"Ritzer"-Klischees - endlich öffentlich hinterfragt

"Ritzer" - das ist die verharmlosende bis romantisierende mediale Bezeichnung für eine Form des autoaggressiven Verhalten, dass das medial geprägte Klischee mit jungen Frauen in Verbindung bringt.

Bettina Winsemann schrieb auf "telepolis" das, was meiner Ansicht nach in jeder Zeitung, jedes Internet-Portal, jedes Fernsehprogramm gehört: Männer/Frauen machen sowas nicht!.
Gerade die Fixierung auf "Frauen = Selbstverletzung" zeigt immer deutlicher auch die Form einer von mir als "positiven -ismus" bezeichneten Logik: indem bestimmte Gruppierungen aus einer Berichterstattung herausgenommen werden oder aber ihr Geschlecht/Religion/Herkunft/Hautfarbe usw. quasi als Persilschein genommen werden, wird eigentlich genau diese Gruppierung erneut zum Ziel von Wut und Aggression.
Ich muss einräumen: das Thema ist für mich heikel, zu heikel, dass ich darüber unbefangen bloggen könnte. "Ritzen" hat nichts mit oberflächlichem Aufritzen der Haut zu tun, "Ritzer" fügen sich selbst erhebliche Schmerzen und deshalb auch erhebliche Verletzungen zu, schneiden sich die Haut tief ein.
"Ritzen" ist beileibe nicht die einzige Form der Autoaggressivität, auch nicht die verbreitetste - aber wohl jene, die sich am "attraktivsten" medial umsetzen lässt.
Typische Formen der Autoagressivität:
  • "Ritzen" - sich selbst mit scharfen Gegenständen wie z. B. Glasscherben, Rasierklingen oder Messern verletzen.
  • Sich selbst Verbrennungen oder Verbrühungen z. B. mit Zigaretten, Kerzen oder Bügeleisen zufügen
  • Sich selbst ins Gesicht oder auf den Kopf oder (bei Männern) in die Hoden schlagen, sich beißen
  • absichtlich ungesunde Ernährung
  • Magersucht
  • Bulemie
  • exzessiver Sport, über die Schmerzgrenze hinaus
  • Schlafentzug
  • bestimmte Formen des Drogenmissbrauchs, z. B. "Komasaufen"
Wie schon diese (unvollständige) Auflistung zeigt, ist am Klischee des "stillen Hilfeschreis verunsicherter junger Mädchen" wenig dran. Und die Ursachen sind genau so vielfältig wie die Ausprägungen.
In aller Vorsicht lässt sich sagen: Autoaggressive Handlungen sind Betroffenen meist nur schwer bis gar nicht kontrollierbar, ihr Verhalten unterliegt nur selten der freien Entscheidung. Außerdem sollte Autoaggressivität