"Antisemitismus? Nö, wir Deutsche doch nicht ... "

Ich gebe zu, ich habe bei “Hart aber fair” zum Thema "Gaza-Krieg" irgendwann genervt abgeschaltet.
Deshalb verweise ich besser auf Reinhard Mohrs schonungslose Besprechung auf "Spon": Gaza-Krieg bei Plasberg - Schlamassel mit der deutschen Schuld.

Das wirklich Peinliche ist nicht, dass in dieser Runde ein (Ex-)Politiker wie Norbert Blüm offensichtlich unreflektiert die Klischees des sekundären Antisemitismus bedient. Denn der "sekundäre Antisemitismus" ist das Produkt eines - allzu berechtigenten - schlechten Gewissens. Er speist sich aus Gefühlen der Scham und Abwehr von nachträglicher Mitverantwortung für nationalsozialistische Verbrechen, weshalb auch vom "Schuldabwehr-Antisemitismus" die Rede ist. Typisch für "sekundäre Antisemiten" ist Pauschalkritik am Staat Israel in Form von NS-Vergleichen. Wenn Blüm darauf hinweist, dass "wir Deutsche", gerade weil wir jene Verbrechen begangen haben, sozusagen verpflichtet seien, anprangern, wie die Palästinenser heute von Israel schikaniert, gequält und gedemütigt würden, dann ist ihm vielleicht gar nicht bewusst, dass er Israel und Nazideutschland gleichsetzt. (Ich schließe mich der Ansicht an, dass unsere Einzige "historische Pflicht" in dieser Sache die ist, zum Gaza-Konflikt vorsichtig zu sein oder die Klappe zu halten.)
Aber das ist halb so schlimm. Selbst Norbert Blüms völlig unsinniger Satz "Christen können keine Antisemiten sein!" ist nicht das Schlimmste.
Schlimmer sind die Reaktionen des Publikums, abzulesen z. B. an den Diskussionen im Spon-Forum. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Menschen, die sich offensichtlich selbst nicht als Antisemiten begreifen, sich eindeutig antisemitisch äußern. Vor allem Friedmann scheint, durch seine polarisierende, aber scharfsinnige Art, die Fassade manches heimlichen Judenhassers zerkratzt zu haben. Ich schätze Friedmans Art zu diskutieren nicht sonderlich, aber offensichtlich wirkt sie. Der offene Hass auf "die Juden" scheint in Deutschland sehr weit verbreitet zu sein. Gut, es gibt auch in anderen Ländern Europas Antisemitismus, oft sogar ausgeprägter als hierzulande. Und auch der Antisemitismus in Deutschland ist oft gewissermaßen "importiert", Sache der moslemischen Minderheit. Für den es aber ein "öffentliches Verständnis" gibt, das ich nicht nachvollziehen kann. Für Antisemitismus gibt es ebenso wenig eine Entschuldigung, wie für Rassismus. Reinhard Mohr bringt es auf den Punkt:
Der Verdacht liegt nahe, dass die Geysire des Unbewussten exakt zwischen "Tabu" und "Tabubruch" liegen, zwischen Schuldgefühlen und dem Drang, sie zu überwinden – dass es also doch untergründige Verbindungen zwischen Israel-Kritik und einem Antisemitismus gibt, der aus den Untiefen der Geschichte kommt und sich immer wieder neu auflädt.
Sehr empfehle ich in diesem Zusammenhang den Aufsatz: Karikaturen, Puppen und Plakate: Alter Judenhass in neuen Gewändern! Denn Israel und "die Juden" haben auch falsche Freunde - Antiislamisten zum Beispiel:
Bei Wiedenroth dürfte die Solidarität mit Israel nur vorgeschoben sein - in erster Linie zum Zwecke der Verächtlichmachung von Muslimen. Israel und die Juden sind nur willkommen, wenn man sie gegen den Islam verwenden kann.
Nachtrag für Leute mit guten Nerven: Die "Hart aber Fair"-Sendung auf der WDR-Website: http://www.wdr.de/themen/global/webmedia/webtv/getwebtv.phtml?p=4&b=215
Klaus Jarchow (Gast) - 22. Jan, 17:29

Für deutsche Bildungsbürger - und um solche handelt es sich dort im SpOn-Forum - gilt in dieser Angelegenheit noch immer Alfred Polgars böser Satz: "Die Deutschen sind inzwischen bereit, den Juden zu verzeihen, was sie ihnen angetan haben".

