Sonntag, 17. Januar 2010

Gott spiegelt das Ich

Es ist in der letzten Jahren Mode geworden, abstrakte metaphysische Phänomene wie Religiosität mit den Methoden der Neurobiologie zu untersuchen - vorzugsweise mit bildgebenden Verfahren wie MRT oder PET. Schon aus dieser Formulierung ist ablesbar, dass ich diesem Ansatz gegenüber deutlich skeptisch bin und ihn für doch arg reduktionistisch halte.
Trotz meiner Skepsis gegenüber derartigen Untersuchungen erscheint mir eine dieser Untersuchungen cum grano salis bemerkenswert. Gläubige projizieren eigene Gedankenwelt auf Gott (wissenschaft-online.de).
Gläubige Menschen übertragen unbewusst ihre eigenen moralischen und ethischen Vorstellungen in den Wertecodex, den sie als von ihrem Gott gegeben betrachten. Diese spätestens seit Feuerbach im Raum stehende These wurde durch eine Studie von Nicholas Epley (University of Chicago) und seinen Kollegen erhärtet.
Die Wissenschaftler befragten ihre überwiegend christlichen Probanden zu Themen wie der Todesstrafe, Abtreibung oder gleichgeschlechtlichen Ehen. Anschließend mussten die Teilnehmer die vermutete Haltung ihres Gottes einschätzen und mit der bekannter Persönlichkeiten (wie George W. Bush, dessen Ansichten allgemein bekannt sein dürften - oder Bill Gates, bei dem man bei solchen Fragen auf Vermutungen angewiesen ist) oder des "Durchschnittsamerikaners" vergleichen. Die Probanden nahmen ihre eigene Meinung als gottesnah wahr. Ähnlich schnitt die Einstufung der Meinung von Personen ab, die ein hohes öffentliches Ansehen genießen.

Mit Gehirnscans (MRT) zeigten die Forscher, dass bei der Einschätzung der Meinung von im Mittel negativer bewerteten Durschnittsamerikanern andere Hirnareale aktiv werden, als bei der Bewertung der eigenen oder der göttlichen Meinung. Betroffen sind dabei vor allem der mittlere präfrontale Kortex, der Precuneus und die Schläfenlappen, wo unter anderem die Meinung Anderer bewertet wird. Die Aktivitätsmuster wichen besonders deutlich ab, wenn die Bewerteten von den Probanden als "ungläubig" eingestuft wurden.
Nach Ansicht der Forscher spielt das Selbst bei der Entstehung des Glaubens eine größere Rolle als bisher angenommen. Ergänzung: als bisher von vielen Neurowissenschaftlern angenommen wurde. Gott wird, das folgern die Wissenschaftler aus ihre Untersuchung, also nicht wie eine andere Person "verarbeitet", sondern ist eine Projektion der eigenen Einstellungen. Die Intuition von "Gottes Willen" scheint das Echo der eigenen Ansichten zu sein.
Der Glaube an die "göttliche Meinung" könne als Verstärker dienen, um die eigene Gedankenwelt zu bestätigen und zu rechtfertigen. Anders ausgedrückt: Gläubige verstärken ihre persönlichen Meinungen mit dem ultimativen Autoritätsargument (Gott) in ihrem Ärmel - und tun dies offensichtlich unbewusst.
Wichtig erscheint mir die Feststellung, dass Epley betont, dass die Studie ausschließlich mit überwiegend christlichen Amerikanern durchgeführt wurde, und sie deshalb nicht automatisch auf alle "Weltreligionen" übertragbar sei. Wobei es interessant ist, was das Chicagoer Team unter "Weltreligionen" versteht. Mich würde z. B. eine Vergleichsuntersuchung mit überzeugten Atheisten mehr interessieren, als etwa mit gläubigen Moslems.
"Menschen benutzen egoistische Informationen, um auf Gottes Wille zu schließen, weil sie annehmen, dass die Meinungen religiöser Wesen wahr sind, und weil jeder Mensch denkt, dass seine Meinung richtig ist", heißt es in der Studie.

Ich teile nicht die Ansicht, dass jeder Mensch denkt, dass seine Meinung richtig sei - jedenfalls nicht immer. Nach meiner subjektiven und durch keine Studien gedeckten Ansicht hegen die meisten Menschen zumindest gelegentlich Selbstzweifel. (Von Ideologen einschließlich religiöser Fundamentalisten, die Selbstzweifel verdrängen, weil sie Zweifel für Verrat halten, und Narzisten, denen die Fähigkeit zur Selbstkritik irgendwie abhanden gekommen ist, vielleicht einmal abgesehen.) Ich vermute, dass Atheisten stärkere und häufiger Selbstzweifel hegen, als stark religiöse Menschen - dass also neben allgemeiner Skepsis auch die Skepsis gegenüber dem eigenen Denken und Fühlen zu Atheismus oder wenigstens Agnostik führt.

Für mich selbst kann ich sagen, dass ich kein Atheist bin (auch wenn das vielleicht das Vernünftigste wäre - nur ein metaphysisches Konstrukt, und das ist die "Vernunft"), sondern mich irgendwo zwischen Pantheismus, Panpsychismus und Polytheismus bewege. (In praktische Dingen eher Polytheismus.) Dabei erscheint es mir wichtig, dass ich durchaus einer anderen Ansicht sein kann, als der eine oder andere Gott. Odin hat ja niemals behauptet, und auch niemand, der ihn kennt, würde von ihm behaupten, er sei jederzeit gerecht. Die Vorstellung, dass jemand zu Loki beten würde"dein Wille geschehe", erscheint mir so absurd, dass ich schon beim Gedanken daran vor Lachen kaum halten kann. Meinungsverschiedenheiten unter Göttern sind in jedem mir bekannten Pantheon an der Tagesordnung.
Ich vermute daher - oder stelle die religionshistorische These auf - dass die Entwicklung des Monotheismus eng mit der Unterdrückung von Zweifeln und der Kanalisierung von Selbstzweifeln zu tun hat. Lese ich z. B. Augustinus "Confessiones"- dieser spätantike Philosoph gilt immerhin als "Kirchenlehrer" - dann fällt mir auf, wie Augustinus mit Selbstzweifel (er hatte übrigens ziemlich viele) umgeht - was dazu führte, dass er sich geradezu verzweifelt an Gott klammerte, und, nachdem er aus dieser Umklammerung Gewissheit geschöpft hat, als typischer Ideologe nicht nur Zweifel, sondern auch und vor allem Zweifler bekämpfte. Der gute Mann muss ein unerträglicher Streithammel und Rechthaber gewesen sein.

Bleibt noch die Feststellung: jede Glaubensgewissheit ist rein subjektiv und allein für den Gläubigen relevant. Relevant ist allein, wie sich ein Mensch gegenüber seiner Umwelt und seinen Mitmenschen verhält. Es muss also niemand darüber besorgt sein, dass ich es mit dem altnordischen Pantheon (unter vielem anderen) habe, Neoschamanismus praktiziere oder ein pragmatisch-praktisches Verhältnis zu dem pflege, was mangels eines besseren Wortes "Magie" genannt wird. Anderseits hat niemand allein deshalb einen Symphathievorschuss, weil er oder sie ähnliche "religiöse" Auffassungen hat wie ich.

Zum Abschluss die Hauptaussagen (ich würde eher sagen: Thesen) die der Feuerbringer aus dem Schwerpunktartikeln der Januarausgabe der "Bild der Wissenschaft" destilliert:

1. Religiosität ist wahrscheinlich ein Nebenprodukt, keine Adaption. Es gibt also kein „Gottes-Gen“.

2. Religiosität hat nichts zu tun mit der höheren Kinderzahl von Anhängern bestimmter Religionen.

3. Es gibt kein Gott-Modul im Kopf, vielmehr ist Religiosität ein mögliches Resultat ganz normaler Hirnfunktionen.

4. Religion hat mit Vernunft nichts zu tun, eher im Gegenteil.

5. Wahnsinn und starke Religiosität haben viel gemeinsam.

6. Die Religiosität einer Gesellschaft hängt stark mit hoher Einkommensungerechtigkeit zusammen. Wahrscheinlich verstärkt Religiosität die Ungerechtigkeit und diese verstärkt wiederum die Religiosität.

7. Auf individueller Ebene führt eine höhere persönliche Unsicherheit und Autoritätsgläubigkeit zu mehr Glauben.

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