Broder über "60 Jahre Progromnacht" - wo er recht hat, hat er recht

Meine Wertschätzung für Henryk M.Broder nahm zwar in den letzten Jahren deutlich ab, aber wenn es um das Thema "Antisemitismus in Deutschland" geht, schätze ich ihn als nach wie vor ein ebenso scharfsinnigen wie scharfzüngigen Analysten.

Morgen jähren sich zum 70. Mal die Novemberpogrome der Nazis von 1938. Wozu Broder Einiges zu sagen hat - im Gegensatz zu vielen phrasendreschenden Gedenktagsabhakern. Broder kritisiert "Soße der Betroffenheit" (D-Radio Kultur).
Broder fordert, auf Betroffenheitsrituale, die wie Kammermusikveranstaltungen in kalendarischer Reihenfolge abgefeiert werden, zu verzichten.
(...) Und ich finde es im Prinzip auch gut, dass die Vergangenheit langsam in der Vergangenheit versinkt. Und es stimmt nicht, dass die Deutschen mit der Vergangenheit nicht klarkommen. Sie kommen mit der Vergangenheit sehr gut klar. Womit sie nicht klarkommen, ist die Gegenwart. Und das betrübt mich immer mehr. Es gibt, wenn Sie sich angucken, was heute passiert, Dafur, im Kongo fängt wieder der alte Völkermord an, der nie zu Ende war. Das beansprucht einen Hauch der Aufmerksamkeit, den wir auf die Vergangenheit richten. Und diese Besessenheit in der Vergangenheit hat, glaube ich, inzwischen Alibicharakter. Und es kommt auch daher, dass in der Tat so gut wie alle Täter ausgestorben sind. Man kann keinem mehr wehtun.
Broder meint, man könnte, z. B. im Geschichtsunterricht, vielleicht einfach faktisch-historisch berichten, ohne die "Soße der Betroffenheit", die über diese Geschichte ausgebreitet würde, denn die Leute seien nicht wirklich betroffen.
Sie wären nicht wirklich betroffen, sonst würden sie sich nicht dermaßen in die Vergangenheit stürzen und dabei die Gegenwart leugnen. Es ist laut Broder ein Skandal, dass heute die Existenz Israels zur Disposition stünde.
Sie steht zwar in Deutschland meines Erachtens nicht ernsthaft zur Disposition; ich beobachte aber auch, dass viele Bekenntnisse zum Existenzrecht Israels sich sehr nach Lippenbekenntnis anhören - oder, bei "Antizionisten", nach Heuchelei. In dieser Beziehung sind mir die Antisemiten in der NPD und noch weiter rechtsaußen beinahe lieber - bei ihnen besteht wenigstens kein Zweifel an ihrem Hass auf alles Jüdische und das, was sie dafür halten.

Broder meint, wir seien sozusagen dabei, die Machtübernahme von '33 heute zu verhindern. Ihn wundert und empört, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit so einflusslos und folgenlos für die Beschäftigung mit der Gegenwart bliebe.
Wenn zum Beispiel in Köln ein paar Tausend Demonstranten den Aufmarsch von ein, zwei Dutzend Rechten verhindern, dann hat man wirklich den Eindruck, die Leute holen etwas nach, was die Eltern und Großeltern 33, 38 versäumt haben. Und das sind nur noch Aktionen, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, ein retrospektiv gutes Gewissen.
Ich halte die Aktion gegen die Antiislamisten von "Pro Köln" für insofern gelungen halte, als das sie sich in der wirklichen, heutigen Welt mit Rechtsextremisten, die überwiegend keine Neonazis sind, auseinandersetzte. Allerdings gebe ich Broder insofern recht, dass die Frage der "historische Schuld" und der Gewissensentlastung eine nicht unwichtige Rolle bei dieser Protestaktion spielten. Als Deutscher hat "man" die "historische Pflicht" gefälligst tolerant gegenüber anderen Religionen und Kulturen zu sein. Allerdings ist "Toleranz" aus Gehorsam und schlechtem Gewissen keine wirkliche Toleranz - und, wenn es hart auf hart kommt, keinen Schuss Pulver wer.