(der Satz ist aus dem Gedächtnis zitiert, Abweichungen beim Wortlaut sind möglich).

MMarheinecke - 22. Jan, 19:23

Man könnte auch den israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex zitieren:

"Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen."
(Womit er den sekundären Antisemitismus sarkastisch auf den Punkt bringt.)

Ob die Leute im SpOn-Forum "deutsche Bildungsbürger" sind, wage ich zu bezweifeln. (Ich bin schließlich auch kein Bildungsbürger, sondern ein Prolet, der irgendwie ein wenig Bildung aufgeschnappt hat. Damit will ich sagen: höherer Bildungsabschluss und Bildungsbürgertum sind nicht dasselbe.) Was aber nach mehreren demoskopischen Studien stimmt: je höher die formale Bildung ist, desto weniger Antisemiten sind unter den Befragten. Angesichts dieser Perspektive wird mir schlecht.

Nein, auch Norbert Blüm ist kein Antisemit. Jedenfalls würde eine simple Umfrage wohl kein antisemitisches Gedankengut zutage fördern.
Aber er denkt in den Bahnen des sekundären Antisemitismus, eines "Antisemitismus ohne Antisemiten". (Womit ich meine, dass sekundäre Antisemiten sich selbst nicht als Antisemiten verstehen und auch nicht durch besonderen Judenhass auffallen.) In der Diskussion identifizierte er Michel Friedman mit Israel, so als ob Friedman so etwas wie ein inoffizieller Botschafter Israels sei. Nun ist nicht jeder Jude Israeli (und nicht jeder Israeli Jude), und Friedman ist weder Israeli, noch Mitglied der israelischen Regierung noch verantwortlicher Offizier der israelischen Armee. Er ist deutscher Jude. Blüm verzichtet darauf, zu differenzieren. Und das ist das eigentliche Problem.
(Anders herum existiert dieses Problem auch: Thomas Assheuer setzte in der "Zeit" einen Aufruf zum Boykott von israelischen Waren mit einem in Aufruf zum Boykott "jüdischer Exportgüter", also einem Boykott von Juden, gleich. Auch wenn ich diesen Boykottaufruf, der unter anderem von Naomi Klein unterstützt wird, für grundfalsch und töricht halte - er ist gegen Israel, nicht gegen "die Juden" gerichtet.)
Köppnick - 22. Jan, 19:14

Das ist ein ganz schwieriges Thema, aber wenn man sich dagegen wendet, Israel und Nazideutschland gleichzusetzen, muss man zunächst mal die Argumente sammeln, worin sie sich unterscheiden und was die Gemeinsamkeiten sind, die zu diesem Vorwurf geführt haben. Das Argument, der Holocaust an den Juden im Dritten Reich wäre ein singuläres Ereignis gewesen, kann sich dabei zum Bumerang entwickeln, denn das hätte zwei Konsequenzen: Es erschwert eine rationale Erklärung der damaligen Vorgänge und es gibt all denjenigen eine Sonderstellung, die sich auf die eine (Deutsche) oder andere (Juden) Weise darauf beziehen. Der Großteil der heute Lebenden hat mit dem Holcaust nichts zu tun, weil er schlicht zu jung dafür ist. Es gibt keine Sippenhaft und keine Kollektivschuld, sondern nur individuelle Verantwortung für persönlich zu verantwortende Taten.

Ich habe den Eindruck, der Kampf auf diesem Sekundärschlachtfeld soll von der einfachen Frage ablenken, warum es rund um Israel seit 60 Jahren keinen Frieden gibt.

