Fasten und "7 Wochen ohne"?

Fasten kann sinnvoll sein.
Damit meine ich durchaus nicht das Heilfasten zu medizinischen Zwecken, sondern Fasten, um eine sprituelle Erfahrung, etwa im Zuge einer Visionssuche, zu machen. Fasten fördert die Wahrnehmung, schärft die Aufmerksamkeit.

In der traditionellen (katholischen) "Fastenzeit" vor Ostern wird tatsächlich nicht gefastet - das hielte auch niemand über sieben Wochen durch - sondern es wird der Genuss bestimmter "sündige" Nahrungsmittel, vor allem Fleisch, verboten. Es ist also streng genommen kein Fasten, sondern ein Entsagen, eine Zeit der Enthaltsamkeit. Das traf sich jahreszeitlich insofern gut, da früher der Spätwinter tatsächlich eine Zeit des Mangels war.
Vermutlich geht es bei dieser Zeit der Entsagung nicht um spirituelle Erfahrung, sondern um das Einhalten von Regeln, die "man" einzuhalten hat. Im Extremfall also um ein Unterwerfungsritual. Askese aus Angst vor Gott, aus Gehorsam vor der Obrigkeit, um dem Pfarrer zu gefallen und um sich nicht dem Gerede der Nachbarn auszusetzen. Oder einfach, weil "man" als guter Katholik eben fastet, ohne den Brauch irgendwie zu hinterfragen.
In der evangelischen Kirche gibt es hingegen keine festen Fastenregeln. Obwohl Martin Luther selbst fastete, war er gegen Fasten als Verpflichtung und lehnte die Vorstellung, Askese sei ein edles Werk, das einem dem Himmel näher brächte, ab.

Seit einige Jahren gibt es eine evangelische Fastenaktion, genannt "7 Wochen ohne". Eine Aktion, deren Sinn sich mir nie so recht entschließen mochte. Nun ja, ich bin böser Heide, also muss ich auch nicht immer verstehen, was so einen Christenmenschen an und umtreibt. Ich habe jedoch den Verdacht, dass es für viele, die an "7 Wochen ohne" teilnehmen, nicht ums Fasten, sondern eine zeitweilige demonstrative Verzichts-Aktion ginge. Etwa, um sich und anderen zu beweisen, dass man ganz gut ohne Fernsehen, Fleisch, Tabak, Süßigkeiten oder Alkohol auskäme. Ein klein wenig ist das vielleicht dann doch so wie bei den Katholiken - fasten nicht für einen selbst, sondern für das Ansehen unter seinesgleichen.
Dabei ist gegen bewusste Entsagung wenig zu sagen. Aber warum dann, zum Beispiel, sieben Wochen ohne Alkohol leben und dann wieder zechen? Wenn das Trinken zum Problem wird - was nicht gleich Alkoholismus sein muss - dann ist Alkoholverzicht auf Dauer angebracht. Es kann auch sinnvoll sein, auf Dauer weniger Alkohol zu trinken. Einsehbar ist es für mich auch, für einen bestimmten Zweck und ein Ziel zeitweilig keinen Alkohol zu trinken - im Falle der Spiritualität vielleicht, weil ich einen klaren Kopf brauche.

Von charismatischen Christen wird der "7 Wochen ohne"-Aktion manchmal vorgeworfen, es wäre "Fasten light" oder "Fast-Food-Spritualität". Obwohl ich mit charismatischen Christen wohl selten einer Meinung sein dürfte, in diesem Fall leuchtet mir das schon ein.
Auf der "7 Wochen Ohne"-Website heißt es dann ja auch:
Es ging den Fastenden allerdings mehr darum, einen persönlichen, spirituellen Mehrwert zu erreichen, als nur einige Wochen dem Konsum abzuschwören.
Nun ja, selbst ein Morgenspaziergang kann, entsprechende Offenheit vorausgesetzt, eine sprituelle Erfahrung sein. Aber die Vorstellung eines "spirituellen Mehrwertes" durch zeitweilige Alkohol-Abstinenz oder Fernsehverzicht erscheint mir trotzdem ziemlich dünn zu sein.
Hier geht es nicht so sehr darum, was man weglässt in den vierzig Tagen vor Ostern, es geht ums „Ohne“. Wenn wir Sie einladen, sieben Wochen auf etwas zu verzichten, dann nicht um besonders hart oder gar asketisch gegen sich selber vorzugehen.
Echtes Fasten geht nicht ohne eine gewisse "Härte gegen sich selbst", wobei die Grenze zur Selbstquälerei nicht überschritten werden sollte, weshalb es denn auch kaum länger als ein paar Tage dauern sollte.

