angedeutet, dennoch (ironisch) dick aufgetragen wirken.
Für heutige Ansprüche wirken die meisten Spezial-Effekte des Films billig und wenig überzeugend, für damalige Verhältnisse waren sie jedoch gut gemacht. Noch heute überzeugend wirken die knallbunt-exotischen, oft surreal wirkenden Sets des komplett im Studio gedrehte Film. Wie die sexy Kostüme vor allem der Hauptfigur auf das damalige Publikum gewirkt haben müssen, kann man ermessen, wenn man weiß, dass die Kostüme der originalen "Star Trek"-Serie (dt. "Raumschiff Enterprise") schon als sehr gewagt galten.

Titelbild Barbarella
Titelbild des Barbarella-Comicbuchs "Le Miroir aux Tempêtes"

Als Vorlage diente der erste von vier Comicbüchern mit der Titelheldin Barbarella des französischen Comic-Künstlers Jean-Claude Forest. Die Vorlage "Barbarella" erschien ab 1962 zuerst in Fortsetzungen im V-Magazine, das sich auf das damals noch wenig entwickelte Genre des Erwachsenencomics spezialisiert hatte. Die Buchfassung erschien 1964. Die Raum-Agentin Barbarella durchlebt dabei zahlreiche Abenteuer auf dem Planeten Lythion beim Versuch, den Wissenschaftler Durand Durand aus den Klauen der bösen Schwarzen Königin zu befreien. Weder inhaltlich noch zeichnerisch hebt sich "Barbarella" aus der Masse der Comics der franco-belgischen Schule heraus. Aufsehen erregend war das, was ein Sammler und Kenner von Science Fiction-Comics einmal "Barbarellas selbstbestimmte sexuelle Gefräßigkeit" genannt hatte. Forest griff das von "James Bond" geprägte Klischee des Geheimagenten, der unzählige sexuellen Affären mit zahlreichen ebenso attraktiven wie willigen Frauen hat, auf und drehte einfach die Geschlechter der Protagonisten um.

1955 illustrierte Forrest die Science Fiction-Erzählung "Shambleau", die die "Grand Old Lady" der amerikanischen Science Fiction und Fantasy, Catherine L. Moore 1933 geschrieben hatte. In "Shambleau" rettet der Protagonist, N. W. Smith (der ohne jeden Zweifel das Vorbild für Han Solo in "Star Wars" war) die ebenso schöne wie geheimnisvolle außerirdische Frau Shambleau vor einem wütenden Lynchmob. Shambleau ist allerdings nicht das, was sie zu sein scheint - in letzter Sekunde muss Smith von seinem Kumpel Yarol gerettet werden, der Shambleau - eine ins Raumzeitalter versetzte Gorgo Medusa - mit einer Variante von Perseus Spiegeltrick erschießt. Wegen ihrer abgerundeten Charaktere, ihrer subtilen Anspielungen auf sexuelle "Abgründe" der Psyche und des gekonnten Spiels mit Archetypen (im Sinne der Tiefenpsychologie) gilt die "Abenteuerstory" Shambleau als Klassiker der SF-Literatur. Forrests illustrierte Fassung war das Vorbild für "Barbarella". Forrests Illustrationen können kaum congenial zu C. L. Moores Erzählung genannt werden - sie sind effektvoll, bleiben aber z. B. hinter den Zeichnungen des gleichfalls unter "Heftchen"-Bedingungen arbeitenden deutschen SF-Illustrators Johnny Bruck zurück, von den "großen" Illustrationskünstlern gar nicht zu reden.
Immerhin: "Barbarella" ist flott gezeichnetes gelungenes Lesefutter.

Promo-Foto zu Barbarella
Promotion-Foto zum Film "Barbarella"

"Barbarella" ist meines Erachtens kein wirklich guter, sondern nur ein gut-doofer Film. Warum?
Der nach Motiven des ersten Barbarella-Bandes gedrehte Film profitierte zwar von der routinierten Regie des Journalisten, Schriftstellers, Regisseurs und gelegentlichen Filmproduzenten Roger Vadim, leidet aber unter einem flachen Drehbuch mit streckenweise hanebüchenen Dialogen. Bei aller Routine (oder gerade deshalb?) unterlief Vadim um ein Haar ein Verstoß gegen die goldene Regel des Trashfilms: "Trash darf alles - nur nicht langweilen".
Jane Fonda als Barbarella wirkt, obwohl sie als wissenschaftlich vorgebildete Spezial-Agentin (und "Astro-Navigatrix") eingeführt wird, über weite Strecken ausgesprochen dümmlich. Von der "selbstbestimmten sexuellen Gefräßigkeit" ist wenig zu spüren, Barbarella wirkt eher so, als würde sie mit jedem Mann in die Kiste steigen.
Dass Barbarella auch Frauen sexuell nicht eben abgeneigt ist, geht im Film fast unter - immerhin weist sie lesbischen Avancen der Schwarze Königin zwar ab, aber nicht "keusch" ab. Im Comic ist sie es, die die Schwarze Königin verführt. Vermisst habe ich den Roboter Dictor, dessen mechanische Sexualtechniken Barbarella schätzen lernt. ("Dictor, Sie haben Stil!"). Irgendwie wirkt der Film so, als hätte die Produzenten der Mut und die Frechheit auf halben Wege verlassen - denn Gerüchte über eine "unzensierte", wagemutigere Fassung sind nur Gerüchte.
Der Vorwurf feministischer Kritikerinnen (zu denen später auch Jane Fonda selbst gehörte) "Barbarella" sei sexistisch und enthalte erniedrigende Männerfantasien ist nicht ganz vom Tisch zu wischen. Auch die schauspielerischen Leistung waren - vorsichtig formuliert - nicht gerade oscar-reif.

Das Pech für "Barbarella" war, dass der Film, der augenscheinlich so gut ins Jahr 1968 passt, etwa 10 Jahre zu früh produziert wurde - 1978 wären nicht nur adäquate Filmtricks verfügbar gewesen, das Publikum wäre auch für eine SciFi-Sexkomödie und die Kritik für das Konzept des absichtlichen Trash "reifer" gewesen.

Aber selbst wenn "Barbarella" perfekt umgesetzt worden wäre, wäre es immer ein Trash-Film geblieben. Bei diesem Stoff geht es nicht anders!

