Die untergegangene Seeschlacht

Heute vor 90 Jahren, am 31.Mai und 1.Juni 1916, wurde auf der Nordsee eine der gewaltigsten "Materialschlachten" des 1. Weltkriegs geschlagen, die größte Seeschlacht des Ersten Weltkriegs und die größte Flottenschlacht zwischen Großkampfschiffen - die "Skagerrakschlacht" (engl. "Battle of Jutland"). Sie kostete 6.094 britischen und 2.551 deutschen Seeleuten das Leben. Und sie geht, zumindest in den meisten deutsche Geschichtsdarstellungen, buchstäblich unter. Selbst in einigen Spezialwerken über den 1. Weltkrieg sucht man sie vergebens.

Zum Verlauf der Schlacht verweise ich auf den hervorragenden Artikel in der "Wikipedia": Skagerrakschlacht. Obwohl die Skagerrakschlacht in gewisser Hinsicht "unentschieden" verlief, gehört sie zu den entscheidenden Ereignissen des 1. Weltkriegs: sie war das logische Ergebnis der von Weltmachtstreben und Wirtschaftsneid auf deutscher Seite, und geradezu paranoider Angst um den Bestand des "Empire" auf britischer Seite geschürten deutsch-britischen "Flottenrivalität", ohne die der 1. Weltkrieg möglicherweise gar nicht ausgebrochen wäre. Dabei wies die von Großadmiral Tirpitz federführend bestimmte deutsche Flottenrüstung zunehmend irrationale Züge auf - sein "Abschreckungskonzept" einer "Risikoflotte" hätte eine Flotte von mindestens 2/3 der britischen Flottenstärke erfordert, was schon allein von der deutschen Industriekapaziät her nicht möglich gewesen wäre. Zudem hatte Britannien aus geographischen Gründen in einem Seekrieg die erheblich besseren Karten. Churchills Ausspruch von der deutschen "Luxusflotte" traf den Nagel auf den Kopf. Mit einiger Übertreibung kann man sagen, die aus deutscher Sicht strategisch völlig wirkungslose Skagerrakschlacht wurde von Tirpitz gewissermaßen herbeigeplant. Allerdings war die britische Flottenpanik von 1908 ebenfalls strategisch-rational nicht erklärbar. In gewisser Weise war die Flottenrivalität ein "Kräftemessens" der miteinander konkurrierenden Industrien Deutschlands und Großbrittanniens, zu Lasten der jeweiligen Steuerzahler: Eine perverse "Leistungsschau" von Krupp und Borsig gegen Vickers und Armstrong, Blohm + Voss gegen Portsmouth Dockyard usw. - die Flottenrüstung vor dem 1. Weltkrieg ist ein frühes Beispiel des Wirkens eines militärisch-industriellen Komplexes.

Ich teile nicht die Einschätzung des "Wikipedia"-Artikels vom deutschen taktischen Sieg und britischem strategischen Sieg. Tatsächlich gelang es keinem der Gegner, seine strategischen Ziele zu verwirklichen: Hätte z. B. die britischen Flotte die deutsche "in ihr nasses Grab geschickt", wäre der 1. Weltkrieg völlig anders verlaufen. Z. B. wäre anstelle der Fernblockade einer weitaus wirksamere Nahblockade der deutschen Küsten möglich gewesen, auch der deutsche U-Boot-Krieg hätte bei absoluter britischen Seeheerschaft nicht geführt werden können, und eine unter dem Schutz der britische Flotte landende Interventionsarmee hätte unter Umständen den militärischen Zusammenbruch Russlands verhindern können - so blieb "dank" der intakten deutschen Kriegsflotte die Ostsee ein "deutscher Teich". Eine empfindliche Schwächung der britischen Flotte wäre anderseits für das auf seine Seeverbindungen zwingend angewiesene Großbritannien verheerend gewesen. Übrigens reklamierten beiden Seiten den Sieg für sich - auf deutscher Seite vor allem mit einer makaberen Aufrechnung der jeweilige Verluste, die an die "Bodycount"-Praktiken des Vietnamkrieges erinnern. (6.094 Tote
14 gesunkene Schiffe mit 115.025 ts (darunter 3 Großkampfschiffe der "Dreadnought"-Kategorie)auf britischer Seite, "nur" 2.551 Tote 11 gesunkene Schiffe mit 61.180 t (davon ein Großkampfsschiff) auf deutscher Seite - bei zahlenmäßiger Unterlegenheit der deutschen Flotte - 151 britische Schiffe, davon 37 Großkampfschiffe gegen 99 deutsche, davon 21 Großkampfschiffe.)

Der Kieler Matrosenaufstand, der die deutsche Novemberrevolution von 1918 einleitete, kann meiner Ansicht nach ohne die Erfahrung der Skagerrakschlacht nicht richtig verstanden werden.
Vieleicht liegt hier die tiefere Ursache dafür, dass eine der größten Schlachten des 1. Weltkriegs in deutschen Geschichtsbüchern und mehr noch im deutschen Geschichtsverständnis so sehr "unterging". Für die bis 1945 dominierende und auch später in der BRD einflußreiche "rechte" Geschichtsaufassung ist die Novemberrevolution ein "Verbrechen vaterlandsloser Gesellen", der Matrosenaufstand (in jener Kreise meist "Meuterei" genannt) das Werk "roter" Agitatoren - wenn nicht über diese "peinlichen Ereignisse" völlig geschwiegen wurde. Da man selbst unter Nationalisten nach der Niederlage von 1918 nicht mehr so recht an den "Seesieg vom Skagerrak" glauben wollte, taugte die ganze kaiserliche Marine, von einzelnen Kreuzer- und U-Booterfolgen abgesehen, nicht mehr für glorifizierte Geschichtsbilder.
Aber auch das "linke" Geschichtsbild wird manchmal weder den aufständische Seeleuten noch den Marineoffizieren gerecht. So schrieb z. B. Bernt Engelmann in seinen "Anti-Geschichtsbuch" Einig gegen Recht und Freiheit:
Hinzu kamen Anfang November erst eine Meuterei, dann ein bewaffneter Aufstand der Matrosen der kaiserlichen Hochseeflotte. Die Mannschaften der Kriegmarine verhinderten auf diese Weise die Ausführung eines wahnwitzigen Befehls ihrer Admirale, die ihre bis dahin sorgsam geschonten Schiffe zu einem >letzten Gefecht< auslaufen und mit wehender Flagge untergehen lassen wollten.
Die deutschen Schiffe wurden keineswegs "sorgsam geschont"!
Nach der mörderischen und wenig erfolgreichen Skagerrakschlacht suchten beide Seite nicht länger die "Entscheidungsschlacht". So näherten sich beide Flotten z.B. am 19. August 1916 bis auf 30 Seemeilen, ohne dass es zu einem Gefecht kam. Im Oktober 1916 gab es einen deutschen Vorstoß zur Doggerbank, ohne dass eine englische Reaktion erfolgte. Ein Grund für die Vorsicht war, das jedes Großkampfschiff für sich so kostspielig war wie eine komplette Armeedivision - also selbst eine siegreiche Seeschlacht angesichts der absehbaren Verluste ein buchstäblich zu teuer erkaufter Sieg gewesen wäre. Vom Prestigewert ganz abgesehen. Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Kaiserlichen Marine, der die Entscheidung zur See herbeiführen sollte, band große Teile der Flotte für Geleit- und Minensuchoperationen. Dennoch gab es noch im April 1918 einen deutschen Vorstoß bis zur Höhe Bergen-Shetlands. Zwischen den Einsätzen herrscht vor allem auf den "dicken Pötten" "Gammeldienst" - die meiste Zeit lagen die Kriegsschiffe in permanenter Alarmbereitschaft auf Reede. Zugunsten der schwer kämpfenden Landtruppen wurden die Essensrationen der "weniger hart kämpfenden" Seeleute gekürzt. Außerdem blieb es den Matrosen nicht verborgen, dass der Krieg 1918 faktisch längst verloren war.
Admiral Hippers Plan einer "Entscheidungsschlacht" war keineswegs selbstmörderisch-heroisch, sondern eiskalt kalkuliert: Ein Mißerfolg hätte nach Ansicht der deutschen Admiralität der deutschen Position bei Kriegsende nicht geschadet, währende eine empfindliche britische Niederlage (mit Durchbrechung der Blockade) die britische Verhandlungsposition geschwächt hätte. Die Matrosen, die spätestens seit der Skagerrakschlacht wußten, was eine Seeschlacht bedeutete, sahen nicht ein, Leib und Leben für strategische "Spielchen", für eine militärische Ehre, die nur dem Offizierskorps zugänglich war und für im besten Falle eine weniger totale Niederlage, zu riskieren. Im gesamtpolitischen Rahmen handelte die Seekriegsleitung eigenmächtig: Die Initiative ging von der Marineleitung aus, ohne die politischen Entscheidungsträger zu konsultieren. Eine Schlacht hätte außerdem die Friedensbemühungen der Regierung sabotiert - selbst wenn sie glimpflich verlaufen wäre, hätte sie den Krieg verlängert.
Beide Seiten waren politisch motiviert; es war kein Zufall, weshalb aus der kaiserlichen Marine sowohl die "linken" Matrosenbrigaden wie viele der "rechten" Freicorps hervorgingen.
Sturznest - 7. Jun, 07:26

Diese Matrosen, ich bin sowas von begeistert...

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