Freitag, 14. August 2009

Hysterie um Kinderfotos

Der Anlass war diese kleine Notiz beim "Che" Textil und undersexed?, aber im Zuge meiner Recherchen hat sich der thematische Schwerpunkt stark geändert. Denn ob erwachsene Frauen, im Unterschied zu den ´80ern und ´90en, nichts mehr von "oben ohne" oder FKK halten, ist allein ihr Ding.
Anders sieht es mit dem Verhältnis zur "kindlichen Nacktheit" aus.
Da gab mir dieser Aufsatz auf "telepolis" neulich zu denken: Ab wann braucht mein Kind ein Feigenblatt?

Ich kann zwar bis zu einem gewissen Grad die Besorgnis einiger Eltern verstehen, die Angst vor Spannern mit Handykameras haben, aber meines Erachtens schlägt die Sorge oft in Hysterie um. Denn die reale Gefahr der sexualisierten Kindesmisshandlung droht eher innerhalb der Familien. Oder von Vertrauenspersonen, die das in sie gesetzte Vertrauen missbrauchen - in einem aktuellen Fall war es ein Sportlehrer. Laut BKA werden fast drei Viertel der sexuell motivierten Übergriffe auf Kinder von Tätern aus dem unmittelbaren, familiären Umfeld begangen.

Glücklicherweise geht der reale "sexuelle Missbrauch" (sexualisierte Kindesmisshandlung) seit Jahren zurück. Aber offensichtlich nimmt zur gleichen Zeit nicht nur die Angst zu, sondern sie verlagert sich auch - weg aus dem tatsächlich gefährlichen "Nahbereich", hin zum "bösen Fremden". Ich traf neulich eine junge Mutter, die sich nur schreckliche Angst vor "den kranken Hirnen, die überall lauern" äußerte, sondern auch alarmiert war, dass manche Kameras automatisch die geographischen Koordinaten ermitteln und in der Bilddatei ablegen. Ihr Alptraum, über den ich mich hier ausdrücklich nicht lächerlich machen will, ist die Vorstellung, dass jemand ihre kleine Tochter nicht nur heimlich fotografieren, sondern auch sofort ins Internet stellen würde, mit der automatischen Angabe, wo "andere Triebtäter" ihre Tochter finden könnten. Sexualverbrechen sozusagen nach "Online-Katalog".
Die Frau tut mir wirklich leid. Denn die panische Angst ist nicht auf ihrem Mist gewachsen. Sie ist Opfer einer völlig schiefen Darstellung des Problems in den (sensationsgeilen) Medien - und auch von politischer Seite.
Ich vermute, dass unsere - auch meine - Wahrnehmung von Nacktheit, durch die Medien, insbesondere auch die Werbung, ("Sex sells") sexuell aufgeladen wird.
In Zeitschriften, auf Internet-Klickstrecken, im Fernsehen und Kino ist der Großteil von Nacktszenen mit sexuellen Handlungen oder Gefühlen verbunden. Gerade junge Menschen sind deshalb chronisch übersext (- und, wie ich vermute, zugleich chronisch untervögelt).
Was m. E. zu der von Che aufgegriffenen "neuen Verklemmtheit" beiträgt: welche Frau legt sich schon "oben ohne" in die Sonne, wenn sie ständig darauf gestoßen wird, dass unzählige Männer sie dann auf ein Lustobjekt reduzieren?
Es ist meiner Ansicht nach vor allem auf diese verkürzte Wahrnehmung "Nacktheit - Sex" zurückzuführen, wenn Bilder von nackten Kinder automatisch mit "Kinderpornographie" gleichgesetzt werden. In dieser Hinsicht stimme ich unserer sonst nicht immer durch Sachkenntnis überzeugenden Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen voll und ganz zu: Bei Kinderpornographie geht es nicht um nackte Kinder, sondern um die Misshandlung von Kindern vor der Kamera.

