Mittwoch, 12. November 2008

Journalisten? Stören doch nur den Betrieb ...

"Wenn man sich anschaut, wer überall mit Journalistenausweis herumläuft: Dafür kann man nicht die Schranken öffnen." Außerdem schließe das Gesetz "eine bestehende Lücke im Sicherheitssystem".
(Das war übrigens die Stellungnahme der SPD zum Thema: Quellenschutz für die Presse in Hinblick auf die Online-Überwachung.)

Zeit online: Innenausschuss nickt Onlinedurchsuchung ab

Nachtrag: Hans Leyendecker beschreibt auf sueddeutsche.de welche Folgen fehlender Informantenschutz hat: Mehr als 30 Jahre blieb geheim, wer die Watergate-Affäre aufdecken half. Hätte es in den USA ein BKA-Gesetz gegeben, hätten Bob Woodward und Carl Bernstein ihren Informanten kaum schützen können.

Offener Brief an Christian Wulff

Wie che, auf dessen Blog ich den offenen Brief entdeckte, habe ich so das eine oder andere an der Gesellschaft für bedrohte Völker zu kritisieren. Aber dem Text dieses offenen Briefes kann ich nur zustimmen. Ich sehe in unseren Verhalten gegenüber den Opfern rassistischer, religiöser und politischer Verfolg den Prüfstein dafür, ob die Reden am letzten Sonntag, anlässlich des 70. Jahrestages der Naziprogrome gegen deutsche Juden, mehr wahren als nur heiße Luft.
Nicht die Manager, Herr Ministerpräsident Wulff, sondern Iraks Christen sind heute Pogrom-Opfer, deren Aufnahme in Deutschland Ihr Innenminister seit Monaten unchristlich hinauszögert! Sorgen Sie dafür, dass endlich 50.000 dieser wirklichen Pogrom-Opfer in Deutschland und in Niedersachsen aufgenommen werden!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

Sie haben verlautbart, dass man bei uns "Pogromstimmung" gegen
Manager verbreitet. Doch Deutschlands Manager sind natürlich von keinem Pogrom bedroht. Allenfalls erscheinen einige von ihnen eher bedrohlich für Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Echte Pogromstimmung haben vor wenigen Tagen islamische Fundamentalisten und arabische Nationalisten gegen die assyro-chaldäischen Christen in der nordirakischen Stadt Mosul geschürt. Und sie haben tatsächlich ein Pogrom an den hilflosen Menschen begangen: Mord, Folter, Verschwindenlassen und Vertreibung!

Seit zwei Jahren versucht die Gesellschaft für bedrohte Völker, die
Aufnahme heimatlos gewordener christlicher Flüchtlinge und Vertriebener aus dem Irak durchzusetzen. Seit einem Jahr bemühen sich auch die beiden großen Kirchen in Deutschland darum. Wir haben jedoch den Eindruck, dass Ihr Innenminister Uwe Schünemann die Aufnahme dieser existenziell bedrohten Menschen nicht nur immer weiter hinauszögert, sondern auch die mögliche Zahl der hier aufzunehmenden Flüchtlinge immer weiter auf eine kleine Gruppe begrenzen will. Diese Haltung ist besonders unwürdig, wenn sie von einer Partei vertreten wird, die sich
nicht nur mit ihrem Namen auf christliche Werte beruft. Nach der Christen-Vertreibung aus Basra und Bagdad, sind jetzt die Christen Mosuls Opfer eines Pogroms, denen Deutschland Zuflucht und Hilfe verweigert.

Ich verfasse diese Presseerklärung in Gewissensruh, in einer der alten Hugenottensiedlungen an der Weser. Die christlichen Hugenotten wurden hier einst als Flüchtlinge großzügig aufgenommen und erfolgreich integriert.
Dies ist ein Beispiel von Humanität zur rechten Zeit wie auch in den 80er Jahren die Aufnahme der assyro-aramäischen Christen aus der Türkei.
Schon längst haben sie ihren Lebensmittelpunkt, ihre Kirchen, Gemeinden und Betriebe in Deutschland.
Dies ist ein Beispiel von Humanität zur rechten Zeit wie auch in den 80er Jahren die Aufnahme der assyro-aramäischen Christen aus der Türkei. Schon längst haben sie ihren Lebensmittelpunkt, ihre Kirchen, Gemeinden und Betriebe in Deutschland.

