Bergfest (oder Äquatortaufe)

Wir schreiben den 15. November 2009 - und ich habe über 30000 Wörter ( 31687 ganz genau, Stand 9:00 Uhr) meines Piratenromans mit dem Arbeitstitel "Brüder der Küste" geschrieben. Die Hälfte des Monats ist verstrichen, und die Hälfte des Schreibpensums von 50 000 Wörtern überschritt ich bereits am Donnerstag, dem 12. . Damit liege ich recht gut im Zeitrahmen - jedenfalls für einen "Feierabendschreiber".

Zeit, einige Gedanken darauf zu verwenden, was der kollektive Schreibwahnsinn aka NaNoWriMo so mit mir anstellt.

Die erste Beobachtung ist die nicht ganz überraschende, dass andere Interesse und Hobbies darunter leiden. Das ist unter anderem auch an diesem Blog ablesbar - ich komme kaum noch dazu, über etwas anderes zu bloggen als den NaNoWriMo. Dass ich dagegen praktisch gar nicht mehr fernsehe, stört mich übrigens nicht die Spur.
Zum Glück heißt das nicht, dass mich nichts in der Welt außer diesem Schreibwettbewerb interessiere würde. Das war meine heimliche Befürchtung vor dem November - ich kenne meinen Hang, mich total in irgend etwas zu versenken.
Die dritte Beobachtung ist die, dass mein Alltag erstaunlich wenig darunter leidet. Tatsächlich gibt das Schreibpensum, oder genauer, die Zeit, die ich fürs Schreiben reserviere, dem Tag zusätzlich zur Arbeit Struktur - und dank dieser Struktur bewältige ich den Alltag vielleicht sogar besser als in Zeiten der Arbeitslosigkeit. Auf die Dauer etwas viel Struktur, zugegeben, aber bis zum 30. halte ich noch durch.
Die "Chandler-Methode", nicht nach Tagespensum zu schreiben, sondern einfach Alltags zwei oder drei, am Wochenende sechs oder acht Stunden (hängt jeweils von der Tagesform ab) zu reservieren, hat sich für mich bisher bewährt. Würde ich mir ein Pensum vornehmen, bestünde die Gefahr, dass ich an Tagen, an denen es nur langsam vorangeht, bis spät in die Nacht schreibe. Der "Schreibrausch", in dem ich Lust habe, bis zum "Headcrash" (Kopf fällt vor Übermüdung auf die Tastatur) zu schreiben, tritt ja eher selten ein. Der "Schreibdurchfall" ist da etwas anderes, weniger Euphorisches, weniger Inspiriertes. Ich habe den Verdacht, dass der "Schreibdurchfall" dadurch zustande kam, dass ich auch "im Inneren" merkte, dass ich den "inneren Zensor" in den "Urlaub" geschickt habe. Dazu ein Haufen dahingekritzelter Notizen - und der "Zustand" war da.

Ansonsten sind meine Gedanken oft auch dann, wenn ich nicht schreibe irgendwie in der Karibik - was ja angenehm wäre, wenn es nicht die Karibik des Jahres 1672 wäre. Es weckt schon starke, und nicht unbedingt angenehme Gefühle, wenn ich zum Beispiel eine Sklavenauktion schildere.
(Wobei es vergleichbare Scheusslichkeiten ja noch heute gibt.)

Mein Charakter und meine Weltsicht gehen ungefiltert in den Roman ein. Was außer der schon früher von mir bemerkten Akzentverschiebung weg vom Abenteuergarn hin zum historischen
Roman bewirkt, dass "Brüder der Küste" sich zu einem deprimierenden historischen Roman entwickelt. Der andererseits nicht faktennah genug ist, um als "romanhafte Aufarbeitung eines blutigen Kapitels der Weltgeschichte", wie es so schön auf den Rückseiten- und Klappentexten heißt, durchgehen zu können.
Ich muss mich ab und an zur Kurskorrektur zwingen, damit der Roman zumindest ansatzweise der amüsante Abenteuerschmöker wird, als der er eigentlich geplant war. Dass er ein Schundroman, ein Buch, das die Welt nicht braucht, werden wird, war von vornherein eingeplant. NaNoWriMo ist eine sportliche Herausforderung, keine kulturelle.
Weshalb "nach Fertigstellung löschen" durchaus eine realistische Option ist. Ich sehe den NaNoWriMo als "Trainingseinheit" an, in der ich meine Fähigkeit, diszipliniert und unter Zeitdruck kreativ zu schreiben, verbessere. Der Roman ist für mich wichtig - und mir graust ein wenig vor der Möglichkeit, immer wieder auf den Schrott angesprochen zu werden, den ich da verbrochen hätte. Ein ehrgeiziger Autor, der ein Skript verwirft, ist nun mal angesehener, als einer, der seinen Schund auf Biegen und Brechen veröffentlicht. Oder anders gesagt: ich fürchte, meinen Ruf als Schreiber zu ruinieren.

Zum Roman selbst:
Ich erlebe, wie schwierig es ist, etwas "nicht" zu denken. ("Nicht an das rosa Krokodil denken".) Das heißt: mein Hauptcharakter, ein Schiffsarzt, sollte kein heroischer und kundiger Heiler im Stile Noah Gordons werden - und was wird er? So etwa wie "Der Medicus" oder "Der Schamane" zur See! Das ergibt sich aus einer gewissen Eigendymnamik des sich verselbständigen Klischees, gegen die anzusteuern Einiges an Energie erfordert. Damit aus Jan kein "Medicus" wird, müsste ich sozusagen "gegen den Strich" schreiben. Das ist offenbar schwieriger und auch zeitaufwendiger, als ich dachte.

