"No future!" oder ... Geschichte wird gemacht!

Einige Gedankensplitter - angeregt durch einen Artikel, den Volkmar vor einiger Zeit schrieb 1982 - 2007 - Veränderungen.

Das Erste, was mir zur "Zukunftsvisionen 1982" einfällt, ist paradoxerweise der alte Punk-Slogan "No Future!" - Auf der ersten Blick überraschend: nach meinen höchst subjektiven Erinnerungen an "80er" gab es eine auffällig große Schnittmenge zwischen der Punkern und Science-Fiction-Fans. Das läßt nicht unbedingt auf ein Desinteresse an der Zukunft oder an Glaube die (damals in der Tat besonders weit verbreiteten) Weltuntergangsängste schließen. (Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, dass eine der wichtigsten Persönlichkeiten der deutschen Punk-Szene Chefredakteur der auflagenstärksten Science-Fiction-Romanserie des uns bekannten Universums ist.)
Was könnte "No Future" für die Punks der frühen '80er bedeutet haben? Angesichts des ausgeprägten Nonkonformismus und des krassen Individualismus dieser bunten Szene gibt es dafür vermutlich mehr Antworten als es jemals Punks gegeben hat.

Eine mögliche Bedeutung von "No Future!" ist die Absage an das übliche lineare Modell der Zeit - die Zukunft gibt es gar nicht. Hierzu mehr hier Orakelzeit, hier No Future - Warum das Germanische keine Zukunft hat und hier: Im Zeitstrom des Lebens. Eine andere, vielleicht Naheliegendere: "Die Sorte "Zukunft" die "Ihr" uns zugedacht habt, die woll'n wir nicht!" - Etwas großkotzig formuliert: Utopiekritik. Was nebenbei auch die punkige Vorliebe für Science Fiction erklären könnte - denn SF ist nicht zuletzt utopiekritische Literatur. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die wichtigste neue Richtung der SF der '80er (und seither) Cyberpunk genannt wurde (ungeachtet der vielfältigen Bedeutungen und Nebenbedeutungen, die "punk" im Englischen hat). Die "Cyberpunk"-SF schilderte jedenfalls eine Zukunft, die den den Erwartungen und Ängsten zumindest einer großen Minderheit in den damaligen "linksalternativen", autonomen, non-konformistischen "Szenen" entsprach.
Es war aber auch die Zeit der (unabsichtlich einen bedeutenden Denker beleidigenden) "Popper", die sich bestenfalls Gedanken über die eigene Zukunft machten - und auch die Zeit einer dumpf-technikfeindlichen Gesinnung auf dem "rechten", "Blut und Chlorophyll"-Flügel der damaligen Umwelt- & Alternativ-Bewegung, die die "Zukunft" eher in der vorindustriellen und voraufgeklärten Vergangenheit sahen. (In den Medien ob seiner gewissen optischen Originalität damals präsentester Vertreter der "Braun-Grünen": Öko-Bauer Baldur Springmann, heute bei den "Grünen" zurecht verdrängt und eher ein Idol der inwändig Tiefbraunen:
Springmanns Todesanzeige in der
Todesanzeige in der "Nordischen Zeitung", Organ der vom Neo-Nazi-Multifunktionär Jürgen Rieger geführten "Artgemeinschaft" - man beachte das originelle Datum "nach Stonehenge!"


In der DDR dürfte "No Future!" eine besonders brisante Bedeutung gehabt haben, denn dort herrschte staatlich verordneter Optimismus und hochgradiger Verplanung des Lebens des Einzelnen (von Ostalgikern gern als "Sicherheit und Geborgenheit" ver-rosabrillt) und ein politisches und ökonomisches System, das seinen eigenen Ansprüchen immer weniger gerecht wurde. Es erforderte viel Mut, in der DDR "Punker" zu sein.

Zum Lebensgefühl 1982 fällt mir persönlich ein Song ein, der damals in den Charts war, obwohl er schon 1980 erschienen war und der der größte Erfolg der Band "Fehlfarben" war, obwohl (oder weil?) er für diese Band einigermaßen untypisch ist. Besonders beliebt war der Song bei "irgendwie" links-autonom oder anarchistisch Politisierten und An-Politisierten, vor allem in der Hausbesetzerszene und bei ihren Sympathisanten. In der Presse wurde das Stück sogar als Hausbesetzerhymne bezeichnet Aus den Text spricht eine Weltsicht, die sich - wie die des Cyberpunks - als erstaunlich realistisch erwiesen hat: Ein Jahr besser bekannt als: Es geht voran.

Keine Atempause - Geschichte wird gemacht!
Es geht voran!
Spacelabs fall'n auf Inseln. Vergessen macht Frei!
Es geht voran!
Berge explodieren. Schuld hat der Präsident!
Es geht voran!
Graue Helden regieren - regieren bald die Welt!
Es geht voran!

