Politisches Weltbild "Grundschule"

Manchmal ist es rätselhaft, welches Weltmodell und welches Bild vom Mitmenschen hinter politischen Entscheidungen steht. Vor allem die Motive von Entscheidungen, die empfindlich in Bürgerrechte eingreifen, bleiben oft im Dunklen.

Für das Weltbild der deutschen Familienministerin Ursula von der Leyen scheint das nicht zu gelten: Sie offenbarte schon bisher in Interviews und Reden ein sozusagen pädagogisches Weltbild. Wobei sie, verglichen mit anderen "Volkserzieher", von einer vergleichsweise schlicht gestrickten Pädagogik ausgeht.

Dieser Eindruck wird durch Interview in der "Rheinischen Post" bestätigt, das auch dieser Meldung von heise online zugrunde liegt: Ursula von der Leyen fordert Verhaltenskodex fürs Internet.
Sehen Sie weitere Felder, wo Kinder und Jugendliche im Netz besser geschützt werden müssen?
von der Leyen: Ja, bei den sozialen Netzwerken im Internet, die Jugendliche gerne nutzen. Ich möchte gemeinsam mit den Verantwortlichen solcher Kommunikationsforen, aber auch mit der Kompetenz der Jugendlichen einen Verhaltenskodex entwickeln. Es geht um achtsamen und wachen Umgang miteinander. Minderjährige müssen beispielsweise wissen, dass sich Erwachsene mit üblen Absichten in ihre Chats einschleichen können. Sie können soziale Kompetenzen im virtuellen Miteinander ebenso erwerben wie im realen Leben. Mobbing im Netz kann nicht toleriert werden. Respektvoller Umgang muss in Chats, Blogs oder Foren so selbstverständlich sein, wie wir das auch im Schulalltag mit Streitschlichtern oder Vertrauenslehrern einfordern.
Wenn ich - und die Heise Redaktion - sie richtig verstehen, läuft das auf verbindliche Benimm-Regeln für das Internet heraus. Unklar ist, wie solche Regeln eingeführt, kontrolliert und durchgesetzt werden sollen. Denn freiwillige Regeln gibt es, z. B. in der Form der Netiquette schon längst.
Kleinere Unstimmigkeiten erledigt man erfahrungsgemäß am besten "unter sich". Für ernstere Probleme, wie Mobbing, oder gar Straftaten, gibt es bereits gesetzliche Regelungen, die selbstverständlich auch für das Internet gelten.
Für ungemein charakteristisch halte ich, dass ihr für Chats, Blogs (!) und Foren das sehr formalisierte Modell des Schulalltags vorschwebt.
Ein weiteres Problem ist, dass die meisten Chats, Blogs, Foren sich eben nicht speziell an Jugendliche wenden und schwerlich gewillt oder auch nur in der Lage sein werden, sich an auf Jugendliche zugeschnittene "Schulregeln" zu halten.
Soll es eine verbindliche Altersfreigabe für Webinhalte geben, in dem Sinne, dass Minderjährige nur auf speziell freigegebenen und den Regeln entsprechende Angebote Zugriff haben?
Das ist, denkt man den Ansatz zu Ende, die einzig logische Konsequenz!
Nebenbei: "Nettiquette" ist ja etwas, das von "unten" kommt, Basisdemokratie, etwas, wo staatliche Stellen gar nicht mitgeredet haben. Das Misstrauen gegenüber selbstorganisierte, nicht-autoritäre Regelungen ist nicht nur in der Politik, sondern auch in Verwaltungen und leider auch in den Medien sehr weit verbreitet: "Wo kommen wir denn dahin, wenn das jeder machen würde?"
Dass die Internet-Kompentenz eines durchschnittlichen Teenagers anscheinend größer ist, als die eines durchschnittlichen Bundesministers, verleiht solchen "top-down"-Regelungen, ungeachtet, dass eventuell "Verantwortliche" mit ins Boot genommen werden, eine besonders pikante Note.

Auch ihre zum x-ten Mal wiederholte Aussage:
Ich bleibe aber bei meiner Position, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist und die Freiheit der Massenkommunikation Grenzen hat, wo die Würde anderer Menschen verletzt wird. Bilder vergewaltigter Kinder im Internet können nicht toleriert werden.
macht meines Erachtens nur in einem pädagogischen Weltbild Sinn. Auch die Gegner der Netzsperren wollen ja keine Bilder vergewaltigter Kinder im Internet tolerieren und treten nicht von ungefähr für "Löschen statt sperren" ein. In einer pädagogischen Sicht, wie ich sie Frau von der Leyen und auch anderen Politikern unterstellen, ist das vorrangige Ziel, dass auf verbotene und gefährliche Inhalte nicht zugegriffen werden darf. Erst nach der Sperre und der Ermahnung "Kinderpornos sind ganz doll böse" kann man sich dann um Löschen und Strafverfolgung der Täter kümmern.
In der Grundschul-Pädagogik ist der Ansatz, gefährliche Dinge erst einmal wegzusperren, und den Kindern unmissverständlich klar zu machen, dass schon der Versuch, trotzdem an diese gefährlichen Sachen zu kommen, böse ist, ja durchaus sinnvoll.