Erst recht bizarr, wenn auch sicher gut gemeint, ist die diesjährige Fastenaktion. sieben Wochen ohne Scheu.
Die Fastenaktion »7 Wochen Ohne« im Jahr 2010 will Sie ermuntern zum Wagnis und zum Luxus leibhaftiger Nähe. Sie will Raum schaffen, Ihnen Worte und Bilder mit auf den Weg geben, für ein Streitgespräch, einen Krankenbesuch oder eine überfällige Liebeserklärung. Für alles, was nicht in eine SMS oder E-Mail passt. »Näher!«, lautet unser Lockruf, mit dem wir Sie einladen, Robinson’sche Einsamkeiten aufzugeben, Bündnisse auszuhandeln, Überraschungsbesuche zu machen, eingeschlafene Kontakte aufzuwecken und einander die Freundschaft zu erklären. Wagen Sie sich aus der Deckung und richtig nah dran, kosten Sie beides aus: die Gänsehaut des Genusses wie der Gefahr. Erkunden Sie die eigenen Grenzen wie auch die Ihrer Nächsten, ignorieren Sie sie nicht, aber prüfen Sie eine Verlegung: hin zu mehr Berührung, mehr Begegnung, mehr Zusammen.
Ich hoffe sehr, dass es in meiner Umgebung möglichst wenig Teilnehmer an dieser Aktion gibt. Und das nicht etwa aus pathologischer Kontaktscheu, oder weil ich ein ausgesprochener Einzelgänger wäre. Aber manchmal bin ich ganz gern allein. Es gibt einige Sorten Sozialkontakt, die ich als aufdringlich empfinde - und eine, die auch meine "Grenzen erkundet", gehört, fürchte ich, dazu.

Nehmen wir doch einfach einmal "7 Wochen ohne" beim Wort, wenn es auf das "Ohne" ankommt, und nicht auf die Askese.
Wie wäre es mit freiwillig "7 Wochen ohne Arbeit" - womit ich keinen Urlaub meine? Unfreiwillig machen das mehr Menschen, als ihnen lieb ist, diese Erfahrung, und nach meine Arbeitslosigkeitserfahrungen überschreiten sieben Woche den Zeitraum, in dem das "Zuhause sein" noch als ein durchaus angenehmes "frei haben" erlebt wird. Wer sich in dieser Situation nichts zu Tun verschafft, geht dabei meiner Ansicht nach vor die Hunde. Wobei die offiziell propagierte Einstellung, doch einfach die Arbeitssuche zum "Vollzeitjob" zu machen, bei längerer Dauer, etwa von der 50. Absage an aufwärts, auch nicht wirklich psychisch hilfreich ist.
Vor der Aktion "7 Wochen ohne Waschen" würde ich eher abraten, hingegen können "7 Wochen ohne Krawatte" angenehm sein. Bei der derzeitigen Witterung nicht unbedingt empfehlenswert wäre "7 Wochen ohne Socken". Im Sommer geht so eine Aktion ganz gut. Es kommt ja schließlich nur auf das "Ohne" an ...
alice hive (Gast) - 24. Apr, 14:43

7 Wochen ohne Socken...

...kann ich nur empfehlen. Mittlerweile auch unproblematisch: 7 Wochen ohne Schuhe.

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