Samstag, 29. Dezember 2007

Die "alten Germanen" hatten keine Religion

Angeregt durch die Bertelsmann-"Studie" zur Religiösität: "Religiöse Atheisten" - oder Umfrageergebnisse nach Maß stieß ich wieder einmal auf die grundsätzliche Fragen, was eigentlich ist . Konkret: Ist Ásatrú, bzw. "nordisch-germanisches Neuheidentum" - also die "spirituelle Richtung", der ich (unter Anderem!) angehöre, eine Religion? Was automatisch die Frage nach sich zieht, ob die "alten Germanen" eine Religion hatten?

Ich neige zu der (vielleicht überraschenden) Antwort: Die "alten Germanen" hatten keine Religion. Die "alten Griechen", "alten Römer", "alten Ägypter" und andere vor-christliche Polytheisten übrigens auch nicht.

Dazu muss man zunächst wissen, was "Religion" überhaupt bedeutet.
Im Sinne der Umfrage der Bertelsmann-Stiftung wäre auch einer von Armins Cheruskern, dem man den Fragebogen (in entsprechender Übersetzung) vorgelegt hätte, "religiös" gewesen. Genau so wie die meisten Römer, die sich, mit der lateinischen Fassung konfrontiert, wohl als "hochreligiös" erwiesen hätten. Aber das liegt daran, dass der Fragebogen so konzipiert ist, dass er einerseits nicht zwischen "Religiösität" und "Spiritualität" (zwei durchaus verschiedene Dinge) unterscheidet, andererseits auch das Einhalten alltäglicher religiöser Bräuche, unabhängig von der Motivation der Befragten, als Zeichen von "Religiosität" sieht. Ein Atheist, der seiner Familie zuliebe Weihnachten in die Kirche geht, zeigt also laut Fragebogen "religiöses Verhalten". Auch Meditation wird als religiöses Verhalten, ähnlich dem Gebet, gesehen. Aber - auch Atheisten meditieren, denn Meditation kann als reine Entspannungsübung praktiziert werden.
Schon der Wikipedia-Artikel Religion und mehr noch Religionsdefinition verrät, wie naiv (und "christozentrisch") der Ansatz der Bertelsmann-Stiftung ist.

Interessant ist, dass die heidnischen Römer das, was wir heute üblicherweise die "altrömische Religion" nennen, nicht mit dem Wort religio bezeichneten. Nach Cicero (De Natura Deorum 2, 72; 1. Jh. v. u. Z.) geht religio zurück auf relegere, was wörtlich "wieder auflesen, wieder aufsammeln, wieder aufwickeln", im übertragenen Sinn "bedenken, Acht geben" bedeutet. Der Bezug zu religio in der späteren Bedeutung von "Frömmigkeit" oder "Gottesfurcht" entstand dadurch, dass Cicero dabei an den Tempelkult dachte, den es sorgsam zu beachten galt. Aber vor allem bedeutete religio für ihn und seine Zeitgenossen "Rücksicht", "Bedenken", "Skrupel", "Pflicht", "Gewissenhaftigkeit". Ein gewissenhafter Mensch war im altrömischen Sinne "religiös", auch wenn er vielleicht nie im Leben einen Tempel aufsuchte.

Erst der im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebende christliche Apologet Lactantius führte das Wort religio zurück auf religare: "an-, zurückbinden". Damit bereitete er der noch heute üblichen Bedeutungen von "Religion" im Sinne von "Rückbindung" des Gläubigen an einen universellen göttlichen Ursprung oder an sonstige Auffassungen von Transzendenz den Weg.

Eine interessanten Ansatz vertritt Peter Möller in seinem Aufsatz: Religion und Philosophie.
Nach der Einschätzung Möllers hat Religion sechs analytisch trennbare Aspekte:
  1. Dogmatismus: Über das empirisch und rational Erkennbare hinaus werden bestimmte Glaubenssätze aufgestellt, von deren Richtigkeit ohne jeden Zweifel ausgegangen wird.
  2. Unkompliziertheit: In der Regel handelt es sich dabei um eine sehr einfache, dem Auffassungsvermögen der großen Mehrheit der Bevölkerung angepaßte, mythenhafte, märchenhafte Seinsdeutung und Voraussagen, was mit dem Menschen bzw. seiner Seele in Zukunft passieren wird.
  3. Trostpflasterfunktion: Mit dem Glauben an eine jenseitige Vergeltung, ewiges Leben, Wiedergeburt etc. tröstet die Religion viele Menschen über die z. T. gewaltigen Lebensprobleme hinweg.
  4. Ethik: Verbunden mit den religiösen Glaubenssätzen sind Angaben darüber, was gut und böse ist und damit verbunden die Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten.
  5. Kulthandlungen: Verbunden mit diesen Glaubenssätzen werden bestimmte Kulthandlungen durchgeführt, wie zum Beispiel Gottesdienste, Gebete, Rituale etc.
  6. Kirche: In der Regel gibt es eine Organisation, in der die Gläubigen zusammengefaßt sind, und die über die Reinhaltung der Lehre und über die Kulthandlungen wacht.
Gemäß Möller - und da schließe ich mich seiner Auffassung an - machen nur diese sechs Punkte zusammen Religion aus. Würde man z. B. bereits das Aufstellen nicht nachprüfbarer Glaubenssätze Religion nennen, wäre auch ein politischer Fanatiker religiös und eigentlich schon jeder etwas beschränkte, sture Mensch. Dann verlöre der Begriff Religion seinen Erklärungswert.