MMarheinecke - 22. Jan, 19:55

Auf diese einfache Frage gibt es leider keine einfache Antwort

Ich bin im Übrigen nicht der Ansicht, dass die Auseinandersetzung um den Antisemitismus ein Nebenkriegsschauplatz sei. Denn ohne den (tief in der christlich-abendländischen Kultur verwurzelten) Antisemitismus, vor allem ohne den deutschen "Rassenantisemitismus", der folgerichtig (aber aufhaltsam) in die Vernichtungsprogramme Nazideutschlands mündete, gäbe es keinen Zionismus. Und ohne antisemitische Klischees, Vorurteile und vor allem Verschwörungstheorien würde der "Nahostkonflikt" wohl in anderen Bahnen verlaufen.
Bezogen auf Deutschland: Es ist kein Zufall, dass der Gaza-Konflikt ein so viel heißeres Eisen ist, als viele andere, weitaus blutigere, Kriege und Krisen. Wie Reinhard Mohr richtig schrieb:
Weder über Afghanistan oder den Irak und schon gar nicht über Somalia oder Zimbabwe, wo wegen des schwarzen Diktators Robert Mugabe Tausende Menschen einen lautlosen Cholera- und Hungertod sterben, wäre man derart außer Rand und Band geraten.
Der Gaza-Konflikt ist eine "Baustelle" unter vielen. Aber der sekundäre Antisemitismus ist unsere "Baustelle". Zur Vergleichbarkeit: Israel handelt im Großen und Ganzen so, wie es jeder beliebige andere Staat (auch Deutschland) in einer vergleichbaren Situation täte: ein - zugegebenerweise sehr heftiger, vielleicht sehr unkluger - Militäreinsatz, bei dem leider auch unschuldige Zivilisten starben. Ein Krieg ist immer furchtbar, weil er Unschuldige trifft. Das ist, so schlimm es auch sein mag, nicht vergleichbar mit dem Vernichtungskrieg Nazideutschlands gegen die Völker Osteuropas und erst recht gegen den eiskalt geplanten und industriell durchgeführten Massenmord an den europäischen Juden. Schon gar nicht lässt es sich gleichsetzen.

Es ist nicht die Politik Israels, was immer man diesem Staat vorwerfen mag - (denn dass Israels Besatzungs- und Siedlungpolitik zu der Misere beiträgt, steht auf einem anderen Blatt) - die Palästinenser zu vernichten. (Hingegen sehr wohl ein Ziel der Hamas, Israel zu vernichten. Wenn es nach der Charta der Hamas geht, sogar das Judentum zu vernichten.)

Meine Parteinahme für Israel, gegen die Hamas (was nicht das gleiche ist wie gegen die Palästinenser), ist übrigens weder prosemitisch der prozionistisch motiviert. Israel genießt bei mir keine Sonderrechte. Aber die Rechte, die ich jedem souveränen Staat zubillige.
Es stimmt, 1948 wurden rund eine Dreiviertelmillion arabische Palästinenser vertrieben oder flüchteten; seither hausen ihre Nachkommen in den Lagern. Warum wurden sie nicht integriert? Man stelle sich vor, die "Heimatvertriebenen" aus dem heutige Westpolen und deren Kinder, Enkel, Urenkel würden heute noch irgendwo in Flüchtlingslagern leben. Um die Sicherheit und den Frieden im Mitteleuropa wäre es schlecht bestellt - und gute Beziehungen zwischen Deutschland und Polen wohl illusorisch.
Es wurden nach 1948 auch rund 700.000 bis 800.000 Juden aus der arabischen Welt vertrieben. Von denen redet aber niemand - wohl, weil sie einigermaßen integriert wurden.
Köppnick - 22. Jan, 21:43

Auf deine Frage, warum man einigen Konflikten mehr Aufmerksamkeit schenkt als anderen, eine Teilantwort (nur ein Aspekt unter vielen): Auseinandersetzungen, bei denen die Opferzahlen extrem ungleich verteilt sind, werden stärker thematisiert. Wir sind als Menschen ethisch/moralisch so gestrickt, dass wir das nicht als fair betrachten.

