NeuRoMantik von den Singvøgeln: "Für Zeiten wie diese"

Wie immer, wenn ich etwas von den Singvøgeln besprechen und bekritteln will, stand ich vor der Frage: Wie nennen ich bloß die Musikrichtung dieses Trios?

Bei "heidnischen" Bands - es ist kein Geheimnis: die Singvøgel sind eine solche - denken Kenner der zeitgenössischen Rockmusik an "Neofolk". Die Singvøgel gehören, trotz mancher hörbarer folkloristischer Einflüsse und obwohl ihre Songs im Zweifel eher neu sind, gewiss nicht in diese Kategorie.
Sie machen - auf ihre Art - eine sehr romantische Musik. (Was nicht im musikhistorischen Sinne zu verstehen ist. Aber Neofolk hat ja auch nicht viel mit Folklore zu tun.)
Also vielleicht Neoromantik?
Da fiel mir ein Buchtitel ein, der Titel eines Science-Fiction-Romans aus dem Jahr 1985, dessen Autor ein Wort prägte, von dem die meisten Menschen, die es verwenden, nicht einmal wissen, dass es aus der Science Fiction stammt.
Der Autor heißt William Gibson, das Wort ist "Cyberspace", der Roman heißt "Neuromancer".

Zwar ist der Begriff Neuromantik schon vergeben, das ist aber nicht weiter schlimm ist, denn von Kleinigkeiten wie der zeitlichen Einordnung her passt es ganz gut. (Selbstverständlich ohne den politischen Rechtsdrall mancher Neuromantiker.) Nicht für alle Lieder der Singvøgel, aber für viele.

Also beschloss ich: künftig nenne ich die Musikrichtung der Singvøgel Neuromantik. Neu romantisch und neuro mantisch. Um das deutlich zu machen, schreibe ich es NeuRoMantik.

Nein, "Für Zeiten wie diese" ist kein "Cyberpunk" - wenig "Cyber" und "Punk" eher auch nicht. Es ist das bisher märchenhafteste Album der "Singvøgel" - jedenfalls, wenn der Maßstab die Themen der Lieder sind: Während im vorangegangenen Album "Drei" sehr viel von den Göttern gesungen wurde, geht es bei auf "Zeiten wie diese" verstärkt um Menschen, und es geht, gleich mehrmals, um Märchen. Aber nicht darum, sich in einer Traumwelt zu verlieren: Einige Songs sind Realität vom Bissigstem.

Für Zeiten wie dieseFür Zeiten wie diese

Zum Titelbild:
Im Vergleich zu den sehr schönen Arbeiten auf den Covern von "Lieder Sind" und "Drei" ist es doch für meinen Geschmack etwas zu konventionell, zu "üblich", geworden. Außerdem wirkt das Bild in starker Verkleinerung unübersichtlich: Es ist gewissermaßen nicht "thumbnail-tauglich".

Die Songs:
1. Dilemma
Ein flotter kleiner Chanson, gesungen von Karan. Nichts Tiefsinniges, aber witzig und unverklemmt.

2. Die Existenz der Hölle
Fast ein Kommentar zum "Unwort des Jahres 2010, "alternativlos": "Lass doch dem Schicksal seine Arbeit, das weiß mehr als einen Weg."
Der Song ist im besten Sinne typisch für den Sänger, Komponisten und Texter in Tateinheit, Duke.

3. Muschelkalk
Elne ziemlich lange, ziemlich pathetische und ziemlich gute Ballade. Der Text lässt sich als "Kunstmärchen" mit leichten Parallelen zu Hans Christian Andersens "Kleiner Meerjungfrau" beschreiben - aber mit ganz anderen zeitlichen Dimensionen. Da trifft es sich gut, dass das fast professionell anmutende Video größtenteils in Dänemark entstand:

(Ich muss allerdings einräumen, dass mir "Muschelkalk" ein Tick zu kitschig ist.)

4. Schwanenritter
Auch diese Ballade von Duke lässt sich als Kunstmärchen deuten - oder als eine Parabel. Was allerdings bei dieser musikalischen Andersweltreise keine zwingende Interpretation ist.

5. Heute mal anders
Wer nach den ersten vier Titeln vielleicht vermutet, die Singvøgel hätten ihre sozialkritische Ader verloren, wird von diesen keineswegs platt agitieren Song Karans eines besseren belehrt. Karan beweist als Texterin ihr Gespür für treffende und originelle sprachliche Bilder.

6. Alles wird lebendig
Ein kurzes, knackiges Stück Rock'n'Roll (für Puristen: im weitesten Sinne) von Duke.

7. Für Zeiten wie diese
Ein weiteres ballardeskes Stück, aber mit alles anderem als märchenhaftem Text. Bei mir rief es ein eindringliches "Kopfkino" hervor, eine regelrechte "innere Bildreportage" - gäbe es ein Video, würden darin viele demonstrierende, konstruktiv wütende Menschen vorkommen.

8. Es war einmal ...
Wie unschwer am Titel zu erkennen ist, geht es um Märchen. Ich fasse den Text als Appell an die Kraft der Phantasie und die Wahrhaftigkeit richtig verstandener Mythen auf - aber das ist meine Interpretation.

9. Nach Haus
Duke und Karan im Duett. Ein leicht melancholisches Lied, das gut tut.

10. C. U. V.
Duke behauptet in diesem rockigen, schnellen Song, er sei "Chronisch untervøgelt". Ob das wirklich so ist, wage ich zwar zu bezeifeln, aber ich kenne keinen Song, der das Klischee des "sexsüchtigen" Rocksängers so gekonnt veräppelt. (Wobei: Vielleicht ist es doch wahr?) "Sexsüchtig" ist, im Sprachgebrauch selbsternannter "Qualitätsmedien" übrigens jemand, der öfter und heftiger Sex hat, als der jeweils schreibende Journalist.

11. Stasi 2.0
Ein nicht ganz neues Lied, ein Protestsong, der leider immer noch aktuell ist - oder aktueller den je! Der "CC"-lizensierte Song lief schon auf so einigen Demos gegen Vorratsdatenspeicherung, Zensur, Überwachungsstaat und staatliche und staatsnahe Lügen - und an so manchem Infostand.

12. Aus und ein
Ein deutlicher musikalischer und inhaltlicher Kontrast zum vorigen Song. Karans Lied ist ist fast eine geführte Meditation, entspannend und erdend, aber keine Atemübung zur Entspannung, wie der Titel vielleicht vermuten ließe.

13. Piratin
In diesem musikalisch reizvolle Chanson ist Karan eine Frau, die gerne den (mutmaßlich netten) Mann im kleinen Café als kühne Piratin verführen / entführen würde. ("Piratin" ist nicht politisch zu verstehen, obwohl es zur Sängerin passen würde.) Will man dieses Song unbedingt verschubladisieren, so wäre "Steampunk" nicht unpassend. Was übrigens nichts mit Punkrock, aber sehr viel mit der Atmosphäre des Victorianischen Zeitalters zu tun hat.

14. Wo die Götter tanzen
Da kommt Duke nach eigenen Angaben her. Jedenfalls verrät der muntere Song viel über Duke und Dukes Art.

15. Irgendwo
Karan erzählt, was sie spürte, als des Nachts aufwachte. Es lassen sich Dinge erzählen, die sich nicht beschreiben lassen, und Karan kann das, wie ich finde, wunderbar. Ein Gänsehautsong ohne Gruseleffekte.

16. Held des Augenblicks
Ein Song wie der Abspannsong eines Kinofilms - was "Held des Augenblicks" ja tatsächlich werden soll und hoffentlich werden wird. Als Titelsong enthält er die Elemente eines Soundtracks - für romantische Szenen, für Action-Szenen, für nachdenkliche und für lustige Momente, und ist echte Filmmusik, auch wenn es den dazugehörigen Kriminalfilm noch nicht gibt.
Außerdem ist er, finde ich, ein wundervoller Mutmach- und Kopf-hoch-Song.

Wo zu bekommen?
Am besten direkt beim Hersteller bestellen: CDs der Singvøgel bestellen. Das hochwertig ausgestattete Album im Digipak mit 24-seitigem Booklet kostet 16,- Euro.

Man kann die Singvøgel-Songs auch als MP3 einzeln oder als Album downloaden.Pro Track kostet euch das bei dooload 0,99 Cent, das komplette Album gibt’s dort für nur 9,99 EUR. Wenn ihr möchtet, dass der größte Teil dessen, was ihr bezahlt, auch wirklich bei den Singvøgeln ankommt, dann kauft bitte bei dooload.

Das Album bei dooload: Für Zeiten wie diese.

Natürlich gibt es sie aber auch über iTunes, Amazon.com, Musicload, u.v.m..

Trackback URL:
https://martinm.twoday.net/stories/11577883/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6724 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren