Samstag, 9. August 2008

Gedanken zur Kultur der Angst

Angeregt durch einen schon etwas zurückliegenden Blogbeitrag von Andreas Stadelmann A - N - G - S - T !!!, durch ein Gespräch mit Sven Scholz vor genau einer Woche und nicht zuletzt einigen Reflektionen darüber, wie Angst meine Persönlichkeit prägt, die ich aber größtenteils für mich behalte, schreibe ich über Angst. Keine originellen oder neuen Gedanken, gewiss nicht; alles, was ich hier schreibe, habe andere entweder schon besser ausgedrückt, oder ich vermute wenigstens, dass andere es schon besser ausgedrückt hätten.

Angst spielt im heutigen Bewusstsein eine zentrale Rolle. Nicht nur in Deutschland - die "German Angst" ist in den USA geradezu sprichwörtlich - werden unterschiedlichste Themen durch "Angst-Brille" gesehen.
Angst und Angstabwehr spielten schon im frühen 20. Jahrhundert eine problematische Rolle im politischen Handeln, man denke an die Ursachen des 1. Weltkrieges oder an den Aufstieg der Nazis in Deutschland; und die Jahre des "Kalten Krieges" kann man ohne weiteres als Zeitalter der Angst charakterisieren. Aber erst in den letzten Jahrzehnten, in dem eine große Anzahl konkreter und eine noch größere Zahl abstrakter Ängste kultiviert worden sind, durchdringt die "Kultur der Angst" fast alle Lebensbereiche.

Ob das Ausmaß der Angst tatsächlich zugenommen hat, kann ich nicht sagen. Ich nehme an, dass es sich selbst mit Methoden der Demoskopie nicht erfassen ließe, von einem historischen Vergleich etwa mit der Situation des Jahres 1958 oder 1908 gar nicht zu reden. Schon Begriffe "Angst", "Furcht" oder "Gefahr" unterliegen einem Bedeutungswandel, der historische Vergleiche erschwert. "Furcht" bedeutete z. B. ursprünglich "Respekt", was in Begriffen wie "Ehrfurcht" oder "Gottesfurcht" anklingt. Ein Begriff, der sich in der Umgangssprache in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat, ist das "Risiko" - Begriffe wie "lohnenswertes Risiko" tauchen heute so gut wie nicht mehr auf. "Risiko" wird zunehmend als Synonym für "Gefahr" oder "Bedrohung" gebraucht.
Man kann aber indirekt, aus dem Verhalten der Menschen, schließen, wovor und wie stark sie Angst empfinden. Wenn man sich vor Augen hält, wie stark etwa die Nachfrage nach Alarmanlagen oder komplizierter Schließsysteme, oder die Überwachung des öffentlichen Raums in den letzten 20 Jahren zugenommen hat, dann lässt das darauf schließen, dass offensichtlich auch die Angst vor Kriminalität zugenommen hat (bei real stagnierender oder sogar sinkender Kriminalitätsrate). Hingegen bleibt offen, ob etwa die Kriegsangst heute größer oder geringer als 1988, 1968 oder 1948 ist.

Neben den "großen", medial aufbereiteten Katastrophenängsten (Terrorismus, Klimawandel oder Energieverknappung - aber auch "Ängste der Saison" wie z. B. die vor einer Vogelgrippepandemie) äußert sich die Angstkultur auch in Form zahlreicher "kleiner" Alltagsängsten.
Es gibt begründete Alltagsängste, wie die Furcht vor Arbeitslosigkeit, Ängste mit einem realen Grund, der aber weit überschätzt wird, wie die schon erwähnte Angst vor der (angeblich) zunehmenden Kriminalität, und völlig irrationale Ängste, wie die Angst vor dem "Anderen", dem "Fremden", dem "Ungewohnten".
Die Angst vor dem "Fremden" äußert sich nicht nur in Rassismus, "Ausländerfeindlichkeit" oder Anti-Islamismus, sondern auch in der Angst vor unverstandener, und deshalb "unheimlicher", Technik. Ein Musterbeispiel ist "das Internet" - je weniger Ahnung jemand davon hat, desto größer sind in der Regel die Ängste, die sich mit diesem Medium verbinden. Wobei die größte Angst davon ausgeht, dass das Internet kein "top down" kontolliertes Medium ist - jeden kann "ungefragt seine Meinung im Internet absondern". Wie überhaupt Angst vor Kontrollverlust die politisch bedeutsamste Form von Angst sein dürfte. (Wie Angst Menschen zu "Kontrollfuzzis" macht, weiter unten.)
Dabei warne ich vor einem Missverständnis: wer z. B. über die Funktionsweise eines Kernreaktors und die Problematik nukleare Abfälle bescheid weiß, der hat zwar in der Regel auch weniger Angst vor der "Atomkraft", was aber nicht heißen muss, dass derjenige damit automatisch zum Kernenenergie-Befürworter werden würde - tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall.
Risikobewusstsein, und damit einhergehend das Bewusstsein für Gefahren, und Angst sind nicht dasselbe. Ein guter Autofahrer ist sich der Gefahren des Straßenverkehrs bewusst, und fährt entsprechend vorsichtig, hat aber keine Angst vor dem Straßenverkehr. Angst ist etwas Absolutes, erlaubt kein Abwägung von Risiken mehr - habe ich Angst vor Hunden, dann jagt mir auch der freundlichste Zwergpudel Schrecken ein.

