Leider immer wieder ein Thema: Antisemitismus

Es ist ein bezeichnender Vorfall, nicht untypisch für die deutsche Provinz, der nicht als "Provinzposse" verharmlost werden sollte:
Im niedersächsischen Bad Nenndorf versammelten sich - wie in vielen anderen Städten - am Sonntag, dem 9. November zahlreiche Menschen zum Gedenken an die Millionen Opfer des nazideutschen industriell betriebenen Massenmords und an die Pogromnacht vor 70 Jahren. Doch in Bad Nenndorf, wo Neonazis Jahr für Jahr aufmarschieren, sorgte der Stadtdirektor nicht zum ersten Mal für einen Eklat: Er ließ die jüdische Gemeinde nicht zu Wort kommen.
Bad Nenndorf erteilt Juden Redeverbot

Der Grund, weshalb Samtgemeindebürgermeister Bernd Reese den Eklat riskierte, liegt vermutlich darin, dass er unangenehme Aussagen seitens der jüdischen Gemeinde fürchtete. Wie anderswo werden die Themen "Rechtsextremismus" und "Antisemitismus" gerne mit Rücksicht auf das gute Image des Kurortes unter den Teppich gekehrt.
Die Sprecherin der jüdischen Gemeinde, Marina Jalowaja, hätte z. B. gesagt: "Bei allem Vertrauen in die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung Deutschlands gab und gibt es jedoch immer wieder Anlass zur Sorge. Hier wie im übrigen Europa ist der Antisemitismus nach wie vor virulent." Worte wie diese passten Bürgermeister Reese anscheinend nicht. Da werden dann fadenscheinige Ausreden bemüht, etwa die, dass am Volkstrauertag ja auch nicht die politischen Parteien zu Wort kämen, damit ja niemand auf die Stellen zeigen könnte, wo sich der Teppich verdächtigt wölbt

Es gibt in Deutschland nicht mehr - aber auch nicht weniger - Antisemiten als in den Nachbarländern. Das Problem liegt m. E. weniger darin, dass es eine kleine Schar hartnäckiger Judenhasser gibt. Problematischer sind die weit verbreitete Haltungen, aus denen heraus Antisemitismus geduldet oder teilweise bejaht werden. Im der Studie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)", die von Prof. Wilhelm Heitmeyer (Universität Bielefeld) geleitet wird, stimmten im Jahr 2005 21 % der Befragten der klassischen antisemitischen Aussage: "Juden haben zu viel Einfluss" eher oder voll und ganz zu , 13 % waren der Ansicht, "durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig".

Man kann uns Deutschen sicher nicht vorwerfen, wir hätten uns mit den Nazi-Verbrechen nicht auseinandergesetzt. Dass trotzdem Geschichtsvergessenheit droht, hat mehrere Ursachen: z. B. sinnentleerte Betroffenheitsrituale, die in kalendarischer Reihenfolge abgefeiert werden, aber auch eine Beschwörung der Vergangenheit, um dabei die Gegenwart leugnen. Auch wird die Geschichte zu oft "falsch herum" berichtet: über die Tat selbst wird berichtet, auch über die Täter, aber die "Opfer" aufs "Opfersein" reduziert. So erfahren z. B. Schüler nur, dass der "Holocaust" furchtbar war, aber sie bekommen offensichtlich kaum mit, dass es sich überhaupt um Menschen gehandelt hat.
Übrigens sind auch abwegigen Vergleiche mit der Judenverfolgung, egal, ob man sich selbst als "Opfer" stilisiert oder einem Vorwurf mittels "Antisemitismuskeule" Nachdruck verleiht, Geschichtsvergessenheit. (Schon das Wort "Antisemitismuskeule" ist im Grunde geschichtsvergessen - aber so wird wenigstens klar, worum es geht.)

Woher kommt der moderne Antisemitismus?

Da schließe ich mich dem Soziologen Detlev Claussen an. Claussen bezeichnet den Antisemitismus als Alltagsreligion, als falsche Erklärung für etwas, was man täglich erlebt. Typisch für die Moderne sind indirekt, über den Markt vermittelte Beziehungen, und über den Markt vermittelte Herrschaft. Im Unterschied zur direkten personalen Herrschaft und Ausbeutung etwa durch einen Feudalherrn (oder einen allmächtigen Diktator) ist diese vermittelte Herrschaft unanschaulich. Deshalb werden diese unpersönlichen Herrschaftsverhältnisse im Alltagsverständnis personalisiert (z. B. als böser Bankier). Diese schon verzerrte Wahrnehmung wird dann noch einmal verzerrt, indem im nächsten Schritt "die Juden" verantwortlich gemacht werden.
Im modernen Antisemitismus (etwa ab Ende des 19. Jahrhunderts) wird die rasche Entwicklung des industriellen Kapitalismus durch den Juden personifiziert und mit ihm identifiziert. Dabei werden Juden für (schwer durchschaubare) ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der Industrialisierung und der Globalisierung einhergehen.
August Bebel nannte den "antikapitalistisch" daher kommenden Antisemitismus den "Sozialismus der dummen Kerle". Das ist zwar nach wie vor richtig, aber der Antisemitismus der "klugen Kerle" dürfte gefährlicher sein, denn jene Formen des "Antikapitalistismus", die in falschen Gegensätze wie dem zwischen industriellem und Finanzkapital, schaffendes versus raffendes Kapital denken, sind leider nicht auf Dumpfnazis beschränkt. An solche Vorstellungen können antisemitische Denkschemata andocken, in denen die Gestalt "des Juden" die Personifikation der unfassbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft "des Kapitals" ist.
Das dürfte der wichtigste Grund sein, wieso 21 % der befragten Deutschen der klassischen antisemitischen Aussage: "Juden haben zu viel Einfluss" zustimmen - auch wenn sie "persönlich gar nichts gegen Juden haben".

Bis vor Kurzem...

...hätte ich auch nicht geglaubt, wie verbreitet übelste, antisemitische Stereotype noch sind. Aber dann musste ich miterleben, was für Ausdrücke in einem Forum vermeintlich rationaler, aufgeklärter Deutschsprachiger auch heute noch unwidersprochen möglich sind - und von "befreundeten" Usern dann auch noch bedenkenlos verteidgt werden...

Siehe hier:
http://religionswissenschaft.twoday.net/stories/5322161/

fritte (Gast) - 23. Nov, 16:02

[quote]
Es ist ein bezeichnender Vorfall, nicht untypisch für die deutsche Provinz, der nicht als "Provinzposse" verharmlost werden sollte:
[/quote]

Welcher Vorfall?

Wer nach Bad Nenndorf und Redeverbot sucht, findet immer die gleichen Beiträge. Was er leider nicht findet, ist die Gegendarstellung in der örtlichen Presse.

Möglicherweise hat es den Vorfall nie gegeben?

MMarheinecke - 23. Nov, 18:52

Wahrscheinlich ist der Vorgang nicht durch die örtliche Presse gegangen - zumindest nicht "online". Den Vorfall in Bad Nenndorf habe ich ja auch nur deshalb aufgegriffen, weil er gerade aktuell war. Ich kenne z. B. aus Bocholt (wo die Lokalpresse meines Erachtens besonders "rechtsblind" ist), oder z. B. auch aus Hamburg (nicht ganz Provinz, aber manchmal sehr provinziell, was den Umgang mit unangenehmen Tatsachen angeht) ganz ähnliche Geschichten - die dann nur auch in den "Alternativmedien" auftauchen.

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https://martinm.twoday.net/stories/5315624/modTrackback

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