Geschichte

Dienstag, 17. April 2007

Voynich-Manuskript enthält angeblich nur Nonsense

Das Voynich-Manuskript ist die wohl rätselhaftesten mittelalterliche Handschrift. Wahrscheinlich ist das in einer unbekannten Sprache verfasste Werk zwischen 1450 und 1520 entstanden. Aufgrund seiner enorm komplexen Sprache hatten Wissenschaftler lange ausgeschlossen, dass es sich bei dem Manuskript lediglich um einen Nonsens-Text handelt. Vielmehr, so die These, müsse die unverständliche Sprache auf einen unbekannten Code zurückgehen.

Der österreichische Wissenschaftler Andreas Schinner, von Haus aus interessanterweise theoretischer Physiker, bekräftigt nach einer Analyse des Texts die Vermutung, das Voynich-Manuskript enthalte lediglich bedeutungsloses Geschwafel. Schinner verglich das geheimnisvolle Manuskript mit im Mittelalter gebräuchlichen lateinischen und deutschen Bibelübersetzungen. Wie sich dabei zeigte, ist etwa das Wort "und" beinahe zufällig in Luthers Bibelübersetzung verteilt, während im Voynich-Manuskript viele Wörter an bestimmten Stellen gehäuft vorkommen. Für Schinner handelt es sich beim Manuskript folglich nicht um die Umschrift einer natürlichen Sprache und ebenso wenig um einen verschlüsselten Text, weil beim Kodieren sprachliche Wechselbeziehungen eher verschwinden als entstehen.

Meldung in wissenschaft.de:Das Geheimnis des mysteriösen Voynich-Codes

Donnerstag, 29. März 2007

Urahnen der "Wikingerfrau von Oseberg" stammen vom Schwarzen Meer

1904 wurden im berühmten Schiffsgrab von Oseberg zwei relativ gut erhaltenen Frauenleichen gefunden. Eine der Frauen ist möglicherweise die aus Chroniken bekannte Königin Åsa.

Die Frau selbst war "Norwegerin", behauptet Professor Per Holck von der Universität Oslo, der die Analysen des DNA-Materials vornahm, das man ihren Knochen entnommen hatte. Aber Holck sagt, dass obwohl sie aus einer Region stammte, die heute norwegisch ist, ihre Urahnen nahe dem Schwarzen Meer gelebt haben könnten.

Leider gibt Holck bisher keine weiteren Details seiner Untersuchungen bekannt, bis sein Artikel in der britischen Fachzeitschrift "European Archaeology" publiziert wird.

Aftenposten: Viking woman had roots near the Black Sea

Die Abstammung der "Wikingerfürstin" überrascht aus historischer Sicht nicht. Schon im 8. und 9. Jahrhundert unternahmen nordeuropäische Kaufleute Reisen in das byzantinische (vormals oströmische) Reich. Aber nicht nur das: Aus der Völkerwanderungszeit im 4. und 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ist das Phänomen des
“gotischen Rückstromhorizonts” bekannt. Der Kontakt der Goten zur alten Heimat im Ostseeraum riss nie ab. Neue Schmuck- und Waffenformen der Donaugoten wurden von den "Daheimgebliebenen" noch in derselben Generation kopiert. Anderseits dürfte unter den Vorfahren der auf der Krim und an der Donau siedelnden Goten nur wenige Menschen aus der südschwedischen "Urheimat" ihrer Herkunftslegenden gestammt haben. Nach diesen Legenden stammten die Goten von der Besatzungen dreier Schiffe ab, die von Schweden kommend im heutigen Polen landeten. 100 Jahre nach dem Aufbruch der drei Schiffe zählte der Stamm dieser Wandergoten schon über zehntausend Menschen. Eine derartige Massenvermehrung ist nur vorstellbar, indem ganze Sippen anderer Stämme und Kulturen in den Stamm der Goten aufgenommen wurden. Die wenigsten Vorfahren eines Goten, der in die "alte Heimat" zurückkehrte dürften aus dieser "Stammheimat" gekommen sein.
Entsprechend wird es auch bei anderen wandernden Stämmen mit "skandinavischer Urheimat" gewesen sein. Und davon abgesehen ging die Wanderung der "indogermanischen Völker" bekanntlich vom Südosten Europas gen Nordwesten.
Es überrascht also nicht im Geringsten, dass in den Knochen einer Frau, die am Oslofjord lebte, Gene, die auf den Schwarzmeerraum hinweisen, zu finden sind.

Montag, 19. März 2007

Der Backstein-Expressionismus und der völkische Okkultismus (1)

Vor kurzem beschäftigte ich mich mit der expressionistischen Architektur Noch mal "bessere Zeiten" - aber dieses Mal architektonisch - und schloß mit einem Hinweis auf die weniger erfreulichen Seiten dieser so interessanten und wichtigen Stilepoche.

Allgemein bekannt ist, wie sie endete: Die Nazis konnten mit moderner Architektur und Kunst nichts anfangen - im auffälligen Gegensatz zu den italienischen Faschisten. Wobei "die Nazis" mit der "offiziellen" Kunstpolitik nach ´33 gleichbedeutend sind. Dass z. B. Hermann Göring und Joseph Goebbels privat "gemäßigt expressionistische" Kunst schätzten und "sammelten", oder dass z. B. Emil Nolde ein überzeugter Nazi war und seinen expressionistischen Stil als "nordisch" anpries, aber dennoch als "entarteter Künstler" Malverbot erhielt, gehört zu den (scheinbaren) Paradoxien des "3. Reiches".
Das Paraxon löst sich auf, wenn man sich vor Augen hält, dass ein Hauptmotiv der Nazi im Allgemeinen und Hitlers im Besonderen der Kampf gegen "die Moderne" war. Gegen die politische Moderne sowieso: Internationalismus, Liberalismus, Demokratie und Sozialismus wurden gleichermaßen bekämpft und alle als "nur scheinbar" gegensätzliche Erscheinung des ""Weltjudentums" gesehen. Damit einher ging der Kampf gegen die "kulturelle Moderne". "Moderne" war nur im technisch-industriellen und militärischen Bereich gefragt. Was sich auch in der NS-Architektur niederschlug. Es gab sie in drei Richtungen: am seltensten wurde die bekannte monumentale Einschüchterungsarchitektur a la Troost und Speer verwendet. Weitaus verbreiteter waren der "Heimatschutzstil", z. B. für Wohnbauten, der auf regionale Bautraditionen zurückgriff und ein sachlicher Stil für industrielle "Zweckbauten". Der Flughafen Tempelhof ist z. B. ein "Zweckbau", größtenteil sachlich-modern, mit einige Zugeständnissen an die "repräsentative" NS-Staatsarchitektur.