Beispiele sind Vietnam, Afghanistan, Irak und Palästina (Gaza). In allen diesen Fällen haben diejenigen, auf deren Territorien Krieg geführt wurde, hunderte Male so viele Tote zu beklagen als diejenigen, die dorthin gegangen sind und auf fremdem Boden Krieg geführt haben. Trotzdem oder wahrscheinlich sogar gerade deswegen können diese Kriege von den besser Bewaffneten niemals gewonnen werden.

Ich halte deine Aussage für falsch, dass sich Israel so verhält, wie sich jeder andere Staat an seiner Stelle verhalten würde. Ich möchte mich hier nicht mit dir streiten, aber ich würde darauf wetten, dass es seit Gründung Israels keine einzige Regierung dort gegeben hat, in der nicht nach westlichen Maßstäben Leute am Kabinettstisch saßen, die anderswo als Kriegsverbrecher gegolten hätten. Auch das jetzige Verhalten Israels ist absolut inakzeptabel. Man findet Kriegsverbrecher auf allen Hierarchieebenen, von der Regierung bis zu den Soldaten, gebilligt und unterstützt von der Mehrheit der Bevölkerung.

Die Weigerung der Hamas, das Existenzrecht Israels anzuerkennen, ist absolut nachvollziehbar. Das ist einfach die Lebenserfahrung der Palästinenser aus den vergangenen 60 Jahren. Wenn auf jeden getöteten Israeli 100 Araber kommen, zu welchem anderen Schluss sollen sie den sonst gelangen, als dass Israel die existenzielle Bedrohung Palästinas ist?
MMarheinecke - 22. Jan, 23:24

Ich vermute, so einfach ist es nicht

deshalb werde ich mich vor einfachen Antworten hüten. Mir fehlt das empirische Material darüber, um die Richtigkeit Deine Behauptungen zu überprüfen.
Ich könnte also - wie Du - nur mehr oder weniger plausible Vermutungen anstellen.

Da ich, wie ich merke, innerlich zu erregt bin, um ob Deiner Fragen zum Gaza-Konflikt vorsichtig zu sein, beherzige ich den zweiten Teil des Satzes und halte die Klappe.
distelfliege - 23. Jan, 02:12

>>>Die Weigerung der Hamas, das Existenzrecht Israels anzuerkennen, ist absolut nachvollziehbar. Das ist einfach die Lebenserfahrung der Palästinenser aus den vergangenen 60 Jahren.

Ich finde das absolut nicht nachvollziehbar.
Also, diese Selbstmordattentäter-Haltung "Israel ist scheisse, wir sind zwar militärisch viel schwächer, ist aber egal, Waffenstillstand nein danke, und wenn wir alle drauf gehen" verstehe ich nicht. Eine solche Haltung ist absolut verantwortungslos, der eigenen Bevölkerung gegenüber, wenn sie von einer Regierung kommt. Und die Hamas ist doch immer noch Regierungspartei? (bin nicht immer up to date).

>>Ich halte deine Aussage für falsch, dass sich Israel so verhält, wie sich jeder andere Staat an seiner Stelle verhalten würde.

Hm, also wie würde sich denn deiner Ansicht nach ein anderer Staat verhalten, wenn Raketenangriffe auf Städte und Dörfer dieses Staates stattfänden? Die Frage lässt du leider unbeantwortet und sagst statt dessen, daß du vermutest, daß in isrealischen Regierungen immer schon Kriegsverbrecher sassen und sitzen. Gut, wenn das so wäre - ist damit irgendwie geklärt, daß andere Staaten sich anders verhielten? Oder wolltest du sagen, daß andere STaaten "normal" reagieren würden, Israel aber "kriegsverbrecherisch"?