Mit freundlichen Grüßen,

Tilman Zülch

Nur zur Erinnerung: es kann jeden betreffen

Heute wird der Bundestag das BKA-Gesetz verabschieden. Auch wenn z. B. Jörg Schönbohm, Innenminister in Brandenburg, meint, die im Gesetz vorgesehenen Regelungen - zu denen z. B. die "visuelle Wohnraumüberwachung", also Kameras, die das BKA legal heimlich in Wohnungen einsetzen darf, gehört - würde nur in seltenen Fällen angewendet - die Erfahrung spricht dafür, dass das, was gemacht werden darf, auch gemacht wird. Man sehe sich z. B. die britischen Umgang mit angeblich zur Terrorismusabwehr geschaffenen Gesetzen an. Zum Beispiel wurde, um das Vermögen der isländischen Bank Landsbanki in Großbritannien einzufrieren, kurzerhand auf ein Antiterrorgesetz zurückgegriffen. Das RIPA-Gesetz hält dafür hin, dass versteckte Überwachungskameras angebracht, um Täter in flagranti zu erwischen - Täter, die z. B. ihren Müll falsch entsorgen, falsch parken oder illegal Pizza verkaufen. (Man soll sich keine Illusionen darüber machen, dass das in Deutschland anders wäre.)

Wie niedrig schon jetzt die Schwelle ist, ab der ein Mensch in "Terrorismusverdacht" geraten kann, zeigt aktuell der Fall "Bomben-Burks" - beim bekannten Journalisten Burkhard “Burks” Schröder wurde die Wohnung durchsucht und der Rechner beschlagnahmt - Grund (bzw. Vorwand): ein uralter Beitrag über Sprengchemie in seinem Blog, der auch nur kopiert war - das sei ein Verstoß gegen das Waffengesetz. (Demnach würden auch viele Chemielehrbücher gegen das Waffengesetz verstoßen - aber die stehen ja nicht im pösen, pösen Internetzdingens da.)

Nachtrag: Ein "schönes" Beispiel für die Auslegung der Anti-Terror-Gesetze in Großbritannien The dustbin Stasi
Half of councils use anti-terror laws to watch people putting rubbish out on the wrong day
(Dank an Björn.)

Leider immer wieder ein Thema: Antisemitismus

Es ist ein bezeichnender Vorfall, nicht untypisch für die deutsche Provinz, der nicht als "Provinzposse" verharmlost werden sollte:
Im niedersächsischen Bad Nenndorf versammelten sich - wie in vielen anderen Städten - am Sonntag, dem 9. November zahlreiche Menschen zum Gedenken an die Millionen Opfer des nazideutschen industriell betriebenen Massenmords und an die Pogromnacht vor 70 Jahren. Doch in Bad Nenndorf, wo Neonazis Jahr für Jahr aufmarschieren, sorgte der Stadtdirektor nicht zum ersten Mal für einen Eklat: Er ließ die jüdische Gemeinde nicht zu Wort kommen.
Bad Nenndorf erteilt Juden Redeverbot

Der Grund, weshalb Samtgemeindebürgermeister Bernd Reese den Eklat riskierte, liegt vermutlich darin, dass er unangenehme Aussagen seitens der jüdischen Gemeinde fürchtete. Wie anderswo werden die Themen "Rechtsextremismus" und "Antisemitismus" gerne mit Rücksicht auf das gute Image des Kurortes unter den Teppich gekehrt.
Die Sprecherin der jüdischen Gemeinde, Marina Jalowaja, hätte z. B. gesagt: "Bei allem Vertrauen in die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung Deutschlands gab und gibt es jedoch immer wieder Anlass zur Sorge. Hier wie im übrigen Europa ist der Antisemitismus nach wie vor virulent." Worte wie diese passten Bürgermeister Reese anscheinend nicht. Da werden dann fadenscheinige Ausreden bemüht, etwa die, dass am Volkstrauertag ja auch nicht die politischen Parteien zu Wort kämen, damit ja niemand auf die Stellen zeigen könnte, wo sich der Teppich verdächtigt wölbt