Bei vielen anderen "Aktionen gegen Nazis" fehlt die realweltliche Auseinandersetzung mit heutigem Rassismus und Antisemitismus, heutigen Gefahren für Rechtsstaat und Demokratie, und meist sogar mit heutigen Nazis. Sie sind reine "Moraltheologie", mit dem einzigen Sinn und Zweck, symbolisch "ein Zeichen zu setzen" - eben eines, dass man nicht mit den deutschen Nazis von 1933 - 1945 identisch ist und dass man der Pflicht, Nazis von Herzen zu verabscheuen, nachkommt. Wobei regelmäßig vergessen oder verdrängt wird, dass "Rechtsextreme" streng genommen keine "Extremisten am rechten Rand" der Gesellschaft sind, also irgendwie böse Exoten, sondern das der "Rechtextremismus" ein Extremismus der Mitte ist, und das junge Schlägernazis nicht selten genau das in die Tat umsetzen, was sie tagtäglich am Küchentisch, am Kantinentisch oder am Kneipentisch von "ganz normalen" Menschen zu hören bekommen.

Von daher ist es kein Wunder, dass der "Kampf gegen rechts" gescheitert ist. Kein Wunder, da er vor allem aus heiße Luft und besorgte Attitüde, flankiert durch die dazu passenden hysterischen Berichte, besteht. Und aus Verbots- und Kontrollforderungen, die ab und an auch tatsächlich umgesetzt werden. Ohne dass es die realen Nazis sonderlich jucken würde. Hingegen gefährden Verbote, Überwachungsmaßnahmen und "hartes Durchgreifen" (nicht mit "Null Toleranz" zu verwechseln) genau die Demokratie, die angeblich dadurch geschützt werden soll.
Gregor Keuschnig - 9. Nov, 11:03

Naja, Broders Argumentation ist tückisch: Einerseits will er mehr "Normalität", ergreift Partei für Eva Herman (wenns um den NS-Vergleich geht), andererseits ist er der erste, der den Bleistift spitzt.

Das erklärt sein Islam-Bashing und seine Nibelungentreue zum Irakkrieg. Was er den Linken vorwirft ist letztlich der Affekt, der im Zweifel nur Affekt bleibt, aber nicht mit Überzeugung unterfüttert ist. Diese These trifft zweifellos auf einen Teil zu, ist aber letztlich auf dem Stand der 80er Jahre (allenfalls Anfang 90er).

Wenn er pauschalisierend meint, das Existenzrecht Israels sei nei der Linken nur ein "Lippenbekenntnis" und jegliche Kritik an der israelischen Politik bereits als Affront begreift, dann begibt er sich genau auf der Ebene, die er eigentlich verlassen will. Und dabei greift er flugs immer wieder in die Vergleichsschatulle zur NS-Zeit - das, was er anderen vorwirft.

Broder ist eine Medienfigur; kein Journalist im klassischen Sinn.

MMarheinecke - 9. Nov, 20:42

Broder ist höchst widersprüchlich - und merkt es leider offensichtlich nicht.

Weshalb ich hinsichtlich seiner öffentlichen Aussagen "Rosinenpickerei" betreibe - was ich sonst bei politische Publizisten tunlichst vermeide. Broder ist unter den politischen Publizisten in etwa das, was Nietzsche in der Philosophie ist: "Es gibt zu fast jeden Satz Nietzsches bei ihm auch die entgegengesetzte Behauptung." (Das bezieht sich nur die Widersprüchlichkeit, nicht etwa auf die politischen Positionen: Nietzsche war Antidemokrat. Jedenfalls meistens ... )