>>Wenn auf jeden getöteten Israeli 100 Araber kommen, zu welchem anderen Schluss sollen sie den sonst gelangen, als dass Israel die existenzielle Bedrohung Palästinas ist?

Wenn das so wäre, zum Beispiel zu dem Schluss, daß es blöd ist, Israelis zu töten und daß es vielleicht besser wäre, in zwei Staaten möglichst friedlich nebeneinander her zu leben? Is doch logisch.. ?

Ich bin ja auch üblicherweise in der Richtung gestrickt, dass diejenigen, die weniger starke Waffen haben, auch meist mein Mitgefühl haben, aber das ist eben meine "erste Reaktion" oder ein "spontanes Gefühl". Wenn man sich länger mit dem Thema befasst, relativiert sich das, bzw. es tritt in den Hintergrund. Und meine Meinung bilde ich dann nicht mehr aufgrund eines spontanen Soli-Gefühls mit den Schwächeren, sondern aufgrund der Informationen, die mich insgesamt erreichen.

Nur - die Meinung die ich mir dann so gebildet habe, die behalt ich dann auch meist lieber für mich, vielleicht ist es auch nicht das blödeste, zum Thema Israel vs. Palästina die Klappe zu halten. Denn leider befällt mich, je mehr ich mich darüber informiere, eine immer stärkere Ratlosigkeit.
Köppnick - 23. Jan, 16:58

@Distelfliege

Zur Klärung der Terminologie: "Nachvollziehbar" heißt nicht "billigen". Mir stellt sich nur die Frage, welche anderen Möglichkeiten die Hamas hat. Die Raketenangriffe hat die Hamas Ende letzten Jahres wieder aufgenommen, nachdem klar war, dass Israel seine gegebenen Zusagen bzgl. der Versorgung Gazas nicht einhalten würde und dass Israel sich nach wie vor weigert, mit den von einer Mehrheit der Palästinenser gewählten Hamas-Regierung zu verhandeln und die von Israel besetzten Gebiete Palästinas laut UNO-Aufteilung zurückzugeben.

[Sarkasmus ein] In einem allerdings kannst du recht haben: Dass auch andere westliche Staaten in derselben Situation ähnlich handeln würden. Ich stelle mir zum Beispiel vor, wie Deutschland um Polen eine Mauer baut und jeglichen Verkehr von und nach Polen kontrolliert, nachdem von polnischem Territorium Raketen in Richtung Deutschlands abgefeuert wurden, mit denen gegen die 60jährige Besetzung eines großen Teiles des polnischen Territoriums protestiert wurde. Und wie unbemannte deutsche Drohnen über der polnischen Hauptstadt kreisen, um auf Mitglieder der polnischen Regierung Bomben abzuwerfen. Wobei diese Methode von der Mehrheit des deutschen Volkes gebilligt wird und tote Zivilisten als unvermeidlich akzeptiert werden. [Sarkasmus aus]

Ich hatte beruflich schon mit Iranern und mit Israelis zu tun, Professoren, Wissenschaftlern und Ingenieuren. Im persönlichen und fachlichen Umgang sind beide Parteien sehr angenehm. Nur man vermeidet tunlichst das Gespräch über den arabisch-israelischen Konflikt. Und ich kenne auch jeweils einen Deutschen, der längere Zeit in Israel bzw. in Ägypten gearbeitet hat. Nach deren Rückkehr hatte ich das Gefühl, dass beide einer Art Gehirnwäsche unterzogen worden sind. Ich glaube, es war ein großer Fehler der UNO, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Gründung des Staates Israel zuzustimmen. Drastisch gesprochen, haben die europäischen Staaten ihr Problem des Antisemitismus in den Nahen Osten abgeschoben und den Arabern aufgebürdet.
distelfliege - 23. Jan, 17:22

@Köppnick:

Was mich halt traurig macht, ist dieser Satz von dir "es war ein großer Fehler, der Gründung des Staates Israel zuzustimmen".
Diese Art von Diskussion, nämlich das Suchen des Schuldigen, läuft letztendlich immer drauf raus daß irgendwer sagt "hätt man das halt gar nicht erst gemacht, dat die da unten in einer Region aufeinander hocken".
Damit ist erstens niemandem gedient und zweitens ist das doch total rückwärtsgewandt. Meinst du, davon kann sich in Palästina irgendwer etwas von kaufen, daß du sagst, "hätt man gar net erst machen solln, das mit Israel damals"?