Norbert Elias schrieb in "Über den Prozess der Zivilisation", dass Angst einer der wichtigsten Mechanismen sei, durch den "die Strukturen der Gesellschaft in psychologische Funktionen des Individuums übertragen werden", und folgerte, der zivilisierte Charakter werde zum Teil durch diesen Prozess der Internalisierung von Angst konstruiert. Internalisierung meint, dass es für die Angst keinen konkreten Anlass geben muss, und auch niemanden, der uns Angst macht - die Angst ist sozusagen in unsere Persönlichkeit "eingebaut". Etwa die Angst vor Prestigeverlust oder die Angst davor, schuldig zu werden.
Lange vor Elias betrachtete der englische Philosoph Thomas Hobbes die Angst als entscheidend für die Entwicklung des Individuums und einer zivilisierten Gesellschaft. Weil Hobbes glaubte, der "Naturzustand" sei ein brutaler Kampf jeder gegen jeden, und der Staat sei eine Einrichtung, die den Einzelnen zu seinem eigenen Besten diszipliniert, hielt Hobbes Angst für etwas Positives.

Gefahren lösen nicht direkt Angst aus, sondern unsere Reaktionen werden durch kulturelle Normen vermittelt, die uns sagen, was von uns erwartet wird, wenn wir in Gefahr sind, ob etwa eine Gefahr mit Angst besetzt ist, wie diese Angst erlebt wird und wie sie "angemessen" ausgedrückt wird.
Typisch für Angst ist, dass das Ausmaß der Angst nicht direkt dem Ausmaß des Risikos entspricht - klassisches Beispiel ist die Angst vor sexuell motivierten Verbrechen an Kindern: die meisten Menschen überschätzen das Ausmaß der Gefahr (etwa 20 Fällen pro 100.000 Einwohnern, Spanner und Exhibitionisten eingerechnet) und schätzen die Richtung, aus der sie kommt, falsch ein (die meisten dieser Verbrechen werden von Angehörigen oder engen Bekannten verübt).
Da Angst (auch) sozial konstruiert ist, kann sie auch von denen manipuliert werden, die sich davon Vorteile versprechen.
Im Fall der Sexualverbrechen an Kindern gilt, dass ohne Multiplikatoren, die einfach Behauptungen wie "jedes Jahr werden etwa 20.000 Kinder zu Opfern sexueller Gewalt" in den Raum stellen oder (wahrheitswidrig) behaupten, es gäbe "immer mehr" Sexualverbrechen an Kindern, die Angst sehr viel geringer wäre. Dabei handelt jemand, der Angst manipuliert, nicht unbedingt aus kalter Überlegung heraus - es dürfte der Normalfall sein, dass Manipulatoren die Ängste, die sie vermitteln, auch selbst empfinden. Innenminister Schäuble hat z. B. wirklich Angst vor Terroristen (und wahrscheinlich noch mehr Angst davor, man könne ihm nach einem Anschlag den Vorwurf machen, er hätte nicht alles Menschenmögliche getan, um diesen Anschlag zu verhindern).

Was die Dinge angeht, die uns ängstigen, fällt auf, dass die meisten dieser Ängste durch die Medien kultiviert wurden und nur wenige Resultat direkter Erfahrungen sind.
Trotzdem halte ich es für falsch, Angst in erster Linie der Macht der Medien, oder den Machenschaften sich der Medien bedienender Manipulatoren, zuzuschreiben. Angst hat auch sehr viel mit "Vereinzelung" und Machbarkeitsdenken zu tun: wenn ich glaube, ich sei "selbst meines Glückes Schmied" (und in jedem Fall), dann glaube ich auch, dass meine Probleme, Sorgen und Krisen von mir selbst erzeugt wurden - ich bin "selber schuld" wenn es mir schlecht ergeht. Infolge dessen werde ich jede meiner Handlung auf mögliche Gefahrenquellen untersuchen und stets sorgsam darauf achten, alles richtig zu machen - und wenn es doch schief geht, vermuten, ich hätte trotz Sorgfalt einen "Fehler begangen". Am Ende ist alles, was ich tue oder lasse, mit der Angst, etwas falsch zu machen, besetzt.

