Pragmatismus (fehlender, in Deutschland)

Ein Nachtrag zur "Schwedischen Lösung". Darin schrieb ich:
Einer der auffälligsten Mentalitätsunterschiede ist der schwedische Pragmatismus. (Der Mangel an Pragmatismus mit der damit verbundenen Rechthaberei und Prinzipienreiterei scheint mir ein Gründübel der deutschen Gesellschaft zu sein, neben der immer noch wirksamen Untertanenmentalität. Aber das ist ein anderes Thema.)
Dass es in der deutschen Debattenkultur selbst Menschen mit pragmatischen politischen Zielen an Pragmatismus mangelt, fiel mir auf ziemlich drastische Weise auf, als ich den Lifestream vom Bundesparteitag der “Piratenpartei” verfolgte. Ich kannte erbitterte Debatten noch aus der Zeit, als die “Grünen” noch grün waren - oft auch hinter den Ohren - und sich nicht immer grün waren. Aber damals vermutete ich, das läge an den ideologisch verhärteten Fronten - "Fundis" gegen "Realos", Technikfans gegen Technikfeinde, Ökolibertäre gegen Öko-Autoritäre, "Neo-Hippies" gegen Öko-Spießer, Öko-Spirituelle gegen (knallhart materialistische) Öko-Linke usw, usw, usw. . (Oft bedaure ich, dass die bunten Chaotentruppe von damals zu einer "ganz normalen" Partei mit dem "ganz normalen" Parteizweck des Machterwerbs und -erhalts und sehr viel Opportunismus wurde.)

Solche Flügelkämpfe konnte ich bei den “Piraten” bisher nicht ausmachen - aber den unsäglichen, aufs Fertigmachen und Rechthaben gerichteten Debattenstil sehr wohl. Als Ursache sehe ich den fehlenden Pragmatismus. Was übrigens kein "Livestream-Artefakt" - es wirkt ja immer alles etwas chaotischer, wenn man nicht selbst dabei ist - zu sein scheint. Karan twitterte direkt vom Parteitag: "Könnte bitte mal jemand eine Runde Pragmatismus ausgeben?"
Ich kann mir so eine verkorkste Debatte in England oder Schweden irgendwie nicht vorstellen.

Mir fällt immer wieder auf, wie selten Streitgespräche im deutschen Sprachraum bei der Sache bleiben, ohne von einem Extrem ins andere zu taumeln. Meistens vermischt sich das mit heftigen ad personam-Attacken - und mit nicht weiter begründete negativen Werturteilen wie “das ist doch Scheiße”.

Ich habe den Verdacht, dass der "streitsüchtige, prinzipienreitende, besserwisserische" Deutsche kein reines Vorurteil ist. Wie oft das Klischee von der "deutschen Oberlehrermentalität" zutrifft, merkt man als Deutscher meistens erst, wenn man andere Mentalitäten kennengelernt hat.
Wir Deutschen neigen offensichtlich dazu, uns über andere zu erheben, indem wir sie erniedrigen. Mir fällt das im Interview-Stil auf: offensichtlich wird von deutschen Journalisten erwartet, dass sie in einem Interview jemanden richtig “fertigmachen”. Dem gegenüber steht der deutsche Brauch, ein Interview autorisieren zu lassen, vor allem, wenn “wichtige” Personen interviewt werden. Das heißt: aggressiv in der Form, unterwürfig-ängstlich in der Sache. Der gute “angelsächsiche” Journalismus macht’s genau anders herum. (Der schlechte “angelsächsische” Journalismus ist dafür meines Erachtens an Gehässigkeit kaum noch zu toppen, nicht mal von der “Bild”, die ja deutlich dem Vorbild der englischen Revolverblätter wie “Daily Mirror” oder “Sun” folgt.).

Woher der deutsche Mangel an Pragmatismus stammt, und weshalb pragmatische Politiker wie Helmut Schmidt in Deutschland die große Ausnahme sind (wobei Schmidt nebenbei bemerkt in seiner Oberlehrerhaftigkeit trotz Pragmatismus sehr "Klischeedeutsch" sein konnte), darüber gibt es zahllose Theorien. Es wäre wenig pragmatisch, ihnen allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Die deutsche Rechthaber/Runterputzer-Mentalität, meiner Ansicht nach ein wesentlicher Grund für fehlenden Pragmatismus, stammt, wiederum nur nach meiner unmaßgeblichen Auffassung, vor allem aus der Angst vor Fehlern. (Die mich auch dazu bringt, so vorsichtig zu formulieren.)