Die Formulierung mit dem "Lippenbekenntnis" habe ich eingefügt, auch wenn ich, anders als offensichtlich Broder, Kritik an der israelischen Politik nicht als Affront begreife. Der "Linken" (im Sinne der politischen Parte) kann man das pauschal nicht vorwerfen, Aussagen zum Thema Israel, die so klar und "anti-antisemitisch" sind wie die Gysis oder Paus vermisse ich bei vielen Politikern der "großen" "Volks-"Parteien. "Der Linken", im Sinne einer politischen Richtung, sowieso nicht. Ich rechne es Broder als Verdienst an, dass er in den 80er Jahren den Antisemitismus der Linken entlarvt hat. Leider verbiss er sich in den Folgejahren bei Spätstalinisten und "Anti-Imperialisten", die in der Tat antisemitisch sind. Ich gebe Dir recht: er argumentiert tendenziell so wie ein "Antideutscher" der 90er Jahre.

Broder hat meiner Ansicht nach manchmal Recht und Unrecht zugleich: es stimmt, ein säkularer Staat in "ganz Palästina", eine Idee, die nicht nur in der deutschen Linken (und auch der "Linken") ernsthaft diskutiert wird, ist mit dem Existenzrecht Israels - einem Staat, der als sichere Zuflucht für Juden gedacht ist - nicht vereinbar. So ein Einheitsstaat würde praktisch das Ende Israels bedeuten.
Würde ich in Israel leben, wäre es mir wahrscheinlich egal, ob jene, die praktisch - und wahrscheinlich ohne es wahrhaben zu wollen - die Selbstauflösung Israels befürworten, Antisemiten, Antizionisten oder schlicht weltfremd sind.
Aber bezogen auf den Diskurs in Deutschland ist es eben [i]nicht[/i] egal, ob jemand überzeugter Antisemit, ideologisch verblendet oder einfach nur politisch naiv ist.
Gregor Keuschnig - 12. Nov, 08:20

Der Vergleich mit Nietzsche ist...kühn und auch irreführend. Nietzsches Weltbild ist über Jahrzehnte teilweise Schwankungen unterworfen gewesen. Er hat nie eine stringente Philosophie vertreten (war eher aphoristisch). Und Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen werden, können aus nahezu jedem wahlweise einen Heiligen oder einen Teufel machen.

Ich wäre dafür, Broder da abzuholen, wo er steht, nämlich als ein Kolumnist des 21. Jahrhunderts. Ich ertappe mich manchmal dabei vorhersagen zu wollen, wie Broder im einen oder anderen Fall Stellung nimmt. Anfangs habe ich mich immer sehr spontan entschlossen - und lag meist falsch. Dann habe ich ein bisschen die Entwicklung in den Medien abgewartet. Wenn die Armeen sich formiert hatten, griff Broder ein. Er schlug sich zuverlässig immer auf die Seite der "Minderheitsarmee". Das kann man vom Golfkrieg '91 über seine glühende Bush-Verehrung (genauer: dessen Irakkrieg), seinem PI-Adeptentum (hier hat er inzwischen kalte Füsse bekommen) bis nach Eva Herman feststellen.

Broder ist damit blosser Provokateur, der sich in der Meinungssosse des Mainstreams nicht mit der Rolle des Narren zufrieden geben möchte, sondern den Rambo spielen will. Daher findet er nichts dabei, wenn ein abgehalfteter Sänger in einer RTL-Show den Hitlergruss macht, geisselt jedoch bei jeder Gelegenheit die Friedensbewegung. Daher steckt er sich das USA-Fähnchen mitten im Irakkrieg ans Revers und will, dass seine Tochter im Bikini in Saudi Arabien über die Strasse gehen darf. Die "Anti"-Wörter benutzt er wie Kräuter, die er um die jeweiligen Gerichte nach Belieben drappiert. Wem das Gericht nicht schmeckt, der ist selber schuld. Sein Rambotum ist nur vordergründig progressiv. Tatsächlich braucht Broder die Leute, die er verachtet, weil er sonst keine Meinung mehr hat.

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