Es gibt in Deutschland nicht mehr - aber auch nicht weniger - Antisemiten als in den Nachbarländern. Das Problem liegt m. E. weniger darin, dass es eine kleine Schar hartnäckiger Judenhasser gibt. Problematischer sind die weit verbreitete Haltungen, aus denen heraus Antisemitismus geduldet oder teilweise bejaht werden. Im der Studie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)", die von Prof. Wilhelm Heitmeyer (Universität Bielefeld) geleitet wird, stimmten im Jahr 2005 21 % der Befragten der klassischen antisemitischen Aussage: "Juden haben zu viel Einfluss" eher oder voll und ganz zu , 13 % waren der Ansicht, "durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig".

Man kann uns Deutschen sicher nicht vorwerfen, wir hätten uns mit den Nazi-Verbrechen nicht auseinandergesetzt. Dass trotzdem Geschichtsvergessenheit droht, hat mehrere Ursachen: z. B. sinnentleerte Betroffenheitsrituale, die in kalendarischer Reihenfolge abgefeiert werden, aber auch eine Beschwörung der Vergangenheit, um dabei die Gegenwart leugnen. Auch wird die Geschichte zu oft "falsch herum" berichtet: über die Tat selbst wird berichtet, auch über die Täter, aber die "Opfer" aufs "Opfersein" reduziert. So erfahren z. B. Schüler nur, dass der "Holocaust" furchtbar war, aber sie bekommen offensichtlich kaum mit, dass es sich überhaupt um Menschen gehandelt hat.
Übrigens sind auch abwegigen Vergleiche mit der Judenverfolgung, egal, ob man sich selbst als "Opfer" stilisiert oder einem Vorwurf mittels "Antisemitismuskeule" Nachdruck verleiht, Geschichtsvergessenheit. (Schon das Wort "Antisemitismuskeule" ist im Grunde geschichtsvergessen - aber so wird wenigstens klar, worum es geht.)

Woher kommt der moderne Antisemitismus?

Da schließe ich mich dem Soziologen Detlev Claussen an. Claussen bezeichnet den Antisemitismus als Alltagsreligion, als falsche Erklärung für etwas, was man täglich erlebt. Typisch für die Moderne sind indirekt, über den Markt vermittelte Beziehungen, und über den Markt vermittelte Herrschaft. Im Unterschied zur direkten personalen Herrschaft und Ausbeutung etwa durch einen Feudalherrn (oder einen allmächtigen Diktator) ist diese vermittelte Herrschaft unanschaulich. Deshalb werden diese unpersönlichen Herrschaftsverhältnisse im Alltagsverständnis personalisiert (z. B. als böser Bankier). Diese schon verzerrte Wahrnehmung wird dann noch einmal verzerrt, indem im nächsten Schritt "die Juden" verantwortlich gemacht werden.
Im modernen Antisemitismus (etwa ab Ende des 19. Jahrhunderts) wird die rasche Entwicklung des industriellen Kapitalismus durch den Juden personifiziert und mit ihm identifiziert. Dabei werden Juden für (schwer durchschaubare) ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der Industrialisierung und der Globalisierung einhergehen.
August Bebel nannte den "antikapitalistisch" daher kommenden Antisemitismus den "Sozialismus der dummen Kerle". Das ist zwar nach wie vor richtig, aber der Antisemitismus der "klugen Kerle" dürfte gefährlicher sein, denn jene Formen des "Antikapitalistismus", die in falschen Gegensätze wie dem zwischen industriellem und Finanzkapital, schaffendes versus raffendes Kapital denken, sind leider nicht auf Dumpfnazis beschränkt. An solche Vorstellungen können antisemitische Denkschemata andocken, in denen die Gestalt "des Juden" die Personifikation der unfassbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft "des Kapitals" ist.
Das dürfte der wichtigste Grund sein, wieso 21 % der befragten Deutschen der klassischen antisemitischen Aussage: "Juden haben zu viel Einfluss" zustimmen - auch wenn sie "persönlich gar nichts gegen Juden haben".

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