Meine Meinung ist auch, klares NEIN zu weiteren israelischen Siedlungen in z.b. der Westbank, aber: Nach einem bis einem halben Jahrhundert bzw. nach 60 Jahren Israel ist es langsam wirklich Zeit zur Kenntnis zu nehmen, daß man die paar Millionen Leute schlecht wieder rauswerfen kann und daß die da nu auch ein gewisses Gewohnheitsrecht haben. (Frei nach Otto Waalkes: Ich geh da, ich wohn da, ich heiz da - Geh-Wohn-Heiz-Recht). Und wer soll dieses Gewohnheitsrecht garantieren - ausser dem israelischen Staat?
Martin schrieb: "Es wurden nach 1948 auch rund 700.000 bis 800.000 Juden aus der arabischen Welt vertrieben."
Siehste, denen hat scheinbar genau sowas gefehlt wie ein Staat, der deren Gewohnheitsrecht schützt.

Zum "Nachvollziehbar": Wenns da lang geht, kann ich auch Vieles nachvollziehen, auch den Mauerbau seitens Israel z.b.
Aber deine Schreibe tendierte mir zu sehr in einen solchen Tonfall: "Die Reaktion auf Krieg? Klar, noch mehr Krieg, was sonst - ist doch absolut nachvollziehbar."
Das ist sehr... "Visionär" von dir... ne, also das ist doch total fantasielos.
Köppnick - 23. Jan, 17:31

@Distelfliege

Das kann ich alles unterschreiben. Ich glaube, ein großer Teil der Emotionalität der ganzen Diskussion ist der Tatsache geschuldet, dass Außenstehende überhaupt nichts machen können. Beide Parteien ignorieren Hilfsangebote von außen bzw. nehmen sie nur zur Kenntnis, wenn sie der eigenen Seite nützen. Die Fantasielosigkeit kommt eher von innen, aus den beiden Staaten, man kann sich schlicht nicht vorstellen, Kompromisse zu schließen.
MMarheinecke - 23. Jan, 18:17

Mit Deinem Sarkasmus hast Du gar nicht so unrecht, Köppnick

Dieses Szenario könnte ich mir durchaus vorstellen - wenn z. B. eine nationalistisch-revanchistische Regierung (die dringend auf die Stimmen der Berufsvertriebenen angewiesen wäre) in Deutschland an die Macht gekommen wäre:
Ich stelle mir zum Beispiel vor, wie Deutschland um Polen eine Mauer baut und jeglichen Verkehr von und nach Polen kontrolliert, nachdem von polnischem Territorium Raketen in Richtung Deutschlands abgefeuert wurden, mit denen gegen die 60jährige Besetzung eines großen Teiles des polnischen Territoriums protestiert wurde.
Was Du da beschreibst, ist in groben Zügen ein Alptraum, den viele Polen noch heute träumen - weil sie wissen, dass unter Umständen die Deutschen genau so handeln würden - das einzige, dass nicht stimmt, wäre die Besetzung polnischen Territoriums. (Anderes Szenario: was wäre, wenn die "Heimatvertriebenen" nicht (wenn auch manchmal widerwillig) in ihren neuen Heimat integriert worden wären, sondern immer noch in Lagern/ Ghettos leben würden. Dann könnte ich mir ohne Weiteres Terroristen hinterpommerscher oder oberschlesischer "Landsmannschaft" vorstellen, die Raketen auf Polen abfeuern ... Polen würde ich unter diesen Umständen das moralische Recht zu militärischen Aktionen gegen Deutschland zubilligen.