Zieht man die historischen Quellen und die archäologischen Befunde über die "germanische Kultur" vor der Christianisierung zusammen (was nebenbei gesagt eine gewagte Verallgemeinerung ist), dann wird klar, dass es so etwas wie eine "heidnisch germanische Kirche" nicht gab und ein Priesterwesen im römischen Sinne nicht nachweisbar ist, gar nicht zu reden von einem Klerus im Sinne der monotheistischen Großreligionen. Ebenfalls sicher sein kann man in Fragen des Dogmatismus: die Mythologie geht zwar über das empirisch und rational Erkennbare hinaus, stellt aber keine Glaubenssätze auf, es können verschiedene, sich inhaltlich widersprechende Mythen nebeneinander stehen. (Das war übrigens auch bei den Römern, Griechen, Ägyptern, Kelten usw. so.)
Nicht ganz so einfach ist die Entscheidung hinsichtlich der "Unkompliziertheit": zwar herrschte eine mythenhafte, "märchenhafte" (viele Märchen sind "gesunkene Mythen") Seinsdeutung vor, es gab auch Voraussagen, was mit dem Menschen bzw. seiner Seele in Zukunft passieren wird. Andererseits sind heidnische Weltdeutungen in der Regel eher kompliziert - es ist nicht zuletzt die relative Einfachheit des monotheistischen Christentums, die die Missionierung erleichterte und erleichtert. Hinsichtlich der Unkompliziertheit ist übrigens der Islam dem Christentum mit seinem schwer verständlichen Trinitäts-Konstrukt klar überlegen. So, wie die christliche Dogmatik, jedenfalls für den Normalgläubigen, unkomplizierter ist als die ausgeklügelte und hochabstrakte jüdischen Gesetzesgelehrsamkeit. Wäre ich PR-Fachmann, ich sähe im Islam die Religion mit dem "größten Verbreitungspotenzial". Vielleicht ist es dem Einfluss der PR-Fachleute auf die Politik zu verdanken, dass so viele "westliche" Politiker so viel Angst vor einem "übermächtig werdenden" Islam haben ...
Die "Trostpflasterfunktion" ist im germanischen Heidentum, nach allem, was wir wissen, eher schwach ausgeprägt. "Jenseitige Vergeltung", etwa in dem Sinne, dass "böse Menschen" in die Hölle kämen und ein rechtschaffender und frommer Armer ins Paradies, gibt es noch nicht einmal in den schon vom christlichen Denken beeinflussten Eddas. (In denen allerdings schon von einer "Strafbehandlung" für Meineidige die Rede ist.) Und auch Walhall ist kein "Paradies für gefallene Krieger", wie es oft heißt, sondern ein jenseitiges Trainingslager für Ragnarök. Allerdings mit zugegeben guter Verpflegung und einigem Komfort. Wobei Odin nur die zweite Wahl unter den toten Kriegern hat, die erste Wahl hat Freyja, die "Besten" kommen also nicht nach Walhall, sondern nach Folkwang. Übrigens deutet vieles darauf hin, dass sich die Vorstellung von Walhall erst nach der Völkerwanderung ausgebildet hat und auf den "Adel" und seine Krieger-Gefolgschaften beschränkt war.
Eine ethische Funktion hat die "alte Sitte" schon gehabt, wobei sich "weltliche" und "göttliche" Gesetze und Gebote nicht voneinander trennen lassen. Die klare, dualistische Unterscheidung zwischen "gut" und "böse" fehlt. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass es Kulthandlungen, Rituale usw. gab.

Also treffen zwei der sechs möllerschen Kriterien auf das "germanische Heidentum" überhaupt nicht zu, drei weitere allenfalls teilweise, nur einer, das Ausüben von Kulthandlungen, voll und ganz. So gesehen wäre das germanischen Heidentum keine Religion. Aber auch nichts völlig Anderes.

Eine andere Religionsdefinition geht auf Clifford Geertz zurück. Religion ist, folgt man Geertz, ein Symbolsystem, dessen Ziel es ist, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen im Menschen zu erzeugen, indem Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert werden, die mit einer solchen Aura von Faktizität ("Tatsächlichkeit") umgeben werden, dass die Stimmungen und Motivationen vollkommen der Realität zu entsprechen scheinen. Ein Vorteil von Geertz Ansatz ist, dass er auch "Politreligionen" und ähnliche zur universellen metaphysischen Glaubenssystemen geronnene Ideologien abgedeckt. Das Entscheidende ist, dass Religion beim Gläubigen den Anschein erweckt, die einzige und universelle Wahrheit zu sein.
Es lässt sich, etwas vergröbert, sagen, dass in der der Religion an etwas geglaubt wird, und zwar dergestalt, dass sich "Glauben" und "Zweifel" aneinander ausschließen. Ein Zweifel an den Aussagen der Religion - zum Beispiel an einem heiligen Buch, an der Offenbarung eines Propheten, den Worten eines charismatischen Führers - wird nicht geduldet.
Das trifft auf Heiden - offensichtlich - nicht zu: keine heiligen Bücher, keine göttlichen Offenbarungen, die nur auserwählten Propheten (und sonst niemandem) zuteil werden, keine "unfehlbaren" Religionsführer.

An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass es zumindest im griechischen Heidentum den Vorwurf der Asebie, der "Gottlosigkeit", gab. Allerdings hatte dieser Vorwurf, wie man an den Asebie-Prozessen z. B. gegen Sokrates oder Protagoras erkennt, einen politisch-gesellschaftlichen Konnex. Die "Götter Athens" zu leugnen war gleichbedeutend mit einem Verstoß gegen den "Geist" der Polis (und umgekehrt). Die "Asebie" ist nicht mit der "Gotteslästerung" gleichzusetzen - Komödiendichter wie Aristophanes durften ausgesprochen deftig über die Götter spotten, ohne der Asebie verdächtig zu werden. Außerdem gibt es - außer einer Bemerkung über die Bestrafung "Gottloser" bei Tacitus - keine Hinweise, dass es bei den Germanen Vergleichbares gegeben hätte.

Wie dem auch sei: es gibt offensichtlich metaphysische Auffassungen, die zwar keine Religion im Sinne etwa des Christentums sind, aber ihnen in mancher Hinsicht ähneln.

Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann prägte die Begriffe "primäre und sekundäre Religion", die hier vielleicht weiter helfen.