Aus ihrer Forderung spricht die Vorstellung, das ganze Internetzdingens wäre eine Horde von ungezogenen Kindern - die durch die sich ebenfalls unbehelligt im "rechtsfreien Raum" tummelden Kriminellen gefährdet sind. Da muss doch die Lehrerin Politik energisch einschreiten! Und was offensichtlich ist: sie erwartet, mit dieser Ansicht den Nerv vieler von den Boulevardmedien in Angst und Schrecken versetzter potenzieller Wähler treffen zu können. Womit sie leider recht haben könnte.

Interessant finde ich auch, dass nicht nur Frau von der Leyen offensichtlich von einem erzieherischen Modell der Entstehung von Pädophilie ausgeht: sich von Kindern sexuell erregt fühlen, ist danach ein erlerntes Fehlverhalten. Anders sind die Befürchtungen nicht zu erklären, jemand ohne pädophile Neigungen, der zufällig auf Kinderpornographie stößt, würde sich nicht vor Ekel schütteln, sondern sozusagen "angefixt" werden. Es sei denn, man geht davon aus, dass ein großer Teil der Bevölkerung latent pädophil sei, und dass alle Pädophilen unweigerlich tickende Zeitbomben seien - jeder von ihnen ein Gefährder unschuldiger Kindern. Ein sehr pessimistisches, angstbestimmtes Menschenbild, dass eher zu Frau von der Leyens Ministerkollegen Dr. Wolfgang Schäuble passen würde.
Wirr-Licht - 23. Jul, 17:01

weisst du

toll wäre es doch, wenn man einen beitrag im netz erst mal an die FSK oder eine noch zu schaffende organisation schicken müsste (vielleicht könnten die jeweiligen kirchen und parteien offizielle vertreter benennen?)....

dunkelfeld (Gast) - 24. Jul, 13:48

einer mehr

und noch einweiterer beitrag im internet der vdl kritisiert. die masse machts oder wie? :)
ich kanns jeenfalls nicht mehr hören!

aber ich will was über den letzten abschnitt schreiben.
wieso findest du (ich hoffe das du entspricht der netiquette) das denn "nur" interessant? da stellt jemand theorien auf der aus sicht vieler in einer anderen welt lebt!
es wird nur diskutiert was sie sagt, nur über ihre argumente gesprochen, aber eigeninitiative: fehlanzeig!

google "girlloverforum" und frag dort doch mal wie die leute, die sich damit aus kennen es einschätzen oder frag nen anderen der ahnung vom letzten abschnitt hat, wenn du es wirklich soooo interessant findest!

schlimm, wenn blogger sich mit halbwahrheiten zufrieden geben!

MMarheinecke - 24. Jul, 16:21

Ich habe eine m. E. falsche Auffassung der Pädophile im letzten Abschnitt skizziert.

Der Vorwurf "die Masse machts" - bzw. die stete Wiederholung machts - geht doch eher an Frau von der Leyen. Klar, es wird allmählich langweilig und ich kann's auch nicht mehr hören - aber was können wir Blogger dafür, dass der guten Frau keine neuen Argumente einfallen? Einfach auf "stumm" schalten und wegsehen wäre genau das Falsche.
wieso findest du (ich hoffe das du entspricht der netiquette) das denn "nur" interessant? da stellt jemand theorien auf der aus sicht vieler in einer anderen welt lebt!
Interersssant bzw. bemerkenswert finde ich, dass nicht nur Frau von der Leyen, sondern auch ein großer Teil der veröffentlichten Meinung offensichtlich davon ausgehen, dass Pädophile so etwa wie eine "schlechte Angewohnheit" ist, die man "aufschnappen" könnte. (Eine Auffassung immerhin gegenüber der Vorstellung, es handle sich um unberechenbare Triebtäter, um "Sex-Monster" die man nur wegsperren könne, und zwar für immer, einen gewissen Fortschritt darstellt.) Mir ist schon klar, dass der Diskurs in der Psychiatrie und Sexualpsychologie und die gesellschaftliche Debatten sozusagen in zwei verschiedenen Welten stattfinden - und das ein großer Teil der Öffentlichkeit, einschließlich Politiker, die "Seelenklempner" für weltfremd, zu weichherzig, zu täterfixiert, fahrlässig - und vor allem: für zu optimistisch in ihrem Menschenbild halten.
In der Berichterstattung in den Medien wird die Bezeichnung Pädophilie oft nicht im sexualwissenschaftlichen Sinne verwendet, und auch seitens vieler Politiker werden einfach alle Täter, die Kinder sexuell missbrauchen, als Pädophile bezeichnet.

Neben halte ich die oft gestellt Frage "Veranlagung oder Prägung?" für zweitrangig. Jedenfalls, solange "Prägung" nicht mit "erlerntem Verhalten" oder "Sucht" gleichgesetzt wird. Um einen Menschen zu prägen, braucht man mehr als ein paar Bilder im Internet.