Es fällt auf, wie viele "Lebensreformer" und klassisch moderne Künstler - darunten auch Architekten - die Nazis und ihre Steigbügelhalter aktiv und begeistert unterstüzten. Vormalige Lebensreformer arbeiten willig in der SS an der Kulturentwicklung mit.
Ein Grund dafür, dass klassisch moderne Künstler wie die dümmsten Kälber ihre Metzger selber wählten, liegt meiner Ansicht darin, dass die deutsche "Frühmoderne" zwischen "Jugendstil" und "neuer Sachlichkeit" / "Art Deco" und "Expressionismus" innerlich vergiftet war - von theosophischer Esoterik, von völkischem Denken, von Industriefeindlichkeit, von Elitedenken, Abneigung gegen den Sozialismus bei gleichzeitigem Anti-Kapitalismus.

Schon in ihren Anfängen hatte die expressionistische Architektur stark "utopische" Züge, mit einem Hang zur Esoterik und war geprägt durch eine schon im Jugendstil angelegten Ideologie des "Organischen". Als Vorläufer des expressionistischen Bauens kann man die vom Jugendstilkünstler Hugo Höppener, genannt Fidus, geschaffene"Tempelarchitektur" sehen. Fidus war überzeugter Theosoph und neigte ab 1900 der "völkisch-germanischen" Abart der Theosophie, der Ariosophie zu.
Tempelentwurf von Fidus
Tempelentwurf von Fidus, um 1900.
Während der Jugendstil noch eher dekorierend war, strebten die Expressionisten eine ganzheitliche Architektur, deren Themen sowohl geistig-spiritueller als auch gesellschaftspolitischer Art waren, an. Ein durchaus "völkischer" Esoteriker war Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie. Er war schon um 1910 überzeugt, "daß von der Architektur geistig-moralische Wirkungen ausgehen". Seine Bauten mit ihren konvex-konkaven Schwüngen und Kanten, waren "gebaute Esoterik" - und wegweisend für den Expressionismus.
erstes Goethenäum
Von Steiner 1912 entworfener früh-expressionistischer Bau

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass einer der beiden populärsten expressionistischen Architekten Deutschlands, Erich Mendelsohn, überzeugter Zionist war - und der andere, Fritz Höger, Meister des Backstein-Expressionismus, ein ebenso überzeugter völkischer Nationalist.
Der aus Schleswig-Holstein stammende Höger lernte das Architektengewerbe ab 1901 in einem Architekturbüro als technischer Zeichner kennen. Ohne ein reguläres Architekturstudium gründete er 1907 ein eigenes Architekturbüro. Bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges plante und baute er vor allem Privathäuser in Hamburg und Umgebung. Bald entstanden auch seine ersten größeren Geschäftshäuser (Rappolt- und Klöpperhaus) in der Hansestadt. Schon damals soll er Kontakt zu völkisch-esoterischen Gesellschaften wie dem antisemitischen "Reichshammerbund" gehabt haben.
Seine völkisch-mystische Ideologie spricht weniger aus der Architektursprache seiner Bauten, als aus dem, was er zu seinen Bauten schrieb. Höger favorisierte aus praktischen und ästhetischen Gründen Backstein und Klinker - die er als als deutsch, ehrlich und wahrhaftig, als das norddeutsche Wesen verkörpernd ideologisch überhöhte. Ab 1926 schrieb Fritz Höger regelmäßig für das Feuilleton des NS-Organs "Völkischer Beobachter".
Ein Gebäude, in dem Höger seinem Hang zum Esoterischen Ausdruck geben konnte, war das Anzeiger-Hochhaus in Hannover (1928) überschwänglich "Der Dom der Sterne" gennant - die "kosmologischen" (eher astrologisch-sternenmytischen) Bezüge gipfelten buchstäblich in der berühmten Kuppel, die ursprünglich ein Planetarium beherbergte.
Seine noch heute "modern" wirkende Kirche am Berliner Hohenzollernplatz soll er er als "Ausdruck eines artgemäßen Christentums" gesehen haben - "germanische" Architektur im bewußten Bruch zum traditionellen "römisch" geprägten Kirchenbau.
Kirche am Hohenzollernplatz
1931 war er in die NSDAP eingetreten und wurde Professor an der "Nordischen Kunsthochschule" Bremen. Höger strebte nach der "Machtergreifung" die Position eines Staatsarchitekten an. Zu seinem Leidweisen entsprach sein expressionistischer Baustil nicht Hitlers Geschmack. Höger wollte sich zwar nicht dem neo-klassizistischen Stil der NS-Repräsentationbauten anpassen; dem nazitypischen Hang zur Gigantomanie und Bombastik folgte er durchaus. 1937 entwarf er einen 250 Meter hohen Wolkenkratzer für den geplanten Umbau Hamburgs zur "Führerstadt" - allerdings gab Hitler einem klotzigen, aber travertinverkleideten Hochhausentwurf den Vorzug vor Högers klinkerverkleideten "art deco-expressionistischen" Bau, der es an Eleganz durchaus mit dem Crysler-Building aufgenommen hätte.

1936 wurde in Bremerhaven das von Höger entworfene Busse-Ehrenmal zu Ehren des Begründers der industriellen Hochseefischerei eingeweiht. Das zweite Ehrenmal, für das Höger ebenfalls von den Nazis einen Auftrag erhielt, sollte ein gewaltiges Ehrenmal für auf See gebliebene Hochseefischer werden. Das Monument gegenüber der großen Schleuse zum Fischereihafen, das die "heldische Pflichterfüllung" und den "Kampf mit den Urgewalten", zeigen sollte, wurde allerdings niemals fertiggestellt. Es stimmt also nicht, dass Höger bei "den Nazis in Ungnade" gefallen war - oder das er sich schon zu dieser Zeit "enttäuscht vom Nationalsozialismus abgewendet" hätte.
Nach 1945 fand der inzwischen 68 Jahre alte Höger nicht mehr zu seinen früheren Leistungen zurück, größere öffentliche Aufträgen blieben aus. 1946 entstand in Itzehoe nach Högers Entwürfen, auf Anregungen von Gyula Trebitsch ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Trebitsch war ungarischer Jude und überlebte Verhaftung, Zwangsarbeit und unsägliche Leiden in verschiedenen Konzentrationslagern. Nach der Befreiung aus dem KZ und seiner Genesung in Itzehoe leitete er zwei Kinos in der Stadt bis er sich als Film- und Fernsehproduzent und Gründer von "Studio Hamburg" einen Namen machte.