Primäre Religionen haben einen tribalen Charakter, es sind "Stammesreligionen". (Oder, wenn es wie in Rom oder lange vorher in Ägypten zur Herausbildung eines Staates gekommen ist, "Nationalreligionen" - "Nation" passt in diesem Zusammenhang zwar nicht ganz, aber "Staatsreligion" hat schon eine andere Bedeutung.)
Es gibt Stammesgötter und Stammeskulte. Gesellschaft und Religion lassen sich nicht trennen, beides ist "Sitte", die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Primäre Religionen sind eher Lebensstil als Glaubensüberzeugung. Sie bestimmt durch ihre Moral und Ethik das Leben der Gesellschaft. Die Riten dienen vornehmlich der Integration der Gesellschaft, dienen also dem Zusammenleben, allgemeiner gesagt, dem Leben, das sie stärken, fördern wollen. Einer primären Religion kann man sich nur anschließen, indem man durch Riten in den Stamm selbst aufgenommen wird, oder dass der Stamm mit einem anderen ein Bündnis eingeht, dass den religiösen Austausch einschließt. Dabei kommt es jedoch nicht zu einem wirklichen Religionswechsel, selbst bei einer politischen Unterwerfung nicht, sondern zu einer Religionsvermischung.
Auch wenn Missionierung unter primären Religionen nicht vorkommt, Religionskriege unter ihnen kaum möglich sind und "fremde Götter" genau wie "fremde Menschen" zuweilen in die Stammesgemeinschaft aufgenommen wurden bzw. - in staatlich organisierten Kulturen - das Bürgerrecht erhielten, weist Assmann sogar ausdrücklich das "alte Klischee vom 'toleranten Polytheismus" zurück. Polytheistische Religionen sind genau so tolerant (oder intolerant) wie die Gemeinwesen, in denen sie praktiziert werden. So fand die - ausgeprägte und zurecht gelobte- religiöse Toleranz der Römer ihre Grenzen in der "Staatsraison": Cäsar duldete zwar die keltische "Religion" (genauer gesagt, war sie ihm gleichgültig), ließ aber die Druiden, die wesentlichen "Traditionsträger" dieser Primärreligion, brutal verfolgen - weil er in diesem "Geheimbund" eine politische Gefahr sah. Eine andere Grenze der Toleranz war, dass römischen Bürger an der Staats- und Kaiserverehrung teilnehmen mussten - wenigsten in der Form eines pro-forma Opfer für das Heil des Kaisers. Die frühen Christen verweigerten dieses Opfer, weil das die Anerkennung eines anderen Gottes neben dem Gott der Bibel bedeutet hätte. Aus römischer Sicht war das Verrat am Heil der "Staatsgemeinschaft" und folglich ein Akt der politischen Rebellion.

Für die germanische Welt zeichnet der Bochumer Religionswissenschaftler Hans-Peter Hasenfratz in dieser Beziehung ein düsteres Bild: "Alles, was außerhalb des Sippenfriedens steht, ist Feind, dazu gehört der 'Unfreie', der von seinem Herrn bußlos erschlagen werden kann." Hasenfratz schöpft diese Feststellung aus den selben Quellen, die auch "völkische" Germanenfanatiker in ihrer xenophoben (fremdenfeindlichen, wörtlich "gastängstlichen") Weltanschauung bestärken - allerdings mit umgekehrter moralischen Bewertung. Folglich könnte es auch mit der "religiösen Toleranz" der Germanen nicht weit her gewesen sein. Allerdings stammen diese Quellen entweder aus der Völkerwanderungszeit - einem jahrhundertenlangen permanenten Kriegszustand - wobei sich gerade während der Völkerwanderung auch Beispiele genau des gegenteiligen Verhaltens, der bereitwilligen Aufnahme Fremder und fremder Sitten in der Stamm, finden lassen. Die späteren Quellen stammen von christlichen Missionaren, die verständlicherweise das Heidentum in einem düsteren Licht sahen, oder aus hochmittelalterlichen Quellen, die über die "alte Zeit des Heidentums" rückblickend berichteten - wobei selbst wohlwollende Chronisten Sitten ihrer Zeit auf die "Ahnen" zurückprojektierten.
Alles in allem: Kein heidnischer Germane wurde dadurch automatisch tolerant, dass er Polytheist war. Ebensowenig wurde er dadurch automatisch intolerant, weil er einer Stammesreligion anhing.

Assmann benutzt den Begriff "Sekundärreligion" - der Religion im Sinne der oben genannten Religionsdefinitionen - anstelle älterer, unscharfer Begriffe wie "Offenbarungsreligionen", "Buchreligionen", "Hochreligionen", "Universalreligionen" oder "monotheistischer Religionen". Wobei alle diese Merkmale - es gibt eine (exklusive) Offenbarung, eine heilige Schrift, die religiöse Sphäre ist gegenüber der weltlichen abgetrennt und ihr in ethischen und moralischen Fragen übergeordnet, die religiöse Offenbarung gilt für die ganze Welt und nicht nur für ein einzelnes Volk oder eine einzelne Region, es gibt nur einen Gott - mehr oder weniger charakteristisch für Sekundärreligionen sind. Sekundärreligionen entstanden, laut Assmann, aus einer Rebellion gegen eine bestehende Primärreligion - er geht vom Beispiel der Ein-Gott-Religion des Pharaos Echnaton aus, der gegen die mit dem Staatswesen verschmolzenen polytheistische Religion bzw. die Machtfülle deren Priester, die seine Macht beschränkte, rebellierte.
"Sekundäre Religionen, Religionen im "eigentlichen Sinne" sind ursprünglich "Widerstandsbewegungen". Die Ausdifferenzierung des (im eigentlichen Sinne) Religiösen gegenüber dem Politischen und dem Moralischen ist überall aus politischen und sozialen Konflikten hervorgegangen.
Einen entscheidende Unterschied zur Primärreligion beschrieb Assmann so: "Die sekundäre Religion ist in einem ganz neuen und emphatischen Sinne Religion und vor allem: die Sekundärreligion ist 'Herzenssache'." Sie steht für sich, und der Einzelne steht vor Gott.
"Sekundäre Religionen" gehen vielleicht nicht immer auf Rebellen, aber wohl auf Reformer, Charismatiker, Propheten oder ganz neutral Stifter zurück. Während die primäre Religion zwar religiöse Spezialisten kennt (Priester, oft ist das Sippenoberhaupt "Priester", Wahrsager, Heiler u.a.) ist sie dennoch vor allem eine kollektive Angelegenheit.
Die sekundären Religionen sind dagegen in hohem Maße eine Angelegenheit des Einzelnen. Die neue Glaubenswahrheit, die hier verkündigt wird, gilt allen Menschen, nicht nur dem eigenen Volk und Stamm. Während für die primäre Religion die Immanenz im Vordergrund steht, so ist die sekundäre Religion auf Transzendenz gerichtet.
Im Monotheismus tritt der Gedanke der "Gerechtigkeit" in den Vordergrund, hat doch keine "heidnische" Religion jemals Recht und Ethos zu ihrer Hauptsache gemacht. Heidnische Rechtsvorstellungen, einschließlich des altrömischen Rechts, sind eher auf den Interessenausgleich als auf die Durchsetzung abstrakter Rechtsgüter gerichtet. Recht und Ethos liefern nur die "Rahmenbedingungen". Ein "Verbrechen ohne Opfer" oder wenigstens ohne potenzielle Opfer wäre für einen alten Römer, einen alten Griechen, einen alten Germanen ein unsinniger Rechtsbegriff gewesen. Wo kein Geschädigter, da kein Kläger und "Wo kein Kläger, da kein Richter", wie es noch im mittelalterlichen "Sachsenspiegel" stand. Man kann in der Idee einer universellen und bedingungslosen Gerechtigkeit einen Fortschritt sehen.
Für Assmann stellt sich der Monotheismus als vergeistigt und ethisiert dar. In der Regel verstehe sich der Monotheismus von einer Offenbarung her und erfordere zivilisatorisch das Buch, beruhe somit auf "Gedächtniskultur" - in schriftlosen Kulturen kann sich keine Sekundärreligion etablieren. Während die primären Religionen meistens eine tiefe Differenz zwischen dem eigenen Volk und den anderen Völkern machen, setzen universaler Glaubensüberzeugungen voraus, dass alle Menschen auf irgendeine Weise gleich und dazu berufen sind, sich der neuen Glaubenswahrheit anzuschließen. In gleicher Weise ist dem Monotheismus der Gedanke inhärent, seine Glaubensvorstellung habe universelle Gültigkeit: Gibt es nur einen Gott, dann kann der Bereich seiner Wirksamkeit nicht auf eine einzige Region und ein Volk beschränkt sein, sondern in der ganzen Welt, die seine Schöpfung ist, muss sein Name bekannt sein, muss seine Herrschaft religiös anerkannt und gepriesen werden.