Eigenintiative: Hinsichtlich "mehr Fairness im Netz" und "mehr Medienkompetenz für Kinder" völlig angebracht! Da ist in der Tat für uns als Blogger / Website-Autoren, aber vor allem als Eltern, Erzieher und auch Journalisten, eine Menge zu tun.
Ich weiß, dass es "Girloverforen" - und auch "Boyloverforen" gibt, in denen sich Menschen, die sexuell an Minderjährigen interessiert sind, austauschen. So weltfremd bin ich nicht.
Ich gebe mich ungern mit Halbwahrheiten zufrieden, aber ich halte ich mich doch lieber an die Sexualwissenschaftler, als etwa Teilnehmer dieser Foren zu fragen. (Ich lese mich z. Z. in das Präferenzmodell der Berliner Charité ein, wenn auch eher im Kontext von Homo- und Bisexualität.)

Ich weiß auch, dass es wirklich Lurker gibt, die sich in den Foren und Chats für Kinder oder denen für Teenager herumtreiben, sich als Gleichaltrige ausgeben, und so "Kontakte" anbahnen. Ob der Gefahr begegnet wird oder nicht, hängt sehr von der Aufmerksamkeit der Moderatoren ab. Also ist wieder Eigeninitiative gefragt - die es ja bereits gibt.
Calculus (Gast) - 9. Nov, 20:35

Was tun gegen Triebtäter ?

Ich finde das Thema ist sehr komplex, und für mich ist es zuerst nachrangig warum jetzt jemand ein Kinderschänder ist. Ob es Prägung oder nicht. Wichtig ist zuerst der Schutz der Kinder und der Bevölkerung. Natürlich möchte ich keinen Überwachungsstaat wie Schäuble es will, aber irgendetwas sollte man tun, besonders wenn man in Betracht zieht dass es keine wirklich greifende Therapie für solche Täter gibt und das es sehr viele Wiederholungstäter gibt. Vielleicht wäre eine zentrale Datenbank wie in den USA auch bei uns nützlich.

MMarheinecke - 10. Nov, 10:20

Das bezweifele ich

Erst einmal, weil die meisten Sexualstraftäter "ganz normale" Menschen sind - bzw. "ganz normale Kriminelle". Nur eine Minderheit unter den "Pädophilen" sind auch "Pädokriminelle" - die meisten "Kinderschänder" (ein dummes Wort: dem Kind wird keine Schande angetan, sondern Gewalt - darum geht es immer wieder und wieder: sexualisierte Gewalt) sind nicht pädophil, und längst nicht alle Pädophilen werden zum Täter, geschweige Gewalttäter.

Auch bei "normaler Kriminaltät", z. B. Einbruchsdiebstählen, ist dem (potenziellen) Opfer egal, welche Motive ein Einbrecher hat. Will ich aber die Einbruchskriminalität wirksam bekämpfen, muss ich wissen, wie Einbrecher "arbeiten" (etwa, um die Wohnungen besser sichern zu können), ich muss auch wissen, wie die Täter "ticken", welche sozialen Strukturen die Einbruchskriminalität begünstigen, ob es organisierte Kriminalität bei diesen Delikten gibt, und wenn ja, in welchem Ausmaß, wer die Hehler für gestohle Güter sind usw. usw. . Was bedeutet: mit Überwachen und Strafen allein ist der Einbruchskriminalität kaum beizukommen.
(Und fatal ist es, wenn man ein von einem völlig falschen "Modell" der Einbruchskriminalität ausgeht - etwa der, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen einen "natürlichen Hang zum Stehlen" hätten, oder dass es eine Geheimorganisation gäbe, die alle Einbruchsdiebstähle organisieren würde.)

Wobei bei Einbrechern meines Wissens die Rückfallquote höher ist, als bei Sexualverbrechern. Und auch schwere Körperverletzungen und Morde - meistens "spontan", aus der Einbruchssituation heraus - sind bei Einbruchsdelikten nicht eben selten.

Weil die psychische Komponente, die Veranlagung (die nur in der seltensten Fällen ein alles beherrschender "Trieb" ist) bei vielen Sexualdelikten tatsächlich viel bedeutsamerr ist als etwa bei Einbrechern, ist es überhaupt (bei einsichtigen Tätern) möglich, mit Therapien etwas auszurichten.
Eine zentrale Datenbank oder gar (was es in den USA auch gibt) eine Art "öffentlicher Pranger" für Sexualstraftäter, die ihre Strafe abgesessen haben und hoffentlich eine Therapie gemacht haben, ist in den allermeisten Fällen meiner Ansicht nach kontraproduktiv: sie bietet potenziellen Opfern keine (oder nur eine trügerische Sicherheit), verhindern aber wirksam jede Form der Resozialisierung.

Was aber viel wichtiger ist: es ist möglich, dass Menschen mit entsprechender Veranlagung dennoch keine Täter werden.
Hier, bei der Vorbeugung im psychlogischen und sozialen Bereich, liegen die größten Chancen für Prävention.

Was die nicht-pädophilen Täter angeht (die wie oben geschrieben ja die Mehrheit der sexualisierten Gewalttaten gegen Kinder verüben), hilft das Modell "Schwarze Liste" erst recht nicht weiter.

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