Die Angst vor Fehlern ist im Kern, denke ich, die Angst davor, für einen Fehler gerade stehen zu müssen.
Die wiederum hängt wohl damit zusammen, dass jemand, der einen Fehler “begangen” hat (verräterischer Sprachgebrauch: man begeht ein Verbrechen!), in Deutschland oft und gern “fertiggemacht” wird.
Das war schon damals in der Schule so: es kam, hatte ich den Eindruck, eher darauf an, möglichst wenig Fehler zu machen, anstatt richtig gut zu sein.
(Der Ansatz des Fehlerzählens ist bei Diktaten und bei reinen Wissenstests angemessen, schon in Mathe sollte der Lösungsweg ebenso wichtig sein, wie das richtige Ergebnis.)
Später erlebte ich, dass bei fast allen Bewerbungen (und ich habe viele hinter mir!) mir hinsichtlich meiner “Schwachstellen” auf den Zahn gefühlt wurde, während eventuelle Stärken als “selbstverständlich” vorausgesetzt wurden.
Umgekehrt ist die Frage: “Was sind Ihre größten Stärken?” unter Bewerbern vielleicht noch mehr gefürchtet als die Frage: “Was sind Ihre größten Schwächen?”
Ich jedenfalls habe vor der Frage nach den Stärken mehr Angst. Meine Schwächen glaube ich zu kennen, ich weiß auch ungefähr, welche Schwächen ich einigermaßen gefahrlos in einem Vorstellungsgespräch zugeben kann. Aber die Stärken? Da bleibt es - auch bei mir - beim “Üblichen”, von dem ich weiß, dass es “gefragt” ist - Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Lernbereitschaft, Fleiß, usw. usw. “Kreativität” eher nicht.
Zu meinem Leidwesen habe ich schon einige Male erfahren müssen, wie wenig geachtet “kreative Spinner” selbst in der Werbung sind.
”Also, ich denke, Sie, als jemand mit kaufmännischer Ausbildung, könnten ein gutes Gegengewicht zu diesen kreativen Spinnern da im ersten Stock sein.”
Die vergesse ich nie, diese Verachtung in der Stimme eines Managers einer Werbe- und PR-Agentur gegenüber den Menschen, ohne die er weder Werbung noch PR machen könnte. Das sind eben Handlanger, deren Kreativität man sich einkauft. Aber ein IT-Kaufmann, der denkt nüchtern, sachlich - und dessen “Nüchternheit” und dessen “Pragmatismus” wird eben genau so eingekauft.
Wichtig sind allein die “Entscheider”, die “Ausführer” und ihre Fähigkeiten sind “Menschenmaterial”. Das ist wiederum recht pragmatisch, aber auf eine Weise, die ich nicht schätze.
Gregor Keuschnig - 10. Jun, 14:02

Komisch. Ständig höre ich, die deutschen Journalisten seien zu "brav" den Politikern und sollten sich einmal ein Vorbild an den amerikanischen (manchmal auch britischen) Kollegen nehmen. Was nun?

Die Frage in den Bewerbunsggesprächen nach Schwachstellen dient eher weniger danach, diese Schwachstelle tatsächlich zu erfahren. Sie ist ein rhetorisches Mittel um die Eloquenz des Bewerbers herauszufinden (was natürlich nur noch begrenzt aussagefähig ist, weil jeder längst darauf vorbereitet ist). Übrigens gängige Praxis in angelsächsischen Ländern. Dass es hier praktiziert wird, ist tatsächlich relativ neu.

Kann es sein, dass das Herumreiten auf den so oberlehrerhaften und/oder rechthaberischen Deutschen auch schon wieder irgendwie deutsch ist? Und: Was wäre denn so schlimm daran?

MMarheinecke - 10. Jun, 14:43

Dass die deutschen Journalisten inhaltlich zu "brav" seien, deutete ich ja auch an - es ist der "deutsche" Interviewstil, der m. E. aggressiv ist - der Inhalt ist in der Regel handzahm, vor allem, wenn Politiker interviewt werden. An BBC Fernsehinterviews - aber auch einigen amerikanischen - bewundere, wie der Interviewte perfekt höflich in die Enge getrieben wird.
Ich vermute, dass die "scharfe" From die eher bequemen Fragen kaschieren soll.

Aber zu den eigentliche interessanten Fragen:
Kann es sein, dass das Herumreiten auf den so oberlehrerhaften und/oder rechthaberischen Deutschen auch schon wieder irgendwie deutsch ist?
Ja, unbedingt! In selbstkritischer und selbstironischer Form ist das auch in Ordnung. (Das versuche ich ja auch.) Es gibt allerdings auch Deutsche, die sich mir Vorliebe über die Unarten anderer Deutscher beklagen - womit sie ungewollt die Klischees bestätigen, von denen sie sich abzugrenzen versuchen.

