Samstag, 2. Februar 2008

Warum gibt es heute weniger Morde als in früheren Zeiten?

Wir leben - trotz "asymetrischer" Kriege, deren Tote durchweg Nichtkombattanten sind, trotz Terror, Bürgerkriegen und Gewalt, trotz der Massenmorde, Genozide, Ethnozide, Vernichtungskriege - in einer historischen Epoche, in der das Risiko, von Menschenhand zu sterben, geringer ist, als je zuvor.

Der Wissenschaftsjournalist Jürgen Langenbach schrieb vor wenigen Tagen zu diesem Thema in "Die Presse":Anthropologie: Das Verschwinden der Gewalt

Nach Erhebungen des Kriminologen Manuel Eisner (Cambridge) starben In Europa im 15.Jahrhundert 41 von 100.000 Menschen pro Jahr einen Tod durch Menschenhand, dann sank die Rate von Jahrhundert zu Jahrhundert (19, 11, 3,2, 2,6), im 20. Jahrhundert lag sie bei 1,4. (Br. J. Criminol., 41, S.618)..

Warum ist das so? Langenbach verweist in seinem Artikel auf die Evolutionsbiologie - eine Forschungsrichtung, die überhaupt erst durch den Versuch entstanden ist, destruktives menschliches Verhalten (wie Mord) mit den Grundannahmen der Soziobiologie in Einklang zu bringen. In soziobiologischer Sicht werden Gene begünstig, die ihre Träger mit Verhaltensweisen ausstatten, mit denen sie die ihnen zur Verfügung stehende Zeit und Energie erfolgreicher im Kampf um knappe Ressourcen einsetzen können als konkurrierende Individuen oder Artgenossen. Kriege und Morde "aus niederen Motiven" wären kontraproduktiv, da ressourcenverschwendend. Außerdem ist Gewalt ist auch für Ausübende riskant. Wer also davon ausgeht, dass das menschliche Gewaltpotenzial genetisch bedingt ist, steht vor dem Problem, wieso sich Träger von Genen durchsetzen, die die "intraspezifische Aggression" begünstigten?

1988 schlugen Martin Daly und Margot Wilson im Buch „Homizid“ eine Erklärung vor, und zwar die, dass unser Gehirn generell gewaltbereit sei, aber diese genetisch bedingte Gewaltbereitschaft nur ein "Nebenprodukt" der Selektion wäre. In der Hauptsache gehe es um Status und Reproduktion, und dabei komme es schon einmal vor, dass Nebenbuhler handgreiflich werden. Das war sozusagen die Geburtsstunde der Evolutionspsychologie. (Es gibt auch noch weitaus radikalere Evolutionpsychologen, die etwa direkte Vorteile kriegerischen Verhaltens annehmen - oder Vergewaltigungen als wirksame Vermehrungsstrategie männlicher Genträger beschreiben.)

Das tatsächlich abnehmende Risiko, Opfer von Mordes, Totesstrafe, Krieg oder Totschlag zu werden, bringt die stramm biologistische Weltsicht der Evolutionspsychologie in Erklärungsnöte.

Um die Frage beantworten können, ob das Risiko, durch die Hand seiner Mitmenschen zu sterben, tatsächlich im Laufe der Menschheitsgeschichte abnahm, oder sich etwa daraus erklärt, dass die als Ausgangswert genommene frühe Neuzeit ein besonders "mörderisches" Zeitalter war, muss man das Gewaltpotenzial frühgeschichtlicher Gesellschaften untersuchen. Leider sind die archäologischen Funde zu spärlich, um statistisch haltbare Aussagen darüber zu erlauben, wie "mordlüstern" etwa die Menschen der Altsteinzeit waren.

Man greift deshalb auf eine Analogie aus der Etnologie ("Völkerkunde") zurück: Wie groß ist das Gewaltpotenzial in wildbeuterischen Stammesgesellschaften, die immerhin dem Typ Zivilisation, in dem die Menschheit fast die ganze Zeit ihrer Existenz gelebt hat, und der selbst heute nicht völlig verschwunden ist?

Langenbach folgt jenen, die von einem hohen Aggressionpotenzial ausgingen:
Auch die Gewalt zwischen Gruppen ging dramatisch zurück: Wenn Stämme von Naturvölkern aneinandergerieten, kämpfte ein höherer Anteil an Mitgliedern, ein höherer Anteil starb, und von der unterlegenen Gruppe blieb keiner am Leben.
Das Problem dabei ist, dass auch die Datenlage zu Kriegen zwischen "Naturvölkern" äußerst spärlich und bei älteren Berichten durch die sehr spezifischen Blickwinkel der Kolonisatoren und Missionare verzerrt sind. Was allerdings auffällt, sind die enormen Unterschiede zwischen friedliebenden und kriegerischen Kulturen. Wobei das Risiko, in einer friedliebenden Kultur hingerichtet oder ermordet zu werden, durchaus größer sein kann, als in einer kriegerischen.

Ich selber neige zu der Annahme, dass die geschilderten Zustände eher Ausnahmen waren. Normalerweise gehen sich Stammesgesellschaften aus dem Wege oder versuchen, einen erträgliches "Modus Vivendi" zu finden. Stammeskriege sind in "Normalzeiten" wohl eher "Grenzscharmützel" oder "Raubzüge", an denen sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung beteiligt.
Nur in Zeiten massiver Wanderungsbewegungen, sogenannter Völkerwanderungen, sah das anders aus - so, wie Langenbach es beschreibt.

Es führt meiner Ansicht in die Irre, wenn man diese Frage mit im weitesten Sinne biologischen oder auch individualpsychologischen Ansätzen zu erklären versucht. Weiter führt meiner Ansicht ein Blick auf die polit-ökonomischen Verhältnisse und auf die Gesellschaftsstruktur. Zentral ist die Frage: "Was ist ein Menschenleben wert?" - Wobei diese Frage sowohl "materiell" wie "ideell" zu beantworten wäre.

Folgendes Zitat stammt aus einer bekanntermaßen aggressiven Kultur, der der Nordgermanen (Stichwort: "Wikinger") :
Besser ist's lebend, als leblos zu sein:
wer lebt, kriegt die Kuh,
Feuer sah ich rauchen auf des Reichen Herd,
doch er lag tot vor der Tür.

Der Handlose hütet, der Hinkende reitet,
tapfer der Taube kämpft;
blind ist besser als verbrannt zu sein;
nichts taugt mehr, wer tot.
(Aus dem Alten Sittengedicht der Hávamál, in der Übersetzung von Felix Genzmer.)
Auch wenn die Dichtung des Hávamál schon hochmittelalterlich ist, also keinen unverfälscht heidnisch-germanischen Charakter hat,
dürfte die "dem Hohen" (Odin) in den Mund gelegten ethischen Anweisungen schon in der "Wikingerzeit" und wahrscheinlich sogar schon in der blutigen "Völkerwanderungszeit" gegolten haben. (Aussagen über das Gastrecht der Germanen oder ihr Verhalten im Kriege von antiken und frühmittalterlichen Autoren stimmen mit dem "Alten Sittengedicht" gut überein.)
Das bedeutet für den Wert eines Menschenlebens, in der "ökonomischen" Bedeutung: jeder Erwachsene, der noch irgend eine Aufgabe übernehmen konnte, war für die (Stammes-)Gemeinschaft nützlich und damit wertvoll. In der "ideellen" Bewertung bedeuten diese Verse, dass auch ein Leben als "Krüppel" noch lebenswert ist. Auch wenn Verallgemeinerungen immer riskant sind: selbst in einer kriegerischen Stammesgesellschaft scheint ein Menschenleben nicht "wertlos" gewesen zu sein.
Das "Alte Sittengedicht", nämlich der Missbrauch seiner letzten Strophe, zeigt, in welcher Art Gesellschaft ein Menschenleben wirklich wenig wert ist.
Besitz stirb, Sippen sterben,
du selbst stirbst wie sie;
eins weiß ich, das ewig lebt:
der Toten Tatenruhm.
(in der Übersetzung von Felix Genzmer)
Dieser Spruch war und ist bei den Nazis und ihren Vorläufern, Mitläufern und Nachfolgern äußerst beliebt, und erschien im 12-jährigen Reich auf zahlreichen Kalendern, wurde in zahlreichen "Heldengedenkreden" zitiert und stand auf nicht wenigen Gedenksteinen für im Krieg getötete deutsche Soldaten. Selbstverständlich ohne den Kontext dieser Strophe zu berücksichtigen.

Als Faustregel lässt sich sagen, dass das Risiko des Einzelnen von Menschenhand zu sterben, in dem Maße abnimmt, in dem der Einzelnen für gesellschaftlich wertvoll erachtet wird. Oder: je offener eine Gesellschaft ist, je demokratischer seine politische Kultur, desto sicherer sind ihre Bürger vor dem Tod durch ihre Mitmenschen.
Eine vielleicht überraschende Tatsache: es gab noch niemals einen Krieg, bei dem beide Parteien halbwegs intakte demokratische Rechtsstaaten gewesen wären.
Damit lässt sich die abnehmende Gewaltkurve seit dem ausgehenden Mittelalter zwanglos erklären: sie korreliert mit der Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte.
Gesellschaften, in denen "das Ganze" über "den Einzelnen" gestellt wird, in denen das Prinzip "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" gilt, laufen immer Gefahr, dass der Einzelmensch zum bloßen "Menschenmaterial" herabgewürdigt wird - unabhängig übrigens vom ökonomischen System - auch Marktwirtschaften sind dagegen nicht gefreit. Wenn erst einmal der Schritt zum "Menschenmaterial" gemacht ist, ist es erfahrungsgemäß nicht mehr weit bis zum "Verheizen" von "wenig wertvollem Menschenmaterial" im Kriege und in der Zwangsarbeit, bis hin zum Mord an "unnützen Essern" und zum "präventiven" Mord an potenziellen Gegnern des Regimes. Unüberbotener Höhepunkt dieser Entwicklung war der bisher einzige Staat, dessen oberstes Staatsziel die Ermordung Abermillionen von Menschen einschloss: Deutschland, 1933 - 1945.

Wie sah es aber im Altertum aus? Die meisten frühen städtischen Hochkulturen waren stramm hierarchisch organisiert, ihre noch heute bewunderten architektonischen Leistung beruhten auf Zwangsarbeit (und nicht auf Sklavenarbeit: ein Sklave hat immerhin einen individuellen Wert für seinen Halter, der sein Eigentum nicht mutwillig zerstören wird, während Zwangsarbeit nur eine "Ressource" ist - gibt es genügende Zwangsarbeiter, kommt es auf deren Leben nicht mehr an. Unser Bild vom "Altertum" wird vor allen von solchen hierarchischen Staatsgebilden bestimmt - und von Zeiten der Völkerwanderungen.

Ich nehme deshalb an, dass es von der Gesellschaftsordnung abhängt, wie groß das Risiko des Einzelnen ist, ermordet zu werden.
Psychologische oder gar biologische Faktoren, deren Existenz ich keineswegs bestreite, treten dem gegenüber weit in den Hintergrund.

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