Eine zweite Eigendynamik. Ich kürze nicht (wäre beim NaNoWriMo ja auch kontraproduktiv). Die Folge: unzählige Abschweifungen, Detailschilderungen, Nebenhandlungen. Von den geplanten 14 Kapiteln sind jetzt, zur "Halbzeit", gerade einmal vier fertig - aber jedes davon ist gut doppelt so lang wie geplant. Theoretisch müsste ich jetzt acht Kapitel fertig haben.

Hingegen sind die "Jugendschutz"-Probleme, die ich am Anfang hatte, keine Probleme mehr, seitdem ich meinen ernsthaft erwogenen Plan, den Roman zu veröffentlichen geknickt habe.

Also ist Jan am Anfang "Hurenarzt" in Port Royal und behandelt, so gut es mit den Mitteln seiner Zeit geht, Geschlechtskrankheiten, und beschert seinen Patienten dabei wohl oder übel Quecksilbervergiftungen. Außerdem nimmt er reihenweise Abtreibungen vor. Davon lebt er nicht schlecht, aber irgendwie hat er die Schnauze von diesem Berufsfeld voll.
Ein weiterer Protagonist ist ein - nach einem "Berufsunfall" - einbeiniger Pirat, der vorher als Stückmeister für die Kanonen der "Aphrodite", jetzt aber als Schiffskoch nur noch für die "Gulaschkanone" (die es übrigens 1672 noch nicht gab, bitte also als Metapher verstehen) zuständig war - ja, Long John Silver lässt schön grüßen. Der bisherige Wundarzt der "Aphrodite" ist ein elender Stümper - also ein typischer Vertreter sein Zunft - so jemand, der sozusagen Blutverlust mit Aderlass behandelt (Vorsicht: Metapher!) und Wunden absichtlich zum Eitern bringt, weil Wunden nun einmal eitern müssen. (Und so was kam in der frühneuzeitlichen Heilkunde wirklich vor!) Der jetzige Schiffskoch sieht sich nach einem guten Arzt um, der sich um den schmerzenden Stumpf seines mehr abgehackten als amputierten Beines kümmern soll. So kommt eines zum Anderen und Jan, genannt der "Doktor aus Friesland" (obwohl er keinen Doktortitel hat und strenggenommen kein Friese ist), wird Buccanier und "Bruder der Küste".
Soweit das Grundgerüst des 1. Kapitels.

Der bisher geschriebene "Rest" behandelt den Abschied von Jans Geliebter und seinen einheimischen Freunden (die nötige Portion Schmalz), die Versuch der Aphrodite-Crew, zusätzliche Leute anzuwerben: Methode 1 funktioniert nicht und zieht Kneipenschlägerei (muss sein, ist schließlich ein Piratenroman) und Ärger mit der Obrigkeit nach sich, Methode 2 funktioniert, würde aber, im Falle des Auffliegens, noch massiveren Ärger mit der Obrigkeit bedeuten, durchaus in Form eines Kriegsschiffes mit 40 Kanonen (darunter 18 24-Pfünder), das die "Aphrodite" (16 Kanonen, alles 6-Pfünder) mit einer gut liegenden Breitseite durchaus in den Treibholzzustand überführen könnte.
Dann kommt bisher noch ein klassischer Piratenangriff auf ein Handelsschiff vor - das für die Piraten (die nicht etwa die Jungs von der "Aphrodite" sind, sondern andere Freibeuter) etwas anders ausgeht, als erwartet. (Hätte ich noch eine Spur dicker aufgetragen, wäre das Ergebnis, zumindest für Asterix-Leser, durchaus zu erwarten gewesen.)
Das geplante Seegefecht habe ich erst mal abgesagt. Weil ich mich in die Mentalität eines Freibeuters hineinversetzte: "Wozu kämpfen, wenn man wirksam drohen kann?" Die Mär vom "grausamen, schrecklichen Piraten" geht ja tatsächlich teilweise auf die "psychologische Kriegsführung" von raffinierten Freibeutern wie "Blackbeard" zurück, der eher harmlos war, aber sehr beeindruckend aufzutreten verstand.
Im Moment arbeite ich an einem Hurrican und an einem Abstecher nach Tortuga. Und Jan hat einen Zahn gezogen, auch wenn das an sich eher der Job des Baders und Barbiers wäre. (Aber der Patient traut Jan in dieser Hinsicht mehr zu - stimmt auch, Jan nimmt eine Flachzange, direkt aus dem Werkzeugkasten, der Bader hätte einen Haken benutzt - wie er u. A.noch in einer Karrikatur von Wilhelm Busch aus dem 19. Jahrhundert abgebildet ist.)

Vielleicht wird der Schund also wenigstens unterhaltsamer Schund.
Karan (Gast) - 17. Nov, 21:33

Toll, daß Du so gut voran kommst! :-)
Und bitte bloß nicht nach Fertigstellung löschen! Mindestens drei Monate lang überhaupt nicht angucken und dann ganz in Ruhe überarbeiten. Du wirst staunen, wie viel davon brauchbar ist...

MMarheinecke - 17. Nov, 21:52

Soviel Geduld habe ich erfahrungsgemäß nicht. Anderer Erfahrungswert: alles, was bei mir länger als ein paar Wochen liegen bleibt, bleibt auf Dauer liegen. Siehe z. B. die versprochenen Hintergründe für die Nibelungen, siehe auch das Storyboard für ein "Piratin"-Video, dass ich mal machen wollte. Siehe auch einige angekündigte Beiträge für die Nornirs Ætt-Website.

Löschoption ist Hilfe gegen inneren Zensor: "Ich kann es ja immer noch ungeschrieben machen."

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