Dienstag, 27. November 2007

Wie "echt" ist ein "echter Germane"?

Vorgestern erschien in der "Bild am Sonntag" ein Artikel, der den Alpträumen eines völkisch gesonnenen Rassenquassler entsprungen sein könnte, und der es gestern auch in der Online-Ausgabe eines seriösereren Springer-Blattes geschafft hat. Welt online: Nur wenige Deutsche sind echte Germanen.

Der kurze Artikel beruft sich auf eine bislang unveröffentlichte Studie der Schweizer Genforschungsinstitutes Igenea.
Wobei hinsichtlich der Genauigkeit, mit der BamS dessen Forschungsergebnisse wiedergibt, durchaus Skepsis angebracht ist. Daher bin ich auf die offizielle Veröffentlichung der Studie gespannt.

Sie förderte, glaubt man dem BamS-Artikel, erstaunliches zutage: so hätten 10 % aller Deutschen jüdische Vorfahren. Was genealogisch völlig plausibel ist, denn seit über 1700 Jahren leben Juden im heutigen Deutschland. Wobei ich gerne wüsste, mit welcher genanalytischen Methode Igenea das herausgefunden haben soll. An die Existenz einer "jüdischen Rasse" im genetische Sinne hat noch nicht einmal der tonangebende NS-Rasseforscher Hans F. K. Günther geglaubt.

Interessant ist, dass das Schweizer Labor, glaubt man BamS, zudem heraus fand, dass lediglich sechs Prozent aller Deutschen väterlicherseits germanischen Ursprungs sind. 30 Prozent stammen danach von Osteuropäern ab. Auch wieder völlig plausibel.
Nur - wie bekommt man heraus, dass eine bestimmte Genkombination auf einen "germanischen" Vorfahren hinweist? Denn: eine "germanische Rasse" gibt es ebenso wenig wie eine "jüdische" oder "osteuropäische".

Dabei gelingt mit genanalytischen Methoden erstaunliches. So wurden in der Stiftskirche St. Dionysos in Enger (Westfalen) die Gebeine zweier ca. 60 Jahre alten Männern und einem Jugendlichen aus der Zeit um 800 gefunden. Es wird vermutet, dass die beiden großen und athletisch gebauten Männer, deren Knochen Spuren eines Lebens im Sattel und im Kampf aufweisen, die des Gegners Karls der Großen in den Sachsenkriegen, Widukind, und seines Schwagers Abbio sein könnte. Auch wenn das nicht abschließend zu klären ist, sprechen Genanalysen dafür, dass einer der beiden älteren Männer und der junge Mann eng mit noch heute in Westfalen lebenden „alten Familien“ verwandt sind, während der andere ältere Mann mit einer in Südjütland lebenden Population verwandt ist, also nach heutigen Begriffen "Däne" war.
Man kann also durch Vergleiche mit gut erhaltenen Leichenresten und durch Populationsvergleiche durchaus "Abstammungslinien" über Jahrhunderte hinweg nachweisen. Nun waren die "alten Westfahlen" Germanen. Genau so übrigens wie die Vorfahren des anderen älteren Mannes, der vielleicht Abbio war. Allerdings ist "germanisch" in erster Linie ein sprachwissenschaftlicher und in zweiter Linie - mit abweichender Bedeutung - ein kulturhistorischer Begriff. Selbst anatomisch sind die beiden "germanischen" Populationen in Ostwestfalen und in Südjütland verschieden. In der Terminologie des "Rasseforschers" Günther gehörten die Westfalen zur "fälischen" (Merkmal: breite Schädel) und die Jüten zur "nordischen Rasse" (längliche Schädel). Diese und andere Merkmale haben sich, statistisch gesehen, in beiden Populationen "erhalten", obwohl es schon zu Kaiser Karls Zeiten zu "Blutsmischungen" (Rassequasslerjargon) kam.
Wie vorsichtig man heutzutage mit Begriffen wie "germanisch", "keltisch", "slawisch" usw. ist, zeigen Ausgrabungen alter Eisenhütten im heutigen Bergischen Land. Die Funde gehören eindeutig zur La-Tène-Kultur. Die La-Tene-Kultur ist eine keltische Kultur. Trotzdem scheuen die Archäologen davor zurück, von keltischen Funden zu sprechen. Warum?
Es ist bekannt, dass in dieser Region und im in Frage kommenden Zeitraum sowohl keltische wie germanische Stämme gelebt hatten. Ferner ist bekannt, dass die Germanen Werkzeuge und handwerkliches "Know How" von den technisch "fortgeschritteneren" keltischen Nachbarn übernahmen. Also kann man an den Werkzeugen und Eisenhütten nicht erkennen, ob sie von Kelten oder "keltisierten Germanen" stammen. Mit DNS-Spuren in eventuellen Leichenresten könnte man das übrigens auch nicht.
Tatsächlich haben Genuntersuchungen ergeben, dass unter den Vorfahren der heutigen Iren, die ohne jeden Zweifel bis heute einer keltischen Kultur angehören, nur sehr wenige Vorfahren aus dem "Ursprungsgebiet" der Kelten, dem nördlichen Alpenrand, zu finden sind. Oder nehmen wir die Goten - größter germanischer Stammesverbund der Völkerwanderungszeit. Würde man deren DNS analysieren, würde man fast ausschließlich osteuropäische Vorfahren finden - obwohl die Goten steif und fest daran glaubten, aus dem heutigen Schweden zu stammen, worauf auch Sprache und Kultur hindeuten. Des Rätsels Lösung: nach der Überlieferung landeten die Goten mit nur drei Schiffen im Gebiet der Weichselmündung im heutigen Polen. Selbst bei kaninchenhafter Vermehrung hätten die Nachkommen dieser höchstens 60 Menschen nicht ausgereicht, um einige Jahrhunderte später das nach hunderttausenden zählende "Volk" der Goten zu bilden. Die Vorfahren der historischen Goten wurden ganz überwiegend in den Stamm aufgenommen, quasi adoptiert.
Es ist erstaunlich, wie lange sich die Legende von der "reinen Rasse" der Goten gehalten hat. Schließlich käme niemand auf die Idee, in jedem Römer der damaligen Zeit einen direkten Nachkommen der stadtrömischen Bevölkerung aus der Zeit um 700 v. u. Z. zu halten. Und wenn man die Abstammung von ihren jeweiligen Vorfahren im Jahre 150 v. u. Z. zugrunde legt, dann standen sich 400 Jahre später am Limes nicht "Römer" und "Germanen" gegenüber, sondern "romanisierte Kelten" und "germanisierte Kelten". Und auch die Vorfahren der "Kelten" wurden irgendwann einmal "keltisiert", denn die paar tatsächlich aus der Region um Hallstadt zugewanderten "Urkelten" unter ihren Vorfahren kann man getrost vernachlässigen.

Oder nehmen wir das Gebiet des heutigen Mecklenburgs. Um die Zeitenwende lebten dort nachweislich Germanen. Um das Jahr 800 lebten dort, genau so nachweislich, ausschließlich Slawen. Um um 1500 kann man von einer durchgehenden deutschen Bevölkerung ausgehen. Sieht man sich die Karten in den Geschichtsatlanten an, dann wanderten die Germanen in der Völkerwanderung ab und die Slawen ein. Und im Mittelalter, in der ersten Phase der "Ostkolonisation", wanderten Deutsche nach Mecklenburg ein. Nun war es aber nicht so, dass vor der der "Ostkolonisation" Mecklenburg menschenleer gewesen wäre - und Ausrottungskriege und Vertreibungen gab es nicht. Tatsächlich vermischten sich "Ansässige" und "Zugewanderte", wobei die "Deutschen" aus politischen und kulturellen Gründen die Oberhand behielten. Sie hätten, bei anderen Verhältnissen, auch "slawisch assimiliert" werden können, wie die skandinavischen Siedler in Russland, oder Enklaven bilden können, wie die Wolgadeutschen oder die Siebenbürger Sachsen. Einige Jahrhunderte zuvor waren die Slawen wirklich in einen "verlassenen" Raum eingedrungen. "Verlassen" in dem Sinne, dass ein so großer Teil der Bevölkerung abgewandert war, dass die Siedlungsdichte so gering wurde, dass das Land für Zuwanderer aus dem Osten interessant wurde. Weil auch ein großer Teil der "Oberschicht" der Germanen "unterwegs" war, gewannen die besser organisierten Slawen die kulturelle Vorherrschaft.

Also: von der Vorstellung, die "alten Völker" seien "bodenständig und unvermischten Blutes" gewesen, sollte man Abstand nehmen. Auch die Vorfahren der Westfalen und der Jüten zur Zeit Widukinds waren erst einige Jahrhunderte lang "Germanen".

Der beste Absatz im "Welt online"-Artikel ist der vorletzte:
Die moderne Genetik zeige die Unsinnigkeit des Rassismus auf, sagte Imma Pazos, eine der Wissenschaftlerinnen. Alle Genanalysen bewiesen, dass jeder Mensch unzählig viele Wurzeln habe und in jedem ein „Mischmasch“ stecke.
Was folgt, ist entlarvend:
Igenea wirbt im Internet gemeinsam mit der „Bild“-Zeitung für Gentests zur Bestimmung der Abstammung. Diese Tests kosten je nach Fragestellung mindestens 120 Euro.
Da kann ein wenig Sensationsmache wohl nicht schaden.

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