Selbst-Bestimmung

Sven schrieb in seinem Blog eine umfassende Standortbestimmung, die
Karan auf ihrem Blog
ergänzte.

Ich kann meinen Freunden zustimmen - zumindest in den meisten Dingen - und könnte spontan seitenlang Kommentare und Ergänzungen abliefern. Anderseits habe ich mich schon mehrfach zu aus spontaner Wut geborenen Blogeinträgen hinreissen lassen, einen weiteren halte ich für verzichtbar.

Andererseits wäre eine echte, offene und systematische Standortbestimmung nicht nur persönlich, sondern sehr privat - oder besser gesagt intim. Es gibt Dinge, die nicht ins Internet gehören. Viel zu viele dieser Dinge habe ich bereits ins Netz gestellt. Ich mache mir sehr viele Gedanken darüber, wo ich stehe, eine Selbst-Bestimmung, aber ich entscheide selbst, was ich da davon der neugierigen Öffentlichkeit zeige. Wo ich politisch stehe ist ohnehin kein Geheimnis (wenn auch vielen bestimmt ein Rätsel), man kann es diesem Blog ebenso entnehmen, wie meine philosophische Neigung oder meine leicht exentrische (andere sagen: völlig spinnerte) religiöse (oder besser: spirituelle) Orientierung.

Karan stellt in ihrem Blog die Frage:
Weshalb geht denn niemand mehr auf die Straße? Wir alle hätten genügend Gründe dazu, deutlich mehr sogar als zu Wackersdorf- und Startbahn-West-Zeiten.
Für mich könnte ich antworten: "Wieso, ich gehe doch auf Demos?" Aber das beantwortet nicht die Frage, wieso spontane Massendemonstrationen heute sehr viel seltener als vor sagen wir mal 20 Jahren sind.
Ein wichtiger Punkt dabei ist Angst.
Das klingt vielleicht paradox, weil es ja Angst war, vor allem die Angst vor dem Atomtod, die massenhaft Menschen auf die Straßen brachte. Es sind aber kollektive Ängste, die Menschen mobilisieren - oder, wie geschickte Demagogen wissen, mobilisieren lassen.
Individuelle Ängste - oder solche, die als persönliches Problem wahrgenommen werden - lähmen das öffentliche Engagement eher.
Zum Beispiel die Angst um den Arbeitsplatz.
Manipulation mittels Angst, der Apell an kollektive Ängste zur Massenmobilisierung wie auch der Apell an persönliche Ängste, um Menschen zu lähmen, hat eine lange Tradition.
Die in Deutschland weit verbreitete Mentalität, Ängste geradezu zu pflegen, als "German Angst" geradezu sprichwörtlich geworden, begünstigt den Einsatz des Mittels Angstmanipulation. Zumal unsere "Entscheider" selbst von oft irrealen Ängsten getrieben werden, wie Sven richtig erkannte.
Es steckt allerdings nicht etwa eine kühl kalkulierende Machtelite oder gar das Wirken irgendwelche Drahtzieher im Hintergrund hinter der Angstmanipulation. Jedenfalls nicht im heutigen Deutschland. Meisten sind es eher kleinkarierte Interessen politischer oder kommerzieller Art.
Als Angstverstärker arbeiten die professionellen Panikmacher, genannt Massenmedien.
Ein Beispiel - ich erwähnte in einem früheren Beitrag Ja, ja, das Fernsehen ... eine Fundsache aus einem Forum, in dem es um das leidige Thema: "Überall Kinderschänder - wie schütze ich nur mein Kind?" ging:
Und es ist ja nicht so, dass es früher weniger Pädophile gegeben hätte. Es gab nur kein Privatfernsehen.
Damals habe ich aus Neugier die entsprechenden Foren abgesurft. Meine ausführliche Stichprobe ergab: die meisten Eltern führten ihre Ängste auf "man hört soviel" zurück, persönliche Erlebnisse tauchten in den von mir besuchten Foren fast nie auf. Mir fiel hingegen auf, wie oft "das Fernsehen" als Quelle genannt wurde. Übrigens nicht nur in Hinblick auf auf "Kinderschänder":
Habe gestern zu Mittag eine Sendung gesehn, wie leicht es ist Fotos von fremden zu machen mit dem Handy ohne das wer was mitbekommt. und schon bis im Netz, also nein danke.
Wäre ich Verschwörungstheoretiker, würde ich argwöhnen, dass auf diese Weise Ängste um die Privatsphäre von öffentlichen Überwachungskameras usw. auf private "Spanner" umgelenkt werden. Der Vorteil von Privatpersonen oder auch skrupellosen Privatunternehmen, die die Privatsphäre verletzen, ist für einen Journalisten aber der, dass anstrengende politische Überlegungen ausgeklammert bleiben können. Sind ja alles Einzelfälle und alle handeln eindeutig gesetzwiderig. Bequem. Und ohne "Ärger" für die Redakteure.

Man kann sich der "Desinformationskultur" weitgehend entziehen. Es gibt, wie Karan schrieb, ja eine neue Informationskultur abseits der (Massen-)Medien, und wie sie glaube ich, dass diese Kräfte (z.B. der Weblogszene) durchaus ins Konkrete wirken können. Das Problem dabei: um sie nutzen, braucht man ein Mindestmaß an Bildung. Was übrigens noch mehr für den intelligenten Umgang mit den Massenmedien gilt. Das Problem: mit der Bildung hapert es. Nicht nur, aber vor allem, in der "Unterschicht". Ein echtes Klassenproblem.
Wie Karan weiß ich um die Kraft des direkten Handelns. Denn die neue Kommunikations- und Informationstruktur "von unten", abseits der "offiziellen" Medien, ist das Eine. Aber so wichtig sie ist, sie kann persönliche Kontakte und direktes Engagement nicht ersetzen.

Eine anderes, von Sven angesprochenes, für meine Selbst-Bestimmung wie für die Selbstbestimmung des Menschen wichtiges Thema:
Da lasse sich bitteschön keiner Sand in die Augen streuen, die Kirchen erkennen die Trennung von Kirche und Staat durchaus an, ja - solange sie halt (noch) vorhanden ist. Wo sie nicht mehr vorhanden ist sind die Kirchen - durchaus aus deren Perspektive verständlicher Weise - die letzten, die diese Trennung wieder lauthals haben wollen.
Das hat nichts mit "Christenhetze" zu tun. Das betrifft jede organisierte Religionsgemeinschaft - manche mehr, manche weniger, aber völlig frei von diesem Bestreben ist keine. Tatsächlich sind viele heidnische Gemeinschaften in Sachen Machtstreben weitaus profilierter als z. B. die in dieser Hinsicht sehr zurückhaltende evangelische Kirche Deutschlands.

Besonders unangenehm sind religiöse Fundamentalisten. Wobei der Fundamentalismus sich nicht auf christliche und muslimische Sekten, also auf Außenseiter, beschränkt. Der Fundamentalismus - mehr Ideologie als Glaube - steckt tief in den Großkichen drin, selbst wenn kaum noch ein ernstzunehmender moderner Theologe die Bibel wörtlich versteht.

Ich schätze die Bibel als mythologische Schrift, die in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext entstand, und respektiere jene sehr, die die Bibel als moralischen Leitfaden sehen, über den intensiv und immer wieder neu nachgedacht werden muß. Als Mythos enthält die biblischen Geschichten sehr viel tiefe Wahrheit - die man aber niemals mit historischem oder naturwissenschaftlichen Faktenwissen verwechseln sollte.

Es fällt uns christlich-abendländischen Menschen meistens gar nicht mehr auf, was für ein unlogischer Unsinn dabei herauskommt, wenn man die Bibel nicht als Mythos sieht:

Ein allwissender Gott erschafft den Menschen, von dem er weiß dass er sich nicht so betragen wird, wie er soll. Die Menschen handeln, aufgrund der ihn von Gott gegebenen Eigenschaften, dann gegen die Absichten Gottes, wofür sie Gott, der das alles vorher wußte, entsetzlich bestraft.
Im christlichen Anhang zur jüdischen Bibel, im "neuen Testament", wird es dann völlig absurd, wenn wir auf eine historisch-kritische Sichtweise verzichten, oder darauf beharren, dass die Evangelien etwas anderes als Mythen sind: Gott will den Menschen doch noch erlösen. Deshalb schickt seinen Sohn (mit dem er auf eine sich menschlichem Verständnis entziehende Weise identisch, aber auch nicht identisch ist) in die Welt, der dort abgeschlachtet werden wird und dessen Botschaft bei den meisten Menschen auf taube Ohren stößt (was Gott, der alles weiß, natürlich auch wusste).
Oder, wie es Robert A. Heinlein formulierte:
Gott ist allmächtig, allwissend und voll Güte - so steht es geschrieben. Wenn Ihr Verstand in der Lage ist, an diese drei göttliche Attribute gleichzeitig zu glauben, dann habe ich einen tollen Handel für Sie! Keine Schecks bitte. Bar und in kleinen Scheinen.
Auch wenn Bob persönlich ein erz-autoritärer Knochen und trotzdem politisch ein Libertärer war - da hat er recht!
Moderne Theologen wissen, dass man die Bibel so nicht verstehen sollte. Was nichts daran ändert, dass genau die von mir karrikierte, quasi fundamentalistische, Sichtweise die nach wie vor vorherrschende ist. Auch in höchsten Kirchenkreisen. Weil es ihnen eine einzigartige Machtstellung verleiht.

Trackback URL:
https://martinm.twoday.net/stories/2872641/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6725 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren