Samstag, 31. Dezember 2011

Aus tiefster Raunachtsruhe - Jahresabschluss

Wenn ich vor 25 Jahren, zu Silvester 1987, einen Blick in das Jahr 2011 hätte werfen können, dann hätte ich, als Science Fiction und Fantasy-Fan, die heutige Welt wahrscheinlich als "Cyberpunk" beschrieben, und mein heutiges Leben der "Urban Fantasy" zugeordnet.
Dass wir in einer Welt leben, die jedes Jahr mehr Elemente des Cyberpunks aufweist, ist kaum zu übersehen. Dass die Welt sich in eine ähnliche Richtung bewegt, wie sie z. B. William Gibson in den 80er Jahren beschrieben hat, liegt nicht daran, dass Gibson die Zukunft richtig "hochgerechnet" hätte - gerade da, wo er es wirklich tat, liegt er ziemlich daneben. Die Technik in "Neuromancer" wirkt heute streckenweise fast altmodisch, jedenfalls im einem für die Handlung so zentralen Element wie der mobilen Kommunikation. Ich denke an ausgedruckte "Newsfaxe" und die z. B. in "Count Zero" erwähnten Telefonzellen. Ähnliche lässt sich über die politischen Machtverhältnisse sagen. Das ist allerdings nicht entscheidend.
Die Spekulationen des Gibsonschen "Cyberpunk" beruhen auf zwei Grundvoraussetzungen:
1. Was wäre wenn der Staat (die Staaten) von großen Konzernen kontrolliert würden, die die staatliche Monopol-Macht für ihre Zwecke instrumentalisieren?
2. Was wäre wenn praktisch die gesamte Kommunikation und alle ökonomischen Transaktionen in einem weltweiten, nicht hierachischen Datennetz ablaufen würden?
Weil diese Annahmen mittlerweile zutreffen, treffen auch andere Elemente der Cyberpunk-Romane von Gibson und seinen Mitstreitern zu. Das andere Element, dass zur Glaubwürdigkeit beträgt, trifft im Grunde für jede Art der Literatur zu: gerade in einem (noch) phantastischen Umfeld sind plausible Geschichte mit glaubwürdigen Protagonisten wichtig.

Nicht ganz so einsichtig ist es, dass mein heutiges Leben aus der Sicht des Jahres 1987 "Urban Fantasy" sein könnte. Schließlich gibt es in meinem Umfeld z. B. keine Vampire, keine Elfen, keine Orks usw..
Als ich in den letzten Tagen darin ging, ein Szenario für eine Reihe Urban-Fantasy-Geschichten zu entwickeln, da bemerkte ich aber, dass einige Dinge, die für mich in den letzten Jahren selbstverständlich geworden sind, nach "normalen" Maßstäben nicht nur ziemlich exotisch, sondern buchstäblich unglaublich sind. (Das fängt schon damit an, dass es manchen Menschen gar nicht so leicht zu vermitteln ist, dass ich es mir mit meiner Selbstbeschreibung "Heide" vollkommen ernst ist.)
Damals, vor 25 Jahren, war ich zwar ziemlich "nerdig", aber ich hatte trotzdem recht konventionelle Vorstellungen davon, was "Wirklichkeit" ist - und was "Spinnerei".
Dass z. B. Stadtschamanen, die direkt aus dem "Shadowrun"-Universum stammen könnten, zu meinem engen Freundeskreis gehören könnten, hätte ich mir damals jedenfalls nicht vorstellen können. Auch hätte ich es mir nicht vorstellen können, dass ich nur eine, sondern mehrere, nicht-alltägliche Wirklichkeiten "bereisen" könnte - nicht als Drogenrausch oder Traum wohlgemerkt, und bestimmt nicht als Realitätsflucht. (Übrigens bin ich tatsächlich mal - aus Versehen - im Shadowrun-Universum gewesen. Wahnsinn? Wenn ich dort "hängen geblieben" wäre, sicherlich. Amüsant war für mich dieser Kurzausflug, den ich als völlig real erlebte, jedenfalls nicht.)
Phillip K. Dick schrieb, die Wirklichkeit sei das, was nicht verschwindet, wenn wir aufhören, daran zu glauben. So gesehen ist vieles, was uns gemeinhin als "phantastisch" erscheint, Wirklichkeit - und vieles, was uns ganz real erscheint, unwirklich. Was würde mit dem Geld passieren, wenn niemand mehr an seine Kaufkraft glaubt? Keine hypothetische Frage, denn es ist schon einige Male passiert, dass Menschen massenhaft das Vertrauen in ihre Währung verloren haben.
Viele Dinge, die wir gemeinhin für völlig real halten, sind tatsächlich Konstrukte, die nirgendwo eine Realität haben, außer in unseren Vorstellungen. "Nationalstaat" oder "Börse" zum Beispiel.
Gerade das wurde im Jahr 2011 mehrmals unübersehbar deutlich. Außerdem war 2011 ein Jahr, in dem laufend Dinge passierten, die "eigentlich", nach dem, "was jeder weiß", niemals hätte geschehen können. Dinge, mit denen "niemand" rechnete. Das haben die Guttenberg-Affäre, der "arabische Frühling", die Katastrophe von Fukushima, die Occupy-Bewegung und vieles mehr gemeinsam.
Sie zeigen, wie eng der Realitätstunnel, die Prägungen, Konzepte, geistigen Haltungen und Realitätskonstruktionen, die uns vor allem durch die Massenmedien vorgegeben werden, ist. Welche Scheuklappen sogar Menschen, die es besser wissen müssten, tragen.

Bilanz meines Jahres: Gemischt. Allerdings, rein vom Gefühl her waren für mich persönlich die letzten Monate des abgelaufenen Jahres eine der erfolgreichsten und glückhaftesten Zeiten, an die ich mich erinnern kann. Ich meine damit nicht "Erfolge" in Sinne von "beruflichem Weiterkommen" oder "Glück" im Sinne eines Lottogewinns oder so etwas. (Mein größtes Glück ist sowieso, dass ich echte Freunde habe.)
Nein, ich habe das Gefühl, dass mir besonders viel gelungen sei, dass Dinge geklappt haben, bei denen ich mich längst daran gewöhnt habe, dass es große Schwierigkeiten gibt.

Mal sehen, ob das so weiter geht.

Was das kommende Jahr angeht, hoffe ich das Beste und erwarte ich das Schlimmste. Aber das ist ja immer so.

Gruß aus den Raunächten. Die für mich noch nicht zuende sind.

Ich wünsche Euch allen ein glückliches neues Jahr!

Martin

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