Das ist der Grund, weshalb die Entwicklung eines absoluten Wahrheitsbegriffes in den Sekundärreligionen (Assmann nennt sie "Die Mosaische Unterscheidung"), langfristig das pluralistische Nebeneinander des antiken Pantheons unmöglich machte und so tief in das kulturelle Gedächtnis des modernen Menschen eingegangen ist.
Für den Monotheismus ist ein hoher Preis zu zahlen, der unter Anderem in intensiven religiösen, kulturellen und politischen Auseinandersetzungen besteht.

Daraus wird klar, dass sich jede Form des Neuheidentums grundsätzlich von der "Primärreligion" der Zeit vor der Christianisierung unterscheiden muss. Im gar nicht so seltenen Fall entsteht eine Art "nichtchristlicher Kirche" inklusive Klerus, Schriftgläubigkeit und absoluten Wahrheitsanspruch. Im ungünstigsten Fall kommt noch der der primären Stammesreligion abgekuckte Glaube an "Nationalgötter" und eine "Nationalreligion" hinzu - "Ásatrú" nach dieser Lesart wäre nur etwas für Menschen "germanischen oder stammverwandten Blutes". Überschneidungen mit rechtextremer Ideologie sind unzufällig.

Im günstigsten Fall ist Neuheidentum der Versuch, Nachteile der Sekundärreligionen, der Religionen im eigentlichen Sinne, zu vermeiden, die Vorteile, die eine "Primärreligion" dem Einzelnen und der sie tragenden Gemeinschaft bietet, zu nutzen, sich viele Dinge, die in primärreligiösen Stammesgesellschaften anders als im "christlichen Abendland" üblich geregelt werden, anzusehen und von ihnen lernen. Und zwar ohne dabei Errungenschaften der Moderne wie die universellen Menschenrechte oder die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen über Bord zu geben. Das ist möglich, weil diese Errungenschaften, anders, als es die selbsternannten "Verteidiger des christlichen Abendlandes" meinen, eben nicht aus dem Christentum hervorgingen, sondern teilweise außerhalb von ihm, teilweise, wie die "Aufklärung", sogar gegen es entwickelt worden.

Was auch deutlich wurde: modernes Heidentum ist mitnichten in erster Linie oder überhaupt "Glauben an die alten Götter". Wie in den alten "Stammesreligionen" lassen sich "Alltagsethik" und "religiöse Ethik" nicht trennen: beides ist "Sitte". Und, wie ich vor kurzem auf der Julfeier der Nornirs Ætt feststellen konnte, wird diese alt-neue Sitte (Siðr) tatsächlich von Generation zu Generation weitergegeben. (Nicht in Form einer "religiösen Erziehung" oder gar einer Missionierung, sondern durch freiwillig Übernahme "der Jungen" von "den Alten".)

Um auf die Eingangsfestellung zurückzukommen: sowohl die alte "Primärreligion" wie das aufgeklärte Neuheidentum haben wenig mit Religion im eigentlichen Sinne, also Sekundärreligion im Sinne Assmanns, gemein. So wenig, dass es sich strenggenommen verbietet, von einer heidnischen Religion zu sprechen.

Der Grund dafür, dass heute üblicherweise von "heidnischen" oder "polytheistischen" Religionen die Rede ist, liegt daran, dass nicht nur bei der Bertelsmann-Stiftung, sondern sogar innerhalb der Kirchen ein Religionsbegriff üblich wurde, in dem sich sogar philosophische Systeme wie der klassische Buddhismus - der keine Aussagen über einen Schöpfergott oder über die Existenz oder Nichtexistenz von Göttern macht - einbeziehen lassen. Unter einer so schwammigen Definition wie "System von letztinstanzlichen Verbindlichkeiten" lässt sich nahezu jede Metaphysik zur "Religion" umdeuten. Oder anders gesagt: abgesehen von "Klotzmaterialisten" wären alle Menschen "irgendwie religiös" - und folgt man einigen christlichen Apologeten, glauben schließlich fast alle Menschen "irgendwo" an Gott (womit implizit der Christengott gemeint ist). Dass z. B. viele Juden, Moslems, von Buddhisten und Heiden gar nicht zu reden, auf solche Umarmungsversuche, die man auch als Vereinahmungsversuche sehen kann, nicht eben freundlich reagieren, dürfte allenfalls besagte Apologeten verwundern.

Freitag, 28. Dezember 2007

Tatort "Tatort"

Nebenbei gesagt enthält die Serie “Tatort” mehr Gesellschafts-und Sozialkritik als die ganze deutsche Popliteratur. Che2001, Polit-Blogger

Anlass für diesen Artikel ist der Strafantrag wegen Volksverhetzung, der von der Alevitische Gemeinde Deutschland gegen den NDR gestellt wurde. welt.de: Strafanzeige wegen Tatort-Folge gestellt, telepolis: Wem keine Ehre gebührt

Die umstrittene Tatort-Folge lief am 23.12., heißt "Wem Ehre gebührt" und thematisierte unter anderem Inzest in einer sich deutlich vom sunnitischen Islam unterscheidenden Religionsgemeinschaft, den Aleviten. Das eigentliche Problem bei diesem Film war, dass der Film - unbeabsichtigt - ein in der Türkei offensichtlich noch weit verbreiteten diffamierenden Vorwurf gegen die alevitische Minderheit - nämlich die des (rituellen) Inzests unter Aleviten. Dieser Vorwurf ist vergleichbar mit dem des Ritualmords an christlichen Kindern, der den Juden über Jahrhunderte in Europa zum Vorwurf gemacht wurde, um sie zu diskreditieren.
So weit, so schlecht. Allerdings gehören anti-alevitische Vorurteile zu jenen Dingen, über die in Deutschland lebende sunnitische Türken nicht mit Außenstehenden reden. Ich wäre mir dieses Konfliktes nie bewusst geworden, wenn ich nicht zufällig einen türkischen Arbeitskollegen alevitischen Glaubens gehabt hätte, und er nicht zufällig mal unter Kollegen seinen Frust über dieses "innertürkische" (und "uns" deshalb angeblich "nichts angehendes") Problem von der Seele geredet hätte.

Egal, ob dieser Fauxpas nun auf Unkenntnis bzw. mangelhafte Recherche der Drehbuchautorin Angelina Maccarone oder auf die tendenziöse Beratung durch sunnitische Türken zurückzuführen ist - über den aktuellen Anlass hinaus wird am Fall "Wem Ehre gebührt" deutlich, wieso so viele Autoren vor sozialkritischen Themen zurückscheuen. Burkhard Schröder, Verfasser des telepolis-Artikels, bringt es auf den Punkt:
Juden, Einwanderer oder nationale Minderheiten im deutschen Fernsehen - das ist immer noch der Gang durch ein Minenfeld, auf dem die Sprengsätze der Political correctness häufig die treffen, die die es besonders gut meinen.
Der "sicherste" Weg, diesen "Sprengsätzen" aus dem Weg zu gehen, ist es, sich einfach nicht mit diesen Themen zu befassen. Oder gleich alle "heißen Eisen" in der "Unterhaltungskultur" zu meiden - es sei denn, es gibt eine solide verankerte "Konsensmeinung" zu solchen Themen, z. B. die, dass Neo-Nazis böse sind.

Entsprechend sieht dann die deutschen Pop-Literatur aus, entsprechend auch die deutsche Krimi-Normalware. Der übliche Polt eines deutschen Fernseh-Krimis lässt sich in etwa so beschreiben: Eine rätselhafte Tat - fast immer ist es Mord - geschieht unvermittelt in einem anscheinend intakten, meistens klein- bis gut-bürgerlichen, Milieu. Es wird viel geredet und am Ende wird einer von mehreren Verdächtigen möglichst überraschend als Täter identifiziert.
Daneben gibt es Plots, die die Strickmuster amerikanischer und britischer Krimiserien möglichst genau kopieren - um den Reiz der Originale meistens weit zu verfehlen.
Krimis nach dem "Rede- und Ratekrimi"-Schema gibt es fast nur im öffentlich-rechtlichen, solche nach dem Schema "Action ist alles, Realismus und Logik nichts" tendenziell häufiger im privaten Fernsehen.

Die Frage ist also, wieso beim "Tatort" außer etlichen "Standardkrimis" relativ oft sozialkritische und realistische Stoffe zu sehen gibt.

Meiner Ansicht nach geht das auf eine deutsche Tradition des realistischen, kritischen Kriminal-Fernsehfilms zurück. Eine Tradition, die in den 1960er und 70er Jahren begründet wurde, und die nicht nur für mich vor allem mit dem Gespann "Regie: Jürgen Roland, Buch: Wolfgang Menge" verbunden ist.

Der dieses Jahr verstorbene Regisseur Jürgen Roland kam vom Journalismus. Bekannt wurde er in den 50er Jahren mit seiner ersten Fernsehserie "Der Polizeibericht meldet ..." Roland recherchierte echte Kriminalfälle nach und stellte sie für das Fernsehen authentisch und millieugetreu dar. Sein Durchbruch gelang ihm mit der nach dem Vorbild der US-Serie "Dragnet" ab 1958 produzierten Krimiserie "Stahlnetz", für die er eng mit dem Drehbuchautor Wolfgang Menge zusammenarbeitete. Wie "Der Polizeibericht meldet ..." und "Dragnet" beruhte "Stahlnetz" auf realen Fällen, allerdings neigte "Dragnet" dazu, die Polizeiarbeit zu glorifizieren und eine Sichtweise der Kriminanalität streng im Sinne der Öffentlichkeitsarbeit des Los Angeles Police Department (L.A.P.D) zu kultivieren. (Deshalb, und wegen der klischeehaften Darstellung, wurde "Dragnet" auch eine beliebte Zielscheibe von Parodien.) Schon dadurch, dass "Stahlnetz" auf wiederkehrende Charaktere und Schauplätze verzichtete, wirkte Rolands Serie realistischer als das Vorbild. Die meisten "Stahlnetz"-Folgen hatten, obwohl sie oft die Polizeiarbeit in einer für heutige Sehgewohnheiten langatmig anmutenden Akribie nacherzählten, deutlich mehr kritische Distanz und weniger Kriminellen-Klischees als "Dragnet".
"Stahlnetz" sorgte damals für Rekord-Einschaltquoten.
Die "Stahlnetz"-Folge Das Haus an der Stör aus dem Jahr 1963 schrieb nicht nur wegen der auch nach heutigen Maßstäben spannenden Dramaturgie Fernsehgeschichte, sondern weil sie ein damals oft verdrängtes, weil unbequemes Thema aufgriff: Kriminalfälle, die in den Wirren der Nachkriegszeit "liegengeblieben" waren, bzw. Taten, die allzu leicht durch die "Zeitumstände" entschuldigt wurden. (Für das noch brisantere Thema "vertuschte Verbrechen aus der Nazizeit" war die Zeit wohl noch nicht reif.)