Kaum jemand zeigt das Spannungsfeld und die Wiedersprüche zwischen "naturgemäßen" organischem Bauen und größenwahnsinnigen Utopien, technokratischem Effizenzdenken und mystischer "Selbstvergottung" so deutlich wie ein langjähriger Freund Högers, der Architekt und Ingenieur Herman Sörgel, ein höchst ambivalenter Charakter. Einerseits war Sörgel in den 1920ern überzeugter Anhänger der geopolitische Ansichten der "konservativen Revolution" und stand damit den Vordenkern des Nationalsozialismus nahe,
anderseits war er erklärter Pazifist.
Sein berühmtes Projekt Atlantropa sah nicht weniger als die Trockenlegung weiter Teile des Mittelmeers durch einen 2500 m hohen Damm, der die Straße von Gibraltar absperren sollte, vor.
Für das Verwaltungszentrum des Projektes entwarf Fritz Höger 1928 einen Komplex aus drei ca. 400 m hohen Hochhäusern um einen riesigen Kuppelbau.
Atlantropa-Haus
Kohleskizze Högers: Atlantropa-Haus

Scheinbar liegen zwischen den hier genannte Architekten weltanschauliche Welten: vom ariosophisch geprägten Neuheiden Fidus, über den "Urvater der deutschen Esoterik-und Alternativ-Szene" Steiner, den völkischen Nationalisten Höger und dem geopolitischen Visionär Sörgel bis zum Zionisten Mendelsohn. Ihnen gemeinsam war der Hang zur radikalen Utopie, die Verbindung zwischen "Naturverbundenheit" und Naturkult und dem Rausch des (bau-)technisch gerade noch Machbaren, mystischer, ja "antirationaler" Weltsicht und ausgeprägtem Eilitedenken. "Okkultisten", oder nach heutigen Sprachgebrauch "Esoteriker" waren sie alle. Alle wurzelten in der "Lebensreformbewegung" des frühen 20. Jahrhunderts und mit Ausnahme Mendelsons dachten sie alle ausgeprägt deutsch-völkisch.
Und alle waren sie großartige Baukünstler.

Tatsächlich sind sie aber die gemäßigten Vertreter einer gebauten Esoterik. Es war ausgerechnet die Erfindung des entkoffeinierten Kaffees, die einige konsequent völkisch-okkulte Gebäude hervorbrachte.
(Fortsetzung in Teil 2: "Ariosophische Bauten" zwischen Schonkaffee und Atlantis )

Freitag, 9. März 2007

Noch mal "bessere Zeiten" - aber dieses Mal architektonisch

Ein Blogbeitrag Karans brachte mich auf die Idee: Fin de siècle
Wiener Sezession, Jugendstil, Symbolismus, früher Expressionismus, spätromantische und beginnende atonale Musik - dies alles und noch viel mehr war geboten zu dieser Zeit, und die vibrierenden Kunst- und Kulturzirkel zu Wien, Berlin und Paris hätte ich nur allzu gerne selber kennengelernt...
Ich teile Karans Vorliebe. In der deutschen Architektur war es aber nicht die Zeit des Art Noveau ("Jugendstil" deckt nur einen Teil dieser breiten Kunst- ,Design- und Architekturströmung ab), der "lebensreformierischen Schwarmgeister" und der unter dem Marschstiefeln des 1. Weltkriegs zertretenen Utopien und Hoffnungen, die die beste, spannenste, innovativste und wegweisenste Architektur hervorbrachte. Die wunderbaren Jugendstilbauten z. B. in Darmstadt und die erste lebenreformerische inspirierten Gartenstädte waren ein Anfang. Aber noch war Deutschland überfrachtet vom Protz wilhelminischer Herrschaftsarchitektur, die Nippes-Ästhetik bürgerlicher Bauten - Stuckornamente aus dem Katalog - war noch stilprägend, von der Villa bis zum "besseren" Mietshaus. Selbst die meisten Art Noveau Bauten waren Luxusgebäude, so wie Jugendstilmöbel für "einfache Leute" wegen der aufwändigen Herstellung unerschwinglich waren.
Art Noveau - leider ein Stil für Eliten. Während gleichzeitig die meisten Arbeiter noch in erbärmlichen Wohnverhältnissen hausten. Immer noch wurde Mietskaserner mit engen Hinterhöfen, steilen Treppen, düsteren Wohnungen errichtet. Trotz zögerlicher reformeriischer Ansätze.

Im ersten Weltkrieg ging leider nicht nur die hemmende alte Ordnung, die weitgehend "geschlossene" Gesellschaft der Kaiserzeit, zugrunde, sondern auch der meiste Elan der Aufbruchszeit der Jahrhundertwende. Viele bedeutende Künstler, Architekten, Dichter "fielen fürs Vaterland", wie es emphemistisch hieß, andere kamen körperlich oder seelische verkrüppelt davon. Und die, die übrig waren, waren desillusioniert und oft traumatisiert. Und es herrschte Chaos. Vor allen von jenen angerichtet, die die Ordnung zu schützen vorgaben.

Trotzdem - in den 1920er Jahre erlebte die deutsche Architektur ihre besten Jahre. Es herrschte Mangel. Auf beinahe allen Gebieten. Architekten und Produktgestalter waren nunmehr dazu aufgerufen, Einfachheit, Übersichtlichkeit und Klarheit in die Produktio von Häusern und Gebrauchsgegenstände einzuführen. Es waren pikanterweise die sozial engagierten Stadtplaner und die reformerische tätigen Produktgestalter, aufgewachsen zwischen "weltfremden" lebensreformerischen Ideen und "verträumten" Art Noveau, die mit ihrer Forderung "Produktion für das Existenzminium" den vernagelten Wirtschaftsführern die Augen öffneten: auch der "Massenmarkt" ist ein lohnender Absatzmarkt. Auf dem Gebiet des Wohnungsbaus waren es die vor allem die Baugenossenschaften, die die Abkehr von der Mietskaserne, hin zu menschenwürdigen und bezahlbaren Wohnungen, vorantrieben. Staatliche und private Bauherren folgten erst später.