Egal, ob sich die Menschen heute mehr oder weniger ängstigen, als vor 50 Jahre: sie ängstigen sich anscheinend heute anders. Die (öffentlich geäußerten) Ängste des Jahres 1958, egal ob Angst vor dem "heißen" Krieg, vor Krankheit, vor Hunger und Mangel usw. konnten in der Regel einer konkreten Bedrohung zugeschrieben werden (selbst wenn diese Bedrohungen real nicht bestanden). Heutige Ängste richten sich weitaus mehr als damals auf abstrakte Gefahren, also etwa "die Kriminalität macht mir Angst" und nicht etwa die konkrete Gefahr, dass mir ein Taschendieb das Portemonnaie klauen könnte. Gegen Taschendiebe kann ich mich unter Umständen wirksam schützen, ich kann aus Erfahrung das Ausmaß der Gefahr abschätzen, ich weiß, in welchen Situationen diese Gefahr droht - bei "der Kriminalität" geht das nicht. "Das Böse ist immer und überall", abstrakte Ängste, denen keine konkreten Bedrohung mehr zugeordnet werden können, sind allgegenwärtig, unvorhersehbar und maßlos. Die Gefahr, dass zur abstrakten Angst eine "passende" (maßlose) konkrete Bedrohung gesucht und gefunden wird, und dass diese Bedrohung dann personalisiert wird, ist real - und eine ständig sprudelnde Quelle sowohl für Verschwörungstheorien wie auch z. B. für Rassismus. Diffuse Ängste gebären Hexenjagden - was übrigens wörtlich genommen werden kann.

Wenn Ängste zunehmen, dann liegt das auch daran, dass abstrakte Ängste konkrete Ängste verstärken. Seit dem 11. September 2001 hat sich die abstrakte Angst vor dem Terror weit verbreitet und Einzug in fast alle Lebensbereiche gehalten. In den Jahren seit dem "11. September" sind früher als "normal" betrachteten Gefahren, etwa die der Passfälschung, wenn sie mit dem Terrorismus verknüpft werden, zu enormen Bedrohungen aufgewertet worden, womit dann jede noch so drastische Maßnahme zu Abwehr dieser enormen Bedrohungen legitim erscheint. Die Frage nach der Effizienz der Mittel zur Terrorismusbekämpfung wird nicht mehr gestellt, es reicht aus, wenn das Mittel effektiv zu sein verspricht.
(Ein Vorschlaghammer ist ein effektives Mittel gegen eine in der Wohnung umherschwirrende Mücke, ist für diesen Zweck aber höchst ineffizient.)
Wer ständig in Angst lebt, zumal in "abstrakter" Angst, gegen die man wenig tun kann, wird verunsichert. Verunsicherung fördert ihrerseits eine Angst, nämlich die Angst vor dem Wandel. Diese aus Verunsicherung geborene Angst vor dem Wandel führt nicht etwa zu einer gewissen Skepsis gegenüber Neuerungen, also einem gesunden Pessimismus, sondern zur zwanghaften Neigung, stets von jeder Veränderung das Schlimmste zu befürchten.
Menschen, die von Berufs wegen ständig Entscheidungen treffen müssen, haben nicht die Möglichkeit, sich passiv zu verhalten. Da auch ihnen letzten Endes jedes menschliche Handeln als "Risiko" erscheint sind z. B. von Angst geprägte Politiker meiner Ansicht nach beinahe zwangsläufig "Kontrollfreaks", darauf bedacht, wie sie sagen, "Risiken zu managen". "Risikomanagement" heißt aus dem Munde dieser Politiker: "Alles, was ich nicht jederzeit im Auge und im Griff habe, ist gefährlich!"

Ich merke, dass ich in gewisser Weise auch von der Angst vor Kontollverlust geprägt bin. Beispielsweise empfand ich letzte Woche, nachdem ich etwas Alkohol getrunken hatte, plötzlich tiefe Angst. Ich war keineswegs betrunken oder auch nur angetrunken, ich merkte nur, dass meine die Zunge gelöst war, und ich redete ohne vorher nachgedacht zu haben. Ich fürchtete, da ich meine Worte nicht mehr "unter Kontrolle" hatte, meinen Freunden dadurch, dass ich "Blech redete", auf die Nerven zu gehen. Letzten Endes schwang sicherlich auch meine längst verinnerlichte Angst, folgenschwere Fehler zu begehen, mit - obwohl ich rational, vom Verstand her, längst begriffen habe, dass ich keineswegs immer "meines Schicksals Schmied" bin, und dass ich unter Freunden war, von denen ich nichts zu befürchten habe. Die mir deutlich sagen würden, wenn ich ihnen wirklich auf den Keks gehe - und die nicht etwa stillschweigend mein "Fehlverhalten" als Ansatzpunkt für Intrigen notieren würden.

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