Natürlich ist der Text vieldeutig. Und er ist zeitbezogen - "Spacelabs fall´n auf Inseln" bezieht sich wahrscheinlich auf den Absturz der US-Raumstation Skylab im Pazifik 1979, und "Berge explodieren" auf den Ausbruch des Vulkans Mont Sanct Helen. Man kann aber ohne Weiteres andere schlagzeilenträchtige Katastrophen einsetzen.

Ich interpretierte den Text damals als Persiflage auf das "Politikersprech", das "Sachfragen-Handlungsbedarf"-Geschnurre vor Fernsehkameras und die markigen Sprüche, die geistige Windstille kaschierten. Heute bin ich mir dessen nicht mehr sicher. "Vergessen macht frei" könnte z. B. das heimliche Motto der deutschen Gesellschaft sein - gezieltes "Vergessen" und Vergessen machen, wohlgemerkt - was sich weistyr nicht nur auf die Nazizeit beschränkt. Ein hochselektives Gedächtnis ist unverzichtbares Zubehör der deutschen "Eliten" und jener, die es gerne wären. Bei "Schuld hat der Präsident" denke ich heute an pauschale Schuldzuweisungen an (unbeliebte) Politiker. (Bezogen auf heute: nicht hinter allem, was in dieser Welt schief geht, steht George Walker Bush jr. . Entgegen anti-amerikanischer Gerüchte ist der Mann nicht allmächtig. Er benimmt sich nur manchmal so, als ob er es wäre.)

Und was war 1982 noch?

1982 war "Internationales Jahr der Mobilisierung von Sanktionen gegen Südafrika" - Boykott-Kampagne "kauft keine Früchte der Apartheit!".
Es war das Jahr eines der absurdesten Kriege der jüngeren Geschichte, des Falklandkrieges zwischen Argentinien und Großbritannien.
Einen anderen und leider wohl unvermeindlichen Krieg führte Israel: den ersten Libanonkrieg.
Helmut Kohl (CDU) wurde nach einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zum neuen Regierungschef gewählt - und blieb es, blieb es, blieb es ... - für 16 lange Jahre.
In Polen wurde die freie Gewerkschaft Solidarność verboten.

In der BRD tobt ein Heimcomputerboom. Commodore bringt den C64 auf den Markt, IBMs erster PC unter PC-DOS (wie das bei einem Fremdanbieter, einer kleinen Softwareklitsche namen Microsoft, eingekaufte Betriebssystem MS-DOS bei IBM verschämt genannt wurde) setzt sich überraschend schnell in den Büros durch und verhilft Microsoft zum kommerziellen Durchbruch.
Ja, und auch erste Computervirus verbreitete sich in diesem Jahr. Nein, ich meine nicht Microsoft DOS.
Die ersten CD-Player kommen auf den Markt.
Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1982 in Spanien gewinnt im Finale Italien mit 3:1 gegen die BR Deutschland (die sich buchstäblich ins Finale gemogelt hatte - keine Sternstunde des deutschen Fußballs).

Das Erfolgsalbum "Thriller" von Michael Jackson, der damals noch in etwa menschenähnlich aussah, erschien. ABBA löste sich auf, dafür wurde die beste Band der Welt, "Die Ärzte", gegründet. Die "Neue Deutsche Welle" schwappte durch die deutschen Plattenläden. Und der Punk-Rock erreichte den Höhepunkt seiner Popularität.

Die "Concorde" bekam, nachdem sie schon auf Routen nach Südamerika und Singapore eingesetzt worden war, nach zähen Verhandlungen Landeerlaubnis in New York.
Concorde
Die "Concorde" im Technikmuseum Sinsheim. Quelle: PixelQuelle

Filme aus 1982, die ich mag:
"Blade Runner" – Regie: Ridley Scott (mit Harrison Ford und Rutger Hauer, nach Philip K. Dick)
"Gandhi" – Regie: Richard Attenborough (mit Ben Kingsley)
"Mephisto" - Regie: István Szabó nach dem Roman von Klaus Mann
"Fitzcarraldo" - Regie: Werner Herzog (mit herrlich fiesem Klaus Kinsky)
"Die Götter müssen verrückt sein" – Regie: Jamie Uys
"Der Kontrakt des Zeichners" – Regie: Peter Greenaway (mit Anthony Higgins)
"Die Sehnsucht der Veronika Voss" – Regie: Rainer Werner Fassbinder
"Tote tragen keine Karos" – Regie: Carl Reiner (mit Steve Martin - "Cleaning woman! Grrrch - cleaaaniiing wooomaan!" - und Rachel Ward ))

Hits von damals, die mir noch (angenehm) im Ohr sind (Nicole war eher unangenehm, trotz Eurovisions-Preis):
Orchestral Manoeuvres in the Dark: Maid Of Orleans
Falco: Der Kommissar
Kraftwerk: Das Model
The Jam: The Beat Surrender
Vangelis: Chariots Of Fire
The Police: Don't Stand So Close To Me
(Ja, alles Mainstream - aber wie gesagt: Hits!)