Eine weitere genreprägende Roland/Menge Koproduktion war der Kinofilm Polizeirevier Davidwache mit seinem harten Realismus, seinem ambivalenten Helden, Hauptwachtmeister Glantz (ambivalent, weil der Verdacht, dass Glanz den gerade aus langer Haft entlassenen Bruno Kapp einen Drogenschmuggel "angehängt" hatte, nicht aufgelöst wird) und wegen des fehlenden "Happy Ends" - Glantz stirb.

"Tatort", ausdrücklich als "Stahlnetz"-Nachfolger mit mehr gestalterischen Möglichkeiten konzipiert, folgte sehr oft der realistischen Roland/Menge Tradition, obwohl Roland und Menge nur an vergleichsweise wenigen "Tatorten" direkt beteiligt waren. Außerdem bot "Tatort" von Anfang an Raum für Experimente und Tabubrüche: schon in der erste Folge "Taxi nach Leipzig" (1970) wag sich Hauptkommisar Trimmel (vorschriftswidrig) für Ermittlungen in die DDR, wo er einen befreundeten Kollegen hat.

Ein weiterer Einfluss, der in vielen neueren "Tatort"-Folgen zu spüren ist, ist der des sozialkritischen "Schwedenkrimis": Filme nach den Kriminalromanen von Maj Sjöwall / Per Wahlöö, Håkan Nesser oder Henning Mankell erfreuen sich im deutschen Fernsehen großer Beliebtheit - und wurden zum Vorbild ähnlicher "Tatort"-Folgen, in denen es darum geht, das Ermittler, die selbst unter Problemen leiden, Motive "sozial ausleuchten". Dass das manchmal ins Klischeehafte abgleitet - geschenkt, schließlich kann bei einer schon 37 Jahre laufenden Serie nicht jede Folge ein Meisterwerk sein.

Um auf den Krimi "Wem Ehre gebührt" zurückzukommen: auch wenn der Vorwurf der Aleviten sich nicht ganz vom Tisch wischen lässt, ist die Geschichte ist fiktiv - und auch in anderem Kontext denkbar. Trotz Fauxpas: die Pressefreiheit geht vor.

Donnerstag, 27. Dezember 2007

"Ich bin ein Monster!"

Genauer gesagt bzw. gesungen: "Ich bin ein Monstääär, tief unten im Meer, und keine Sonne scheint zu mir her!"
Womit klar sein dürfte, dass es jetzt nicht um einen Online-Stellenmarkt geht, sondern um ein Lied. Ein Lied aus einer sehr hörenswerten neuen CD, die den schlichten und dabei so wahren, programmatischen und bedeutungsschwangeren Titel "drei" trägt.
drei cover

Wie ich schon mal erwähnte, profitierten die "Singvøgel" live sehr von der Erweiterung zum Trio durch Sven als Drummer und Percussionist. Sie klingen mit Sven dichter, voller, dynamischer und oft deutlich rockiger.

Auch wenn die Singvøgel auch als Duo wegen ihrer enormen instrumentellen Bandbreite nie das Klischee der "Liedermacher mit Klampfe" erfüllten, unterscheidet sich "drei" in der musikalischen Ausführung deutlich von den beiden Vorgängern Hart am Rande und Lieder sind. Wenn es im Promotion-Text heißt:
Zwei Männer und eine Frau – aber mehr Instrumente als eine 6-köpfige Rockband
so ist das kaum übertrieben. Die nüchterne Information
Karan – Gesang, Gitarren, E-Bass, Querflöte, Orgel, Klavier
Duke Meyer – Gesang, E-Bass, Syn-Bass, Gitarren
Sven Scholz – Schlagzeug, Percussion
gibt längst nicht alles wieder, was auf "drei" zu hören ist.
An dieser Stelle ist ein Lob an Andy Stadelmann angebracht, der nicht nur E-Bass und Viola spielte, sondern zusammen mit Duke die Abmischung und Produktion der CD übernahm. Auch wenn man es angesichts der auf hohem professionellen Niveau stehenden Produktion kaum glaubt: Dukes "Technoschamanenhöhle" alias "Echsenflug Studio" ist weit von den Möglichkeiten eines modernen kommerziellen Aufnahmestudios entfernt!

Die stilistische Bandbreite der "Singvøgel mit dem schrägen ø " ist ebenfalls weit gespannt. Nach eigenen Angaben ist ihr musikalischer Nenner ist Unberechenbarkeit: Folk, Rock, Pop, ein Hauch von Punk. Allerdings neigt sich die stilistische Waage auf "drei" deutlich in Richtung "Rock und Pop". Manche Fans mögen bedauern, dass "die Singvøgel" damit näher am "Mainstream" und "irgendwie kommerzieller" geworden sind - ich setze dagegen, dass die Band damit voll hallen- und festivaltauglich geworden ist. Nach meinem Dafürhalten sogar voll radio- und fernsehtauglich - "die Singvøgel" haben enormes Potenzial (und das meine ich erst).
In ihren jeweiligen Kompositionsstilen blieben sich Duke und Karan treu. Auch wenn sich längst nicht mehr, wie noch auf "Hart am Rande", deutlich zwischen "Karans Liedern" und "Dukes Liedern" unterscheiden lässt.