In den 20er Jahren entstanden - nebeneinander und sich ergänzend - die expressionistische Architektur und das sachliche Neue Bauen - wobei die Architekt des Bauhauses international stilbildend wirkte.

So sehr ich die klaren Linien und die Zweckmäßigkeit des originalen "Neuen Bauens" (nicht zu verwechseln mit der Waschbeton-Ödnis der Plattenbauära in Ost und West, mag sie sich noch so sehr auf diese Tradition berufen haben) liebe und schätze - die wirklich "spannende" Architektur, die Gebäude, die mir bei einem Standrundgang ins Auge fallen, das war das expressionistische Bauen.
Viele Architekten des Expressionismus waren vom Deutschen Werkbund und vom Jugendstil geprägt - und die meisten wandten sich später dem Neuen Bauen zu.

Expessionismus ist, soweit es um Architektur geht, eher eine Verlegenheitsbezeichnung. Eher eine Bau-Gesinnung als ein einheitlicher Stil. Viele der expressionistischen Bauten, mit ihren runden, geschwungenen, "stromlinienförmigen" oder auch gezackte Formen und den geometrischen Ornamenten kann man dem Art Déco zuschlagen, andere nicht. Hauptkennzeichen: ungehemmte Lust am Experiment, Spaß am Dekorativem, das aber nie "aufgesetzt" oder gar funktionswidrig sein sollte.
Die expressionistischen Architekten bauten Häuser, wie sie kein Mensch zuvor gebaut hatte. Und das im kulturell konservativem Deutschland.
Einsteinturm
Der "Einsteinturm" des Potsdamer Observatoriums - Erich Mendelsohns berühmstestes Werk (1921). Ein Gebäude wie aus eine anderen Welt - dabei höchst funktionell.

Das berühmsteste Bauwerk der zum Art Déco orientierten Richtung des expressionistischen Bauens dürfte das von Fritz Höger entworfenen Chilehaus in Hamburg (1924) sein:
Chilehaus
Während sich bei den Bauten Erich Mendelsohns der Begriff "Science Fiction Architektur" geradezu aufdrängt, muten die Gebäude Fritz Högers ein wenig wie "gebaute Fantasy" an. Noch stärker in Richtung "Fantasy-Architektur" gingen die Häuser des "bauenden Bildhauers" Berhard Hoetger.

Allerdings vertraten gerade die Architektur-Stars des "Backstein-Expressionismus", Högers und Hoetgers, eine Ideologie, die als "finster" zu beschreiben schönfärberisch wäre - völkischen Okkultismus bzw. Ariosophie. Und zwar nicht erst seitdem sie sich den Nazis anbiederten - die sie ungeachtet dessen als "entartet" verfehmten.

Mehr dazu demnächst in diesem Blog. Der Backstein-Expressionismus und der völkische Okkultismus (1)

Bildquelle: Wikipedia

Freitag, 2. März 2007

Die Wurzeln des deutschen Vernichtungsrassimus im "Heroro-Aufstand"

Che erinnert in einem langen Beitrag auf ein gern "vergessenes" blutiges Kapitel deutschen Kolonialgeschichte hin - den Völkermord an den Herero in Südwestafrika 1905 - 1907.
Deutschland und die Herero
Man könnte einwenden, dass "Kolonialgräuel" nun einmal zum Kolonialismus sozusagen dazugehören, und z. B. auf die zahlreichen vergleichbar blutigen britischen und französischen "Kolonialkriege", "Aufstandsniederwerfungen", "Umsiedlungen" hinweisen.
Diese zynische "Argumentation" übersieht dabei, dass Deutschland bei der "Aufstandsbekämpfung" selbst im Vergleich zu den wahrlich nicht zimperlichen anderen Kolonialmächten einen "deutschen Sonderweg" einschlug: General von Trotha ging zu einem Ausrottungskrieg über - womit er den verzweifelten Wiederstand der Einheimischen noch befeuerte. Im Reichstag verweigerten die Sozialdemokraten und das Zentrum ihre Zustimmung für einen Nachtragshaushalt für den sich dahinschleppenden Guerrillakrieg. Es kam zu Neuwahlen, den die rechten Kräfte mit massiver Rassistischer und imperialistischer Stimmungmache gewannen. Die Wahlen von 1907 waren als „Hottentottenwahlen“ bekannt. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass damals der Ausrottungs-Rassismus in die Köpfe kam. Die Kontinuitäten zwischen "Südwestern" und Nazis sind jedenfalls auffällig.

Wichtiger noch scheint mir eine andere Kontinuität, die im wissenschaftliche Diskurs:
Damit sind wir bei der Rolle der Anthropologen. Nach der Niederschlagung des Aufstands führte der Anthropologe und „Rassenkundler“ Eugen Fischer Untersuchungen an Abkömmlingen von Verbindungen aus Weißen und Nabiern, diese mündeten in das Buch, das 1913 unter dem Titel" Die Rehobother Bastards und das Bastardierungsproblem beim Menschen. Anthropologische und ethnographische Studien am Rehobother Bastardvolk in Deutsch-Südwest-Afrika" publiziert wurde. Als Konsequenz seiner Untersuchungen führte er an, dass Vermischung biologisch ungünstig sei und schob damit eine „biologische“ Begründung des 1905 verfügten Verbots von „Mischehen“ nach. Fischer machte nach dem Ersten Weltkrieg eine blendende Karriere. Als einer der Autoren des tonangebenden humanbiologischen Werkes der 20er und 30er Jahre, „Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“, des „Baur/Fischer/Lenz“, in dem die Überlegenheit der „nordischen Rasse“ behauptet und die Notwendigkeit einer eugenischen Bevölkerungsplanung mit Massensterilisationen der „untüchtigen“ Teile der deutschen Bevölkerung gefordert wurde, beeinflusste er die Rassenvorstellungen Adolf Hitlers.
Interessante und bedrückend dabei ist, dass Fischers Untersuchungen keineswegs die Schädlichkeit der "Rassenmischung" belegten - die "Rehoboth-Bastarde" waren im Schnitt nämlich größer, intelligenter und gesünder als die beiden Ausgangsgruppen Holländer (Männer) und Khoi (Frauen). Fischer fälschte einfach seine Ergebisse im Sinne seine rassitischen Doktrin um. Damit diskreditierte er sich als Wissenschaftler und entpuppte sich als Ideologe. Trotzdem genoß Fischer einen "guten Ruf" als Humangenetiker, sogar noch nach 1945.

Sonntag, 25. Februar 2007

Germanen-Gräber bei Halle entdeckt

Archäologen haben bei Halle ein Gräberfeld aus der Völkerwanderungszeit mit Gold- und Bronzebeigaben entdeckt. Die umfangreichen Grabbeigaben deuten darauf hin, dass in den insgesamt 14 Gräbern die komplette Oberschicht eines germanischen Stammes bestattet worden ist.

Vermutlich ruhen in den Gräbern Germanen, die um 475 bis 490 in der fruchtbare Saaleebene bei Halle siedelten und gegen Hunnen gekämpft hatten.

Im Grab einer etwa 20-jährigen Frau wurden drei massive Goldstücke, so genannte Brakteaten, mit mythologischen germanischen Verzierungen gefunden. Solche Funde sind im mitteldeutschen Raum selten; fast alle germanischen Brakteate der Völkerwanderungszeit wurden in Dänemark und Norwegen gefunden.

Sämtliche Toten liegen auf dem Rücken mit dem Kopf in Richtung Osten. Ein Herrscher umklammert sein Schwert aus Eisen, neben ihm liegen eine Lanzenspitze und eine Schwertperle. Das glitzernde Stück galt den Germanen als mystisch und sollte dem Kämpfer übersinnliche Kräfte verleihen. Es wurde am Schwert mit einem Band getragen. Insgesamt wurden in den Gräbern 30 Perlen aus damals sehr wertvollem Glas gefunden.

Die Bestattungsrichtung könnte eventuell auf ein christliches Begräbnis deuten, wogegen jedoch die Grabbeigaben sprechen.

Nach Angaben des Chefs der Restaurierungswerkstatt, Christian-Heinrich Wunderlich, wurden vier der Gräber besonders aufwendig im Ganzen als Block aus der Erde geborgen. «Die Gräber werden untersucht, restauriert, konserviert und für eine Ausstellung im Landesmuseum in Halle vorbereitet», sagt der Experte.

Mit dem Auftauchen der Hunnen in Europa um 375 nach Christus wurde die germanische Völkerwanderung ausgelöst, die im Jahr 476 auch zum Untergang des römischen Reiches führte. Die Völkerwanderung endete um 600. Das Ergebnis war die Gründung der ersten "germanischen" Reiche, allen voran dem Frankenreich. In der Zeit zwischen ca. 600 und den "Sachsenkriegen" um ca. 800 markierte die Elbe-Saale-Linie dann die Siedlungsgrenze zwischen Germanen und Slawen.

Mit Hilfe von DNA-Tests sollen jetzt die verwandtschaftliche Beziehung der Toten geklärt werden.

mdr: Archäologen entdecken Germanen-Gräber bei Halle
westline: 1500 Jahre alter «Friedhof der Herrscher» bei Halle entdeckt

Mittwoch, 7. Februar 2007

Vermutung über den Sonnenstein der Wikinger bestätigt

Schon länger ist bekannt, dass die Wikinger bei ihren erstaunlichen Seereisen den Sonnenkompass zur Navigation benutzten und sogar schon die geographische Breite bestimmen konnten. (Über den Sonnenkompass der Wikingerzeit berichtete z. B. "mare": Der Sonnenkompass.)

Wie die Wikinger bei bedecktem Himmel navigierte, war hingegen lange Zeit ein Rätsel. In einigen Sagas wurde ein "Sonnenstein" erwähnt, der in solchen Fällen benutzt wurde. Deshalb stellten Archäologen die Hypothese auf, dass die Sonnensteine Kristalle aus Doppelspat gewesen sein könnten. Die Wikinger hätten die auf ihren die besonderen optischen Eigenschaften der Kristalle genutzt. Diese Kristalle wirken als so genannte Polarisationsfilter für das Sonnenlicht. Das sind Filter, die ausschließlich Licht durchlassen, das aus in einer einzigen Richtung schwingenden Wellen besteht. Da ein Teil des an der Erdoberfläche auftreffenden Sonnenlichts polarisiert ist und diese Polarisierung durch Wolken oder Nebel nur teilweise aufgehoben wird, kann mithilfe eines solchen Filters die Richtung bestimmt werden, aus der das Licht ursprünglich kam. Unklar ist allerdings, ob die nur in Sagas beschriebene Sonnensteine wirklich bei Seereisen verwendet wurde - bei Funden aus der Wikingerzeit wurden sie bisher noch nicht entdeckt.
Außerdem gab es ernstzunehmende Zweifel, ob die Kistalle überhaupt als "Sonnendetektor" zu gebrauchen wären.

Nun hat ein internationales Forscherteam bei Messungen in arktischen Meeren herausgefunden, dass die Kristalle tatsächlich für diesen Zweck verwendet werden können. Allerdings funktionierten solche Sonnensteine wohl nur bei wolkenverhangenem Himmel, während sie bei Nebel nicht immer zuverlässig waren, wie die herausfanden.

wissenschaft.de:Wie die Wikinger trotz Wolken den Weg fanden

Sonntag, 28. Januar 2007

... und Goscinny und Uderzo hatten doch recht!

Ein 1700 Jahre altes Massengrab in der Normandie, in dem Menschen und Pferde zusammen bestattet wurden, gibt Archäologen Rätsel auf. Die Art der Bestattung war vor der Eroberung Galliens durch die Römer weit verbreitet, jedoch wurde bisher kein Grab dieser Art aus römischer Zeit gefunden.

Möglicherweise deutet der Fund auf die Verehrung der keltischen Göttin Epona, Göttin der Pferde und Krieger, hin. (Es ist schon länger bekannt, dass die Epona-Verehrung sich in römischer Zeit hielt und sogar von nicht-keltische Einwohner des römischen Reichs übernommen wurde. Allerdings wurde Epona in römischer Zeit nach bisherigen Erkenntnissen in "römisch-zivilisierter" Form verehrt - und wirkte sich nicht auf die Form der Bestattung aus.)

Ausgrabungsleiterin Sylvie Pluton vom "Institut National de Recherches Arcéologique Préventives (INRAP)", eine Expertin für die Gallo-Römische Periode, betont, dass die Römer sehr organiert waren und ihre Friedhöfe entsprechend ordentlich aussahen. Bei diesem Grab ist das nicht der Fall. Die Körper zeigten in alle möglichen Richtungen. Details der Bestattung - z. B. lag ein Schädel zwischen den Kieferknochen eines Pferdes - deuten darauf hin, dass hier alt-gallische Sitten 300 Jahre römischen Einfluß überstanden hatten - immerhin in unmittelbarer Nähe zu einer römischen Stadt.

Eine Erklärung könnte sein, dass ein kleiner Teil des alten Galliens 300 Jahre lang den Römer widerstanden hat - zumindest in kultureller Hinsicht. Damit wäre "Asterix" gar nicht so weit von der historischen Realität entfernt.

The Independent: Normandy grave hints at 300-year defiance of the Roman Empire

Sonntag, 7. Januar 2007

Wilhelm Marr - linksdemokratischer "Vater des modernen Antisemitismus"

In Wie antisemtisch ist Asatru? (3)) erwähnte ich Wilhelm Marr, der den Begriff "Antisemitismus" prägte.
Marr ist eine Schlüsselfigur in der Entwicklung von religiös begründeten "Antijudaismus" - der nach heutigem Sprachgebrauch als "traditioneller Antisemitismus" bezeichnet werden müßte - zum "modernen Antisemitismus". Überraschenderderweise war Marr nicht rechtsextrem, er war nicht deutschnational, er war auch kein Nationalromantiker: Wilhelm Marr war ein profilierter linker Demokrat!

Der aus Magdeburg stammende "Commis" (Handlungsgehilfe, nach heutigem Sprachgebrauch kaufmännischer Angestellter) Wilhelm Marr ließ sich 1841 in Zürich nieder. Dort machte er die Bekanntschaft einiger deutscher republikanischer Oppositioneller, die in der Schweiz im Exil leben. Zu ihnen gehören Julius Fröbel, später einer der Gründer der Demokratischen Partei ist und 1848 Abgeordneter im Frankfurter Paulskirchen-Parlament wird, und der politische Dichter Georg Herwegh. Marr wurde politisch aktiv und trat für eine sozialistische Politik ein. Mit Wilhelm Weitling lernte Marr den ersten deutschen Theoretiker des Kommunismus kennen und wurde selbst Kommunist. Marr trat auch dem jungdeutschen (radikal demokratischen) "Léman-Geheimbund" ein. Er instrumentalisierte den Bund für sein persönliches Geltungsbedürfnis. Wenig später wandte sich Marr dem Anarchismus zu und gründete den geheimen "Schweizerischen Arbeiterbund". 1845 wurde er aus Lausanne ausgewiesen; aus Zürich war er schon einige Jahre zuvor ausgewiesen worden. Marr versuchte sich in zahlreichen deutschen Städten niederzulassen, wird jedoch aus allen ausgewiesen - durch die 1819 eingerichtete Mainzer Central-Untersuchungs-Commission waren sie über seine politische Aktivitäten im Bilde. (Es ist m. E. bezeichnend, dass ausgerechnet eine Überwachungsbehörde die am besten funktionierende gemeinsam Institution des politisch zersplitterten und ansonsten völlig einflußlosen "Deutschen Bundes" war.)
1846 erscheint seine Propagandaschrift "Das junge Deutschland in der Schweiz". Sie wird zu einem seiner erfolgreichsten Bücher - und zeigte offenbar bereits seine antiliberale Grundeinstellung.
Marr konnte sich in Hamburg - damals dem an wenigsten intoleranten deutschen Kleinstaat - niederlassen und betätigte sich dort als politischer Journalist und brachte das erfolgreiche satirische Blatt "Mephistopheles" heraus. Als extrem linker Anhängern der radikal-demokratischen Partei wurde er 1848 als Deputierter der Hamburger Constituante nach Frankfurt am Main entsandt.
Er polemisierte gegen das seiner Ansicht nach zu weiche Paulkirchenparlament und gegen die Judenemanzipation. Als einzigen Grund seine Abneigung gegen Juden führte er den Liberalismus an, der sich den jüdisch konnotierten Kapitalinteressen verschrieben habe. (Damit nahm er die bis heute wirkende "Tradition" des "linken" antikapitalistischen, Antisemitismus vorweg.)
Nach dem Scheitern der von ihm ersehnten demokratischen Republik wurde er zum energischen Befürworter eines deutschen Staates unter preußischer Hegemonie.
Marr bliebt politsch aktiv, war im Vorstand des „Demokratischen Vereins“ und seit 1861/62 Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft (dem Hamburger Landtag). Sein fortbestehender politischer Radikalismus und ein antisemitischer Beitrag im "Courier an der Weser" 1862, in dem er den Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft, Gabriel Riesser, einen liberalen Juden und Vorkämpfer der Judenemanzipation, attackierte, führten zur Aufgabe seiner politischen Ämter.

Die politischen und gesellschaftliche Verhältnisse in Hamburg beeinflußten Maars Antisemitismus: Hamburg wurde von einer Kaufmannsoligarchie, die das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben völlig beherrschte, regiert. Nach dem Vorbild des benachbartem dänischen Altonas, das schon im 18. Jahrhundert völlige Religionsfreiheit kannte, war Hamburg im "Vormärz" Vorreiter der Judenemanzipation. Liberale Juden, wie Riesser oder der Bankier Salomon Heine, schafften den Aufstieg in die "Kaufmannsaristokratie". Marr warf "den Juden" (die meisten Hamburger Juden waren Kleinhändler oder Handwerker und keinesweg wohlhabend) vor, die Emanzipation zu missbrauchen, um sich wirtschaftliche und politische Machtpositionen innerhalb der Hamburger Kaufmannsoligarchie zu sichern. Nach dem Erreichen dieser Positionen hätten sie die demokratischen Ideale des Liberalismus verraten. (Also eine antisemitische Verschwörungstheorie für das Scheitern der "Märzrevolution" von 1848 und die ausbleibenden demokratischen Reformen in Hamburg.)

Über den Einfluß Marrs persönliche Lebensverhältnisse auf die Entstehung seines Antisemitismus kann ich wenig sagen. Es fällt aber auf, dass Marr in erster Ehe Georgine Johanna Bertha Callenbach heiratet, deren Vater sich vom Judentum abgewandt hatte. Nach der Scheidung heitatete er Helene Sophia Emma Maria Behrend, eine Jüdin aus einer Familie der Hamburger "besseren Gesellschaft", die schon im Jahr der Hochzeit starb. Er heiratet darauf Jenny Therese Kornick, geschiedene Zschimmer, die einen jüdischen Elternteil hatte. Erst seine vierte Frau, Clara Maria Kelch aus eine Hamburger Arbeiterfamilie war (wahrscheinlich) "Nichtjüdin" im Sinne des von Marr vertretenen Rassenantisemistismus. Marr, der einige Zeit in Mittelamerika lebte, war auch rassistisch gegenüber "Indios", "Neger" und "Mulatten" und hielt die für Lateinamerika typische "Rassenvermischung" für verhängnisvoll.

Den Begriff "Antisemitismus" in seiner heutige Bedeutung prägte Marr in seiner 1879 erschienenen Propagandaschrift "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum - Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet".

Marr grenzte sich in seinen Schriften von der traditionellen religiösen Judenfeindschaft ab und behauptete, dass die Juden eine fremde, parasitäre "Rasse" seien, die erfolgreich die Ausbeutung der "Germanische Völker", vor allem der Deutschen, betreibe. Diesen Paradigmenwechsel von Religion zu "Rasse" verdeutlichte Marr dadurch, das er den Begriff "Antisemitismus“ prägte. Marr wußte sehr wohl, dass auch z. B. Araber, gegen die er nichts hatte, Semiten waren. Er verwies darauf, dass die einzigen Semiten, die in Europa Fuß gefaßt hätten, Juden seien. Da auch assimilierte und sogar getaufte Juden seiner Ansicht nach "jüdisch" blieben, suchte er nach einem passenden Begriff für solche "Rassejuden". Er fand ihn in "(europäische) Semiten".
Marr stellte als erster antijüdischer politischer Autor die Juden nicht den Christen, sondern den "Germanen" gegenüber. Er behauptete, es gebe seit über 1800 Jahren einen kulturellen Krieg zwischen beiden "Rassen". Dieser sei mit der Judenemanzipation zugunsten der Juden entschieden worden. Die Deutschen selber hätten den Juden mit der Märzrevolution von 1848 zu ihrem Sieg verholfen, indem sie deren liberale Ideen übernommen hätten. Auch Deutschlands Konkurrenten in Europa, Frankreich und Großbritannien, würden von Juden beherrscht. Er schloss mit einer kulturpessimistischen Aussicht: Den Juden gehöre die Zukunft, das Germanentum sei zum Aussterben verurteilt. Finis Germaniae! Vae victis! (Das Ende Germaniens! Wehe den Besiegten!)
Marr formulierte schon damals die Verschwörungstherie vom alle
Staaten Europas durchdringenden und "zersetzendem" Weltjudentums. Gegen die heimliche Herrscher, das Weltjudentum, gründete er die "Antisemitenliga".

Marr und seine "linke" Antisemitenliga konnten sich unter den mehrheitlich doch eher völkisch-nationalistisch und antidemokratisch gesonnenen "rechten" Antisemiten nicht durchsetzen. Allerdings wurde seine rassistisch begründete Verschwörungstheorie geradezu begeistert von ihnen aufgenommen - vermutlich, weil sie "modern" und "wissenschaftlich" wirkte.

Wilhelm Marr - Biographie

Wikipedia: Wilhelm Marr,
Antisemitenliga,
Antisemtismus bis 1945

Freitag, 29. Dezember 2006

Wie antisemitisch ist Asatru (2)

In den Raunächten, zwischen dem 22. Dezember und dem 2. Januar blogge ich Texte, die ich irgendwann einmal angefangen habe und die lange als halbfertige Entwürfe oder als Notiz herumlagen, aber auch Ergänzungen älterer Artikel. Das hier ist der lange überfällig zweite Teil eines Artikels.