Die Berichte in den Medien suggerieren, dass jederzeit und überall Pädophilie auf ihre Opfer lauern. Wobei es ja schon ein populäres Missverständnis ist, Pädophile und "Kinderschänder" gleichzusetzen. Die meisten sexualisierten Gewalttaten gegen Kinder werden von Nicht-Pädophilen verübt. Zum Beispiel, weil ein kindliches Vergewaltigungsopfer (um ein Extrembeispiel zu nennen) sich nicht wie ein erwachsenes Opfer wehren kann. Weil viele Sexualstraftäter mindestens ebenso sehr vom "Rausch", Gewalt gegen ein hilfloses Opfer auszuüben, motiviert sind, wie von sexuellem Verlangen. Ein "Pädo" kann gefährlich sein, ist es - muss aber nicht. Ein wesentlicher, aber sträflich vernachlässigter, Punkt bei der Vorbeugung von Sexualverbrechen ist es, potenzielle Täter nicht zum Täter werden zu lassen. Aber Präventionsarbeit mit Pädophilen ist weniger populär als Forderungen nach drakonischen Strafen. Die erst dann greifen, wenn es schon zu spät ist.
Mit Blick auf das konkrete sexuelle Verhalten gelingt es einem Teil der betroffenen Männer, seine sexuellen Impulse lebenslang auf der Fantasieebene zu belassen. Auf keinen Fall ist daher die Diagnose Pädophilie oder Hebephile mit sexuellem Kindesmissbrauch oder sexueller Ausbeutung durch Kinderpornografienutzen gleichzusetzen.
(Zitiert aus Charité Berlin - Kein Täter werden - auch nicht im Netz)
Damit will ich reale Gefahren nicht verharmlosen - im Zweifel ist es richtig, einen "spannerverdächtigen" Mann (sehr viel seltener: Frau) mal laut und deutlich zu fragen, was er da macht. Was gegen echte Spanner übrigens sehr wirksam ist ...
Etwas Besorgnis ist gut - ständige Angst hingegen gefährlich. Man male sich einmal aus, wie Kinder aufwachsen, deren Eltern hinter jedem Busch einen Spanner mit Digitalkamera vermuten, der die heimlich geknipsten Bilder von den Kleinen ins böse Internet lädt.

Übrigens, noch etwas zum von mir gern zitierten Spruch: "Früher gab es auch nicht weniger Pädophile - aber kein Privatfernsehen":
Mitte der 1990er Jahre gab es eine Debatte um sogenannte FKK-Hefte, die damals offen im Zeitschriftenhandel verkauft wurden, in denen überwiegend Nacktfotos von Kindern und Jugendlichen gezeigt wurden, jedoch ohne Informationen oder sonst erkennbaren Bezug zur Freikörperkultur - was bedeutet, dass "FKK" ein Euphemismus war. Es ist zu vermuten, dass viele dieser Hefte als "Wichsvorlagen" dienten. Obwohl sich einige der Fotos im Graubereich der Posing-Fotos bewegt haben sollen, handelte es dabei durchweg nicht um Kinderpornographie im gesetzlichen Sinne - weshalb diese Hefte auch nicht schlicht verboten, eingesammelt und eingestampft, sondern als "jugendgefährdend" indiziert wurden. In der damaligen öffentlichen Debatte wurde das aber nicht immer klar.
An dieser Stelle kommt das Privatfernsehen ins Spiel, konkret der Moderator der damals populärsten RTL-Talkshow, Hans Meiser. In einer Sendung, die ich 1995 selbst sah. Ja, ich gebe zu, damals sah ich ab und an noch nach Feierabend Seicht-TV - habe ich mir inzwischen erfolgreich abgewöhnt, was bei einem Programmniveau zum Abgewöhnen auch nicht weiter schwer war. In dieser Sendung zeigte Meiser eine Broschüre des DFK, auf dessen Titelbild ein kleines nacktes Mädchen beim Baden im Meer abgebildet war. Dabei fragte er, ob solche Bilder nicht fehlgeleitete Menschen den Weg in die FKK-Vereine weisen könnten. Selbst wenn ich davor ausgehe, dass Meiser es gut gemeint haben könnte, und die FKK-Vereine nur vor Formen der Werbung, die auch Pädophile ansprechen könnte, warnen wollte, war ich erst einmal baff.
Wie ich später erfuhr, war der DFK auch reichlich und zurecht sauer, denn damit geriet auch ein völlig seriöser Verein in den Verdacht, Teil der "kinderpornographischen Grauzone" zu sein - auch wenn Meiser das natürlich niemals so gesagt hatte.
Ich weiß nicht, ob es noch weitere Fälle in der Art der Meiser-Talkshow gab, ich könnte es mir aber sehr gut vorstellen.

Ich vermute, dass die Hysterie nicht zufällig zugenommen hat, aber auch nicht, dass sie zentral geschürt wird. Es überwiegt meiner Ansicht nach bei Politikern der Typus des ängstlichen Angstmachers, des unsicheren Sicherheitsverkäufers, in den Medien hingegen die des Sensationsverkäufers - nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, und Sex & Crime gehen immer. Dass ängstliche Menschen sich leichter beherrschen lassen, wissen Politiker und "Sicherheitsexperten" sowieso.
Terrorismus ist überall, an der Schweinegrippe-Pandemie sterben die Menschen wie Fliegen, und in den Parks lauern zehntausende Kinderschänder ihren Opfern auf. Da muss doch knallhart und rücksichtlos durchgegriffen werden!

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