Ich erst von "Nichtdeutschen" darauf aufmerksam gemacht werden, dass diese deutsche Eigenart nicht nur Klischee ist, sondern vor allem Franzosen, Griechen und Briten ganz schön auf die Nerven gehen kann.
Der "deutsche" Mangel an Pragmatismus fiel mir ja auch erst im Vergleich zu Skandinaviern und US-Amerikaner - ich habe eine Zeitlang in einem US-amerikanischen Unternehmen gearbeitet - auf. (Karan, die einige Jahre in Südwest-England lebte, fällt das, diesen Eindruck habe ich, noch stärker auf.)
Und: Was wäre denn so schlimm daran?
Abgesehen vom manchmal peinlichen Auftritten deutscher Politiker: wirklich schlimm ist "deutsche Schulmeisterei" in ihrer milden Form nicht. (Schlimstenfalls mache ich mich als "Besserwisser" unbeliebt.)
Schlimmer erscheint mir die dahinter stehende Mentalität, sich selbst zu erhöhen, indem man andere klein macht, bzw. als Dummköpfe, Versagen, Schlamper, Betrüger, Faulenzer usw. usw. darstellt.
Ein übles Beispiel ist der Umgang deutscher Medien und deutscher Politiker mit Griechenland im Zuge der (ganz wesendlich durch deutsche Politik verursachte) Finanzkrise. ´Die Mischung aus Oberlehrerhaftigkeit, Selbsgerechtigkeit und schlimmen Vorurteilen ist wirklich widerlich!
Im Innereren wird dieses Schema auch gegen "Sozialschmarotzer" usw. eingesetzt.
Ich will nicht behaupten, dass das eine "deutsche Besonderheit" sei, die sich nur bei Deutschen (und evt. Österreichern) finden würde. (Schweden können z. B. auch ganz schön selbstgerecht sein.)
An einen "deutschen Nationalcharakter" glaube ich sowieso nicht. Es ist nur so, dass solche eingeschliffenen und selten wirklich hinterfragten Verhaltensweise nicht gut ankommen.
Gregor Keuschnig - 10. Jun, 15:02

Dass die Finanzkrise "ganz wesentlich" durch deutsche Politik mit verschuldet sein soll, spiegelt dann wieder so eine typische Eigenschaft: Die Bereitschaft, alles auf sich zu beziehen und andere als Opfer der eigenen Existenz zu bemuttern. Natürlich war der Umgang speziell der Springer-Medien mit Griechenland furchtbar. Ähnliche Affekte gibt es in anderen Ländern bei anderen Themen jedoch auch. Die britischen Boulevard-Zeitungen beispielswiese sind da zu nennen. Auch die Schweiz und Österreich haben einen mitunter ätzenden Boulevard. Natürlich ist ein Hinweis auf andere nicht hilfreich, aber in diesem Moment m. E. zulässig, um nicht vollständig in diesem Selbsthass unterzugehen.

Ich vermag auch keine aggressiven journalistischen Fragereien deutscher Journalisten erkennen - meistens sind simulieren sie nur Schärfe, sind aber oft genug dumm und - wieder so ein deutscher Vorwurf - populistisch, in dem sich Moderatoren/Journalisten an gewisse Publikumsschichten anbiedern. Die meisten Journalisten lassen sich dann mit Zahlen oder anderer Rabulistik abspeisen, weil sie oft genug nur oberflächliche Kenntnisse haben, die ihnen von Zuträgern aufbereitet wurden.

Interessant finde ich das Lob des Pragmatismus - das ist doch auch etwas, was von scheinbar progressiven Kräften "den Deutschen" vorgeworfen wird: zu brav, zu ausgleichend. "Konsenssoße" ist ein gängiges Beschreibungskriterium für den politischen Betrieb geworden. Das Wort "Kompromiß" wird inzwischen fast automatisch mit "faul" assoziiert. Gerade Blogger wittern stets Katastrophenszenarien, attestieren Ministern Stasi- oder Gestapo-Methoden, usw. Da wundern mich Konfrontationen bei Piratenpartei-Adepten gar nicht - man braucht oft genug nur deren Blogs, Foren oder Kommentare zu lesen. Glücklicherweise bilden diese Leute (noch) nicht das Zentrum der politischen Auseinandersetzung.
MMarheinecke - 10. Jun, 21:58

Wenn ich schreibe, dass die Finanzkrise ganz wesentlich durch (falsche) deutsche Politik mit verursacht sei, dann hat das nicht mit der "die Bereitschaft, alles auf sich zu beziehen und andere als Opfer der eigenen Existenz zu bemuttern " zu tun. Denn ich habe diese Fehler nicht gemacht.
Es ist genau so wie mit "unsere Verhältnisse" über die "wir" angeblich gelebt hätten.
Zumal der Hauptfehler, die sträfliche Vernachlässigung der Binnenkonjunktur, ja nun eher etwas mit "unter unseren Verhältnisse leben" zu tun hat. Jedenfalls für mehr als 2/3 der Bevölkerung.
Interessant finde ich das Lob des Pragmatismus - das ist doch auch etwas, was von scheinbar progressiven Kräften "den Deutschen" vorgeworfen wird: zu brav, zu ausgleichend
Du sagst es: scheinbar progressive Kräfte. Ich wünsche mir "die Deutschen" nicht unbedingt aggressiver, aber eine etwas engagiertere Haltung wäre manchmal gar nicht verkehrt. Aber zum Streit gehört, dass der Gegner nicht zum "Feind" wird, und ein fairer Kompromiss möglich sein muss.
Die politischen Katastrophenszenarien der Blogger sind übrigens meiner Ansicht nach auch eine Reaktion auf eine allzu angepasste und "Journalistendarstellern", die in der Tat Aggressivität und Kritik nur markieren, und sich, auch mangels Sachkunde, leicht "abfüttern" lassen.

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