Inhaltlich sind die Texte lebensnah - und hoch sprituell. Wer bei "spiritueller Rock- und Popmusik" einerseits an Gospels und Soulmusik mit religiösen Texten, andererseits an sphärische "New Age"-Musik dachte, muss bei den "Singvøgel" dazulernen. Fast alle Titel sind von einer heidnisch-mystischen Weltsicht durchdrungen, einige haben einen deutlichen Bezug zum "heidnisch-germanischen", genauer gesagt zu Ásatrú. Was wenig mit nostalgischem Germanenkult oder Wikinger-Reanactment, überhaupt nichts mit "völkischen" bis rassistischen Machtphantasien von der "Überlegenheit der Germanen" und sehr viel mit einer mitten im Leben stehenden gelebten Spiritualität, mit einer pragmatischen Romantik, mit gut in der Moderne verwurzelter Naturmystik zu tun hat. So mischen sich in den Versen der "Singvøgel" Sehnsucht und Wut, Mythos und Alltag - meistens romantisch, manchmal provozierend.

Zu den Titeln:
"Drei Worte" - beschreibe ich - völlig subjektiv - als Mischung aus eingängigem Popsong und tiefsinnigem Liebes-Chanson. Es geht übrigens um Freyja, in ihrer Funktion als Liebesgöttin. Aber das ist zum Verständnis nicht unbedingt nötig.
"Weiter Horizont" - obwohl sehr "poppig" arrangiert, liegt dieses von Karan getextete und gesungene Lied sehr viel näher am inhaltsreichen, intelligenten Chanson als am Schlager. Vergleiche mit "Rosenstolz" drängen sich mir auf.
"Zentaurentraum" - ist mein Lieblingstitel auf "drei". Dukes neuromantisches (neuro-mantisches - neu-romantisches?) Lied, irgendwo in der Galaxis zwischen E.T.A. Hoffmann, R. M. Rilke und William Gibson angesiedelt, ist schon älter. Das neue Arrangement, mit Querflöte, Bass und Schlagzeug bringt Dukes manchmal surrealen Verse zum Strahlen.
"In dir drin" Ein ruhiges, nachdenkliches Duett Karans und Dukes, mit einem pathetischen, aber nicht übertrieben kitschigem, Arrangement - meiner Ansicht nach ein heißer Kandidat für einen "Feuerzeug-Schwenk"-Song.
"Haut an Haut" - ein ebenfalls ruhiger, aber eher "jazziger" Chanson, der Karans beachtliche gesangliche Qualitäten zeigt.
"Totengott-Ballade". Dukes Ballade auf Wotan - oder Odin - ist ein zorniger Abgesang auf Germanentümelei, Nazi-"Germanenkult" und den Missbrauch germanischer Mythologie für rassistische, nationalistische und gewalttätige Politik. (Und eine deutliche Warnung an alle "Odin statt Jesus"-"T-Hemd"-Träger: ein wütender Totengott lässt sich nicht instrumentalisieren. Schon gar nicht in "Religionskämpfen" mit antisemitischen Untertönen. Wer Wotan säht, wird Sturm ernten!)
"Irgendwann" ist auch ein politisches Lied, ein flotter, tanzbarer Boogie-Woogie von Karan - mit konkreten Hinweisen, was man im Alltag anders machen kann, damit sich was ändert.
"Hou, hou, hou" - von Text und Melodie deutlich "folkiger". Ein "Mutmacher"-Duett: "Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum".
"Worte voller Licht" Ein melancholisches Lied Karans, mit einem überraschend un-melancholischem Abschluss.
"Monster" Karan kann auch anders - zum Beispiel fast im Nina Hagen-Stil loskreischen "Ich bin ein Monstäär!". Ein Titel mit Punk-Anklängen und gnarzig verzerrter Gitarre. Der Text ist eine kluge Allegorie, die mindestens 5000 m tief sein dürfte.
"Großer Donner". Der Anfang erinnert mich ein wenig an die Titelmelodie eines Karl-May-Films - aber es geht nicht um einen Indianerhäuptling, sondern um den Donnergott, Gott der Fruchtbarkeit und Beschützer der Menschen vor den Naturgewalten, Thor.
"Immer schon dort" - Eine beinahe klassische romantische Ballade. Der Refrain "Und wird auch Geschichte geschrieben / mit Kriegen, Intrigen und Mord / überdauern dies doch, die sich lieben: / Immer schon waren sie dort" kann als Kommentar zur "üblichen" Geschichts-Vermittlung zwischen dröger Geschichtsstunde und aufgebrezeltem Guido-Knopp-TV gesehen werden.
"Im Flammen" - Das einzige Stück, von dem ich etwas enttäuscht bin, trotz des hervorragenden Textes und der eingängigen und stimmungsvollen Melodie. Mein Problem resultiert daraus, dass ich zu dem kraftvollen, rebellische, ekstatischen Text (" Wir sind in Flammen / setzen die Nacht in Brand / und das geschriebene Wort / wird Gesang. Aus unsern Trommeln / donnert die wilde Jagd / und galoppiert bis der Morgen erwacht") keine so langsame und melancholische Melodie erwarte. Ich kann mir denken, weshalb sich Karan für genau diese Melodie entschied, ich hätte mich anders entschieden.
"Reich mir die Hand" - Der letzte Titel erfüllt endlich die Vorstellungen all jener, die bei einer Ásatrú-Band automatisch an Wikinger-Songs denken. "Reich mir die Hand" handelt - jedenfalls vordergründig - von Gefährten, die auf Wiking gehen, wobei einiges nicht so gut verläuft, weshalb sie ums Überleben kämpfen müssen. Im übertragenenen Sinne auf jede Gemeinschaft, die gegen (scheinbar) übermächtige Gegner und (scheinbar) unüberwindliche Gefahren angeht. Wobei es auf jeden Einzelnen ankommt und jder für jeden da ist: "Wer jetzt noch dabei ist / weiß nur, dass er frei ist / und eins ist gewiss: es gibt kein' Ersatzmann!"
Ein Lied, dass neben dem "Sonnenrad-Song" und "Freundchen!" ihren Platz unter den "Kampfgesängen" der "Nornirs Ætt" findet. (Der Selbstbeschreibungs-Rap: "Wir sind die Nornirs Ætt" geht ja in eine ganz andere Richtung .)

Auch ja: bestellen kann man "drei" hier. Schon mal anhören kann man "drei" hier. Und die Termine der nächsten Live-Auftritte der "Singvøgel" erfährt man hier.

Kursiver Text wurde nachträglich ergänzt.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6745 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren