"Wie einzigartig ist der Mensch?" - Vortrag über die Evolution des Geistes

Der Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth referierte in einem Vortrag in der URANIA Berlin zur Frage: "Wie einzigartig ist der Mensch? Die Evolution des Geistes, der Intelligenz und des Bewusstseins".

Roths Forschungsschwerpunkte sind kognitive und emotionale Neurobiologie bei Wirbeltieren, theoretische Neurobiologie und Neurophilosophie. Seiner philosophischen und erkenntnistheoretischen Ansichten sind dabei durchaus umstritten. Trotzdem - oder gerade deshalb - lohnt es sich, anzuhören, was er über das Geist-Gehirn-Problem, die Evolution des Geistes und die Entstehung von Intelligenz und Bewusstsein zu sagen hat. Man sollte sich dabei weder allzu sehr vom Glanz des "berühmten Hirnforschers" blenden noch von der sehr einleuchtenden Darstellung zu sehr mitreißen lassen - wer kritisch zuhört und das selbst Denken nicht vergisst, hat mehr davon.

Der Vortrag auf You Tube:
1. Wie einzigartig ist der Mensch?
2. Lernverhalten und Werkzeuggebrauch
3. Selbsterkennen, Wissen und Nichtwissen
4. Die Sprache
5. Das Gehirn (1)
6. Das Gehirn (2)
7. Die Intelligenz des Menschen
8. Die Intelligenz der Vögel
9. Nahtod-Erlebnisse, Telepathie und außerkörperliche Erfahrungen
10. Das Resümee
11." Gott im Gehirn"
12: "Religiöse Prägung in der Kindheit"

Philosophisch vertritt Roth einen "nichtreduktionistischen Physikalismus" (im Gegensatz zum heute eher berüchtigten "reduktionistischen Physikalismus", der alle Phänomene der Welt auf physikalische Ursachen zurückführt), und einen "neurobiologischen Konstruktivismus", eine Form des radikalen Konstruktivismus.

Kritisch anzumerken ist, dass Roth, obwohl er als Neurophilosoph differenziertes Denken beherrschen sollte, manchmal undifferenzierte und verallgemeinernde Behauptungen, die aber eben "griffig" sind, aufstellt. Ein - nach meinem Eindruck für Hirnforscher nicht untypischer - Hang zum determinstischen Biologismus, bis hin zur Verneinung eines freien Willens - kommt hinzu.

Deutlicher als in diesem Vortrag wird diese Schwäche Roths in einem Interview, das er für den GEO-Kompakt-Band Intelligenz, Begabung, Kreativität (9 / 2011) gab, in der er unter anderem die empirisch nicht haltbare Ansicht vertritt, dass Mädchen im Schnitt weniger mathematisches Talent als Jungen hätten. Es zog eine ebenso wütende wie meiner Ansicht nach berechtigte Replik des Mathematikers Günter M. Ziegler auf "SciLogs" nach sich. Dass ausgerechnet ein Konstuktivist schulische Leistungen von Jungen und Mädchen auf (vermeindliche) biologische Unterschiede im Gehirnaufbau zurückführt, hat mich ziemlich erstaunt. Zumindest hätte er die Möglichkeit, dass das ein soziales, und nicht etwa ein neurobiologisches Konstrukt sein könnte, erkennen müssen, auch in einem Presseinterview.

Zurück zum Vortrag: zwei der von Roth angeführten Phänomene, nämlich außerkörperliche Erfahrungen und "religiöse Erscheinungen"
kenne ich aus eigener, mehrfacher, Erfahrung.
Ich folge ich Roth darin, dass er außerkörperliche Erfahrungen für ein völlig natürliches Phänomen hält (wozu seine außerkörperliche Erfahrung nach einem schweren Unfall sicherlich beitrug). Dankbar bin ich ihm dafür, dass er klarstellt, dass außerkörperliche Erfahrungen und Nahtoderfahrungen nicht zwangsläufig zusammengehören. (Hätte ich das bei meiner ersten, unfreiwilligen, außerkörperlichen Erfahrung gewusst, wäre mir ein erheblicher Schrecken erspart geblieben - ich dachte nämlich während dieser Erfahrung, ich läge im Sterben, und zerbrach mir anschließend vergeblich darüber den Kopf, in welcher akuten Lebensgefahr ich wohl gewesen wäre.)
Nicht teilen mag ich seine Darstellung, dass die "typischen" "Jenseitserfahrungen" bei Nahtoderlebnissen immer durch Hirntraumata verursacht werden. (Mit einer ähnlichen Erklärung, der, dass "Nahtoderlebnisse" auf hohe CO2-Konzentration im Blut zurückzuführen seien, setzte ich mich hier auseinander.)

Hinsichtlich der Darstellung, wie z. B. "Marienerscheinungen" zustande kämen (im Abschnitt "Gott im Gehirn"), mag ich ihm, da ich nicht nur einmal eine vergleichbare Erscheinung hatte, auch nicht folgen. Ihm zufolge werden solche Ereignisse durch tiefe epileptische Anfälle im rechten Temporallappen erzeugt. Das ist erst einmal sehr überzeugend, da solche Anfälle in der Tat mit akustischen Halluzinationen ("Stimmenhören"), dem Eindruck, einen hellen Fleck zu sehen und einem sprirituellen Hochgefühl, dem Gefühl des Geborgenseins, einher gehen können. Es überrascht auch nicht, dass sich durch elektrische Tiefenstimulation des rechten Temporalllappens solche Halluzinationen auslösen lassen.
Hingegen ist Roths Darstellung, dass sämtliche Propheten, einschließlich Jesus und Mohammed, Epileptiker gewesen seien, reine Spekulation. (Hinweise auf einen möglichen epileptischen Anfall gibt es tatsächlich bei Paulus, über Jesus und Mohammed wissen wir einfach zu wenig, um so eine historische Diagnose stellen zu können.) Bei meinen eigenen Erscheinungen kann ich einen epileptischen Anfall mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. (Nicht ausschließen will ich die Möglichkeit von Pseudo-Halluzinationen - Pseudo-Halluzination deshalb, weil echte Halluzinationen mit einer "Wahngewissheit" einher gehen, während ich mir bei meinen Visionen, von der allerersten vielleicht abgesehen. durchaus über deren Visionscharakter im Klaren war.)

Es ist so, dass Roth eine mögliche Erklärung, wie das rätselhafte Geschehen zustande gekommen sein könnte, also eine Hypothese, die im einzelnen Fall sehr plausibel ist, auf die ganze Klasse von Ereignissen (außerkörperliche Erfahrungen, prophetische bzw. spirituelle Visionen) ausweitet, und dabei die Hypothese als erwiesene Tatsache darstellt ("so ist es"). Ich mag mich seinem schroffen Urteil, dass Neurotheologie Unsinn sei, auch nicht anschließen.

Da Roths Vortrag einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Neurobiologie gibt und einen ungewöhnlichen Blick auf existenzielle Fragen wirft, ist er trotz solcher solcher Schwächen sehr hörenswert!

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