Am Ende des ersten Teils Wie antisemitisch ist Asatru? schrieb ich:
Es stellt sich allerdings die Frage, ob die "alten Germanen" und die "Wikingern" fremden Kulturen im Allgemeinen und Juden im Besonderen feindlich gegenüber standen. Es also eine öriginär germanische Xenophobie und eine "alte Judenfeindschaft" gäbe.
Sollte das nicht der Fall gewesen sein, stellt sich damit die Frage, wie denn der Antisemitismus - historisch gesehen - in den germanischen Neopaganismus hineingeraten ist.
Zur ersten Frage:
Eine besondere Xenophobie, ganz zu schweigen von Rassimus, läßt sich bei germanischen Stämme nicht nachweisen. Entgegen einer im 19. und frühen 20. Jahrhundert gängigen Ausfassung läßt sich auch der Nationalismus nicht in auf die Stammesgesellschaften des Altertum zurückführen. Noch der von mir hoch geschätzte Karl Popper meinte in "Die offenen Gesellschaft und ihre Feinde", dass der Nationalismus sich an unsere "Stammesinstinke" wenden würde, an unsere nostalgischen Wünsche, von der Last individueller Verantwortlichkeit befreit zu werden, die er durch kollektive oder Gruppenverantwortlichkeit zu ersetzen versucht. Allein: auf reale "Stammesinstinkte" kann diese bedauerliche Neigung zur nationalen Volkgemeinschaft nicht zurückgeführt werden. Der Grundirrtum sowohl der "Stammes-Nationalisten" wie ihrer Gegner lag in der Annahme, dass Stammesgemeinschaften durch Blutsverwandschaft zusammengehalten werden würden. Fremde blieben darum grundsätzlich ausgeschlossen.
Die neuere ethnologische und historische Forschung hat diese alte Annahme längst widerlegt: germanische Stämme definierten sich nicht über reale Blutsverwandtschaften, sondern spirituelle Bindungen. Kultur war das einzige, was die Stämme gemeinsam hatten. Und selbst das ist ein relativer Begriff. Denn der Gesamtheit der germanischen Stämme – also derjenigen Stämme mit germanischen Dialekten und Sitten – fehlte jedes Gemeinschaftsbewußtsein über den eigenen Stamm hinaus. Tatsächlich ist diese Haltung bei Stammeskulturen in aller Welt bis heute die Regel.
Der Grund in der Verwirrung lag darin, dass die Stämme offensichtlich behaupteten, Abstammungsgemeinschaften zu sein, es aber ebenso offensichtlich nicht waren.
Die Goten behaupteten, ihre Vorfahren seien aus dem heutige Schweden gekommen. In Wirklichkeit dürften die wenigsten späteren Eroberer Roms von Menschen aus dem heute noch "Götäland" genannten Landschaften abgestammt haben. Die Gotenwanderung ging von drei Auswandererschiffen aus - einer maximale Anzahl von etwa 100 Menschen. Sie siedelten sich zunächts im heutige Polen an, wanderten später in den pontischen Steppenraum, von dort aus um das Schwarze Meer herum in den Karpatenraum und an den Unterlauf der Donau. Dann kamen sie über Italien bis nach Spanien.
100 Jahre nach dem Aufbruch der drei Schiffe zählte der Stamm der "Wandergoten" schon mehrere tausend Köpfe. Eine derartige Massenvermehrung ist auf biologischem Wege nicht vorstellbar – sie konnte nur erreicht werden, indem ganze Sippen anderer Stämme und Kulturen in den Stamm der Goten aufgenommen wurden.
Stämme, auch und gerade die der Germanen, sind Personenverbandsgesellschaften; sie definierten sich nicht nach Territorien wie Staaten, sondern nach Zugehörigkeit zu Personen – und zu Göttern. Der Gedanke eines faktischen oder auch nur theoretischen "germanischen" Nationalstaates ist ein Widerspruch in sich: Mit Stammeskulturen ist buchstäblich kein Staat zu machen.
Erst in der Spätantike gab es erste "germanische" Staatenbildungen, zuerst auf dem Territorium des untergegangenen Weströmischen Reiches. Nationalstaaten waren sie nicht. Tatsächlich scheiterte die Staatsgründung der Langobarden in Italien daran, dass das Stammesdenken noch in der Köpfen der langobardischen Herrscher steckte. Selbst die mittelalterliche Königreiche Skandinaviens stülpten sich sozusagen über die vorhandenen Stammesgemeinschaften. Was die Normannen zu überaus erfolgreichen Staatengründern machte, war nicht ihr "Stammesnationalismus", sondern ihr politischer Pragmatismus, mühsam erworben in Staaten, die ständig Kompromisse mit dem vorhandenen Stammesdenken eingehen mußten.

Daraus ergibt sich: Es gab sicherlich ein stetes Mißtrauen gegenüber "Stammesfremden". Insofern gab es auch so etwas wie Fremdenfeindlichkeit. War ein "Fremder" aber erst einmal in den Stamm integriert (besser wohl: adoptiert), dann gehörte er ohne
"Wenn" und "Aber" dazu. Soziale Ausgrenzung von Teilen der Gemeinschaft ist historisch belegbar das "ungermanischste", was man sich überhaupt vorstellen kann.

Eine "instinktive Abneigung" gegen Juden konnte sich bei den "alten Germanen" der Römerzeit schon deshalb nicht entwickeln, weil die vereinzelten Juden unter der ethnisch bunt gemischten "römischen" Bevölkerung von außen gesehen keine abgegrenzte Sondergruppe waren. Schlimmstenfalls war ein Jude für einen rechtsrheinischen Germanen nur ein weiterer "komischer Fremder mit seltsamen Sitten", wie alle "Römer", egal, ob sie ursprünglich aus Italien, Spanien, vom Balkan, aus Nordafrika oder welchen Teil des Imperium Romanum auch immer sie stammten.

Ab der Völkerwanderungszeit änderte sich das Bild. Für die bereits hristianisierten Germanen bildeten die "andersgläubigen" Juden eine abgrenzbare Minderheit. Dennoch und trotz der antijüdischen Tendenzen des Christentums weisen die Chroniken und archäologische Funde aus, dass es keine ausgeprägte Judenfeindschaft gab. Erst mit den Kreuzzügen wurde der Antijudaismus gewaltätig, schlug in etwas um, was man mit Fug und Recht "Frühantisemitismus" nennen kann. Das hat aber mit der längst verschwundenen germanische Stammesgesellschaft oder auch nur einer besonderen germanischen Mentalität nichts zu tun.

Anders die Situation im heidnischen Nordeuropa. Hier standen sich jüdische Fernkaufleute und germanische Händler gegenüber. "Freundschaft" oder "Feindschaft" wird davon abgehangen haben, ob der jeweilige jüdische Händler Konkurrent oder Geschäftspartner war. Der Hauptgrund des Neides und der Mißgunst christlicher Kaufleute auf "die Juden" fehlte in heidníscher Zeit noch: das christliche Verbot des Geldverleihs gegen Zinsen. Das lag übrigens nicht daran, dass im frühen Mittelalter im Norden vor allem Tauschhandel getrieben worden wäre. Fränkische, oströmische und arabische Münzen waren im Umlauf, es gab schon vor der Wikingerzeit Ansätze einer "einheimischen" Münzprägung und auch das Hacksilber war kein Tauschgut, sondern eine "Kurrant-Währung": bezahlt wurde mit einer abgewogenen Menge Silber. Mißmutig berichteten christliche Chronisten, dass die religiöse Haltung der Kaufleute aus dem Norden vom geschäftliche Opportunismus bestimmt wurde. Waren zu einem Markt oder einer Messe nur christliche Kaufleute zugelassen, ließen sich die geschäftlich interessierten Nordländer eben kurzerhand taufen - zumal es üblicherweise ein Taufhemd als kostenlose Zugabe gab. (Es ist der Ausspruch eines friesischen Händlers überliefert, der sich über die schlechte Qualität seines Taufhemdes beklagte. Bei keiner seiner vorangegangenen Taufen hätte man ihm so ein grobes Hemd angedreht.) Es könnte durchaus sein, dass für manche an Geldgeschäften interessierte nordischen Kaufleute eine Konversion zum jüdischen Glauben eine interessante Alternative zur christlichen Taufe gewesen sein mag.

Damit dürfte klar sein, dass Antisemiten sich nicht auf die "alten Germanen" berufen können, jedenfalls nicht ohne erhebliche Geschichtsklittierungen.

Der Frage, wie denn dann der Antisemitismus ins germanische Neu-Heidentum geriet, versuche ich im nächsten Teil zu beantworten. Teil 3

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