Montag, 30. April 2007

Was zusammengehört ... (historische Gedanken zum 1. Mai)

Heute ist die Ansicht weit verbreitet, die Lebensreform, die seit dem später 19. Jahrhundert vor allem in Mittel- und Nordeuropa viele Anhänger hatte, als "bürgerliche Fluchtbewegung" zu betrachten - und in großen geistigen Abstand zur sozialistischen Arbeiterbewegung und den liberalen Sozialreformern zu sehen.

Bekannt ist, dass viele "Lebensreformer" einen starken Hang zur Esoterik theosophischen Machtart hatten. Nicht wenige orientierten sich deutlich in die völkische Richtung. Und es war kein "historischer Betriebsunfall", dass einige prominente Lebensreformer sich später den Nazi anschlossen.

Da überrascht es, wenn ausgerechnet der Jugendstilkünstler und Lebensreformer Hugo Höppener, besser bekannt als "Fidus", bekannt als völkischer Esoteriker, Gründungsmitglied der Germanischen Glaubens Gemeinschaft (GGG) und ab 1932 NSDAP-Mitglied Jahre zuvor für das SPD-Organ "Vorwärts" Titelgraphiken schuf:
Maifeier

oder für die Gründung anarcho-sozialistischer Kommunen warb:
Kommune

Fidus war kein Einzelfall. Wie viele seiner Mit-Lebensreformer reagierte er auf und agitierte gegen eine selbstgefällige, ungerechte, soziale Misstände großzügig "übersehende" bürgerliche Gesellschaft. Tatsächlich gehörten, so schien es, die drei freidenkerischen Traditionslinien - der soziale Liberalismus, die sozialistisch-sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die "grün-alternative" Lebensreform - damals eng zusammen.

Der "Spaltpilz", der Fidus und andere Lebensreformer etwa ab 1910 in schroffen Gegensatz zu den "linken" und "links-liberalen" Sozialreformern brachte, war meiner Ansicht nach ihr Verhältnis zur Moderne. Ihre Anfälligkeit für inhumane Ideologien, dass sie bestimmte Aspekte der "Moderne" nicht nur kritisierten, sondern hassten.("Hass führt auf die dunkle Seite der Macht.") Ihre Kritik an der modernen Industriegesellschaft kippte in eine Gegnerschaft zur Moderne an sich um. Wobei das anti-rationale Weltbild der Theosophie, ihr Antimaterialsmus (alzu leicht verwechselt mit Idealismus) und ihre esoterische Einweihungshierarchie ein wesendtlicher Faktor war. Hinzu kam, dass die Lebensreformer immer detailiertere Utopien schufen und immer utopisch dachten - im Sinne eines "Generalplans für eine perfekte Gesellschaft". Utopisches Denken ist in der Konsequenz immer totalitär.

Eines der wichtigsten Ziele der Nazis war der Kampf gegen "die Moderne" - gegen die politische Moderne: Internationalismus, Liberalismus, Demokratie, Sozialismus - und auch gegen die kulturelle Moderne, vor allem auch gegen moderne Kunst. Obwohl die Nazi-Ideologie gerade für nonkonformistische Künstler und Lebens-Künstler extrem gefährlich war, unterstützten viele Lebensreformer die Nazis und ihre Steigbügelhalter aktiv und begeistert. Dass Künstler wie Emil Nolde sogar jener Partei beitraten, deren Obere seine Bilder wenig später als "entartet" brandmarkten und ihm Malverbot auflegten, dass vormalige Lebensreformer willig in der SS mitmachten, war Spätfolge der esoterischen und antimodernen Ausrichtung der Lebensreform. Sie war innerlich vergiftet, von theosophischer Esoterik, von völkischem Denken, von Industriefeindlichkeit, von Elitedenken, auch von Abneigung gegen den materialistischen Sozialismus - bei gleichzeitigem Anti-Kapitalismus.
Aber der schlimmste Abweg der Lebensreformer war die Ästhetisierung der Politik. Ohne die Ästhetisierung der Politik ist der Faschismus in all seinen Abarten meiner Ansicht nach kaum Verständlich.

Sicher trugen auch die weltanschauliche Entwicklung der liberalen und der sozialistischen Sozialreformer zur Entfremdung und sogar Feindschaft zwischen den drei freidenkerischen Traditionslinien bei. Genannt sei nur der Atheismus und eine oft unkritische Fortschrittsideologie.

Der Weg, der zusammenbringt, was zusammengehört, führt nicht über unkritisches, Gegensätze großzügig unter den "wir wollen doch alle eine menschlichere Gesellschaft" Teppich schiebenden Verbrüderungsdenken. Tatsächlich ist so ein Denken und Handeln gefährlich, denn es schaft Scharniere zwischen autoritären bis diktatorischen, jedenfall anti-emanzipatorischen, Gesellschaftsmodellen. Konkret: der Einstiegsweg für Rechtextremisten.
Deshalb sehe ich den Weg zur Wiedervereinigung der drei freidenkerischen Traditionslinien zu einem neuen Anfang in einem neuen Humanismus. Ein schwieriger Weg, denn es ist nicht einfach, esoterische Heilslehren zu bekämpfen, ohne in einen Anti-Spiritualismus zu verfallen. Aber ich vermute, dass der soziale Liberalismus, die sozialistisch-sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die alternative Lebensreform, genügend humanistische Traditionen gemeinsam haben, um zugleich sinnvoll zusammenarbeiten und in-humane Denkweisen ausschließen zu können.
Es verblüfft mich, wie wenig diese drei Strömungen und ihre jeweils handelnden Personen von ihren eigenen aktuellen wie historischen Verbindungslinien wissen.

Ergänzung, um Mißverständnisse zu vermeiden:
Mit "freidenkerisch" meine ich "im Gegensatz zum religiösen Dogmatismus und zur von Obrigkeiten / Autoritäten verordneten Glaubens- Moral- und Verhaltensregeln stehend". Im Duden ist "freidenkerisch" etwas mißverständlich als "nicht weltanschaulich gebunden" definiert. Ich beziehe sich ausdrücklich nicht auf den atheistischen "Freidenker"-Begriff, wie er z. B. in der DDR gebräuchlich war. Und Kommentare, in denen ich in unflätiger Weise als etwas beschimpft werde, was ich mit Sicherheit nicht bin, werde ich weiterhin sofort löschen.

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