Es starben (unverschämt subjektiv ausgewählt):
Philip K. Dick, US-amerikanischer SF-Schriftsteller (2. März)
Ayn Rand, US-amerikanische SF-Schriftstellerin, oft fälschlicherweise für eine politische Philosophin gehalten (6. März)
Carl Orff, deutscher Komponist und Musik-Pädagoge (29. März)
Helene Deutsch, österreichisch-polnische-amerikanische Psychoanalytikerin (29. März)
Robert Havemann, deutscher Chemiker, Kommunist und Regimekritiker in der DDR (9. April)
Rainer Werner Fassbinder, deutscher Regisseur (10. Juni)
Karl von Frisch, östereichischer Biologe, Zoologe, Nobelpreisträger (12. Juni)
Curd Jürgens, deutscher Bühnen- und Filmschauspieler (18. Juni)
Alexander Mitscherlich, deutscher Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller (26. Juni)
Adolf Portmann, schweizer Zoologe und Naturphilosoph (28. Juni)
Hal Foster, amerikanischer Pionier der "Graphic Novell" ("Prince Vaillant" "Prinz Eisenherz") (25. Juli)
Otto Bayer, deutscher Chemiker (1. August)
Henry Fonda, US-amerikanischer Filmschauspieler (12. August)
Stanford Moore, US-amerikanischer Biochemiker und Nobelpreisträger (23. August)
Ingrid Bergman, schwedische Schauspielerin (29. August)
Nahum Goldmann, Gründer und Präsident des Jüdischen Weltkongresses (29. August)
Grace Kelly, US-amerikanische Schauspielerin, Fürstin von Monaco (14. September)
Glenn Gould, kanadischer Pianist, Komponist, Musikautor (4. Oktober)
Jacques Tati, französischer Komiker und Regisseur (4. November)
Leonid Iljitsch "Betonschädel" Breschnew, Parteichef der KPdSU der Sowjetunion (10. November)
Marty Feldman, britischer Komiker, Autor und Regisseur (4. Dezember)
John Leonard Swigert, amerikanischer Astronaut (Apollo 13) (27. Dezember)
Sebastian (Gast) - 19. Feb, 03:39

whack-a-libertarian

"Ayn Rand, US-amerikanische SF-Schriftstellerin, oft fälschlicherweise für eine politische Philosophin gehalten (6. März)"

Word! Es ist übrigens traurig, was uns Hollywood seit Blade Runner in Sachen Dick-Verfilmungen angetan hat. A Scanner Darkly sieht ja ganz interessant aus, und Woody ist immer gut. Wird der Film der Vorlage gerecht?

MMarheinecke - 19. Feb, 16:46

Ayn Rand war keine "Libertarian"

sondern hatte durchaus autoritäre Gesellschaftsvorstellungen - allerdings verbunden mit einem Kult des "starken Individuums" und deutlich pro-kapitalistisch. "Autoritär" ist weniger ihre Idee eines Minimalstaates mit umfassendem Gewaltmonopol, als ihr tendenziell "sozialdarwinistisches" Menschbild - das "Recht des Starken" und die sich daraus ergebende Hierarchie von Macht und Wohlstand wird von ihr ausdrücklich befürwortet.

Dass sich heute anarcho-kapitalistische "Libertarians" auf sie berufen, macht sie nicht zur Anarchistin ("libertarian" in ursprünglicher Bedeutung - die in der USA auch nie ganz verloren gegangen ist).
Als Schriftstellerin nehme ich sie sehr ernst - "Anthem" ("Die Hymne des Menschen") stelle ich als klassische Anti-Utopie über die Unterdrückung des Individiuums an die Seite von Samjatins "Wir" und Orwells "1984". Auch ihr Hauptwerk "Atlas Shrugged" ist "utopische Literatur", SF, allerdings mehr im Sinne von "Speculative Fiction" als "Science Fiction".
Als Philosophie ist mir ihr "Objektivismus" zu dünn - und ihr Glaube an den Kapitalismus und den starken Einzelnen zu unkritisch. Mich stört vor allem ihr stark dualistisches Weltbild, schwarz-weiß ohne Zwischentöne. Sie hält ihre Positionen vor allem deshalb für richtig, weil sie gewissenmaßen das Gegenteil von den sich als falsch erwiesenen Positionen des "Gegners", des (von ihr selbst durchlittenen) Sowjet-Kommunismus, sind. Karrikiert: "Weil meine Gegner nachweislich irren, habe ich automatisch Recht".

Von Dick werden ja eher die "dünnen" Kurzgeschichten verfilmt, zu denen sich viel "Äktschen" dazuerfinden läßt. Allerding ragen selbst "Total Recall" oder "Minority Reports" inhaltlich haushoch über den üblichen Standard von SciFi-Produktionen hinaus.

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