Zu distelfliege: Sie hat Recht, eines der Hauptprobleme, sowohl im Gaza-Konflikt, wie in der Antisemitismus-Debatte bei uns, ist die leidige Suche nach dem Schuldigen, bzw. die eifrige Schuldabwehr.
Wichtiger ist es, nach tragfähigen Problemlösungen zu suchen - und auch, nach problematischen gesellschaftlichen Strukturen Ausschau zu halten. Von den heuten lebenden Deutschen ist kaum noch einer in irgend einer Form "Schuld" an der Shoa. Aber viele Strukturen, die dieses Verbrechen ermöglicht haben, existieren nach wie vor (oder wie Brecht es formulierte: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch").
distelfliege - 23. Jan, 19:38

@Köppnick:

Du hast recht, sehr fantasievoll ist das nicht, was da beide Seiten aufführen. *seufzel*
Gregor Keuschnig - 23. Jan, 10:18

Vorab: Ich habe die Fernsehsendung nicht gesehen, da mir das Personal von vornherein ungeeignet schien.

Meine Erfahrung in den letzten Jahren geht dahin, dass uns Begriffe wie "sekundärer Antisemitismus" nicht einen Schritt weiter bringen. Antisemitismus dient sehr häufig (nicht immer!) als Mechanismus, den Diskurs zu beenden und den Diskussionspartner zu desavouieren. Das ist sehr praktisch und entbindet von der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Diskussionspartner (seien die "Argumente" auch noch so abstrus). Genau, wie es sehr einfach ist, die Hamas als Gesprächspartner a priori abzulehnen (mit ähnlichen Mustern war man in den 70er Jahren in Bezug auf die PLO "unterwegs").

Dass unsere Einzige "historische Pflicht" in dieser Sache sein soll, zum Gaza-Konflikt vorsichtig zu sein oder die Klappe zu halten kann und sollte übrigens für alle anderen Thematiken auch gelten (sie ist bspw. in schrecklichem Maße während der Jugoslawienkriege versäumt worden). Warum dies ausgerechnet in diesem Bereich zur historischen Pflicht erklärt wird, leuchtet mir nicht ein, wenn auf der anderen Seite unser "Bildungsnotstand" und die Writschaftskrise ausgiebig mit B-Promis, die rein gar keine Ahnung haben, sondern nur eine "Meinung" in ähnlichen Talkshows diskutiert wird.

Israel hat sich mit diesem Krieg in mehrfacher Hinsicht einen Bärendienst erwiesen. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg müsste man wissen, dass diese Art von Luftkrieg die Bevölkerung nur noch stärker hinter Despoten zusammenhält. Wobei sich die Bevölkerung in diesem Fall die Despoten selber, in demokratischen Wahlen, gewählt hat. Da einem jedoch dieses Regime (aus vielleicht nachvollziehbaren Gründen) nicht passt, hat man es wie einen Aussätzigen behandelt (und die Bevölkerung gleich mit dazu), statt mit kluger Diplomatie indirekt einen Dialog zu versuchen (kann natürlich sein, dass wir nicht wissen, ob das gescheitert ist).

Jegliche Kritik an dieser Art von Politik mit Scheinrubrizierungen abzuwürgen, ist letztlich Wasser auf die Mühlen derjenigen, die u. a. auch bei twoday EINDEUTIG antisemitische und rassistische Blogs betreiben (ohne dass man von Seiten twoday einschreitet).

Die "Antisemitismus-Hellseherei" (Peter Sloterdijk in anderem Zusammenhang), die in jeder israel-kritischen Äusserung einen rassistischen Hintergrund impliziert, ist nicht nur unproduktiv, sondern auch un-intellektuell.

Klaus Jarchow (Gast) - 23. Jan, 10:51

Lesenswerter Artikel heute in der taz zum Thema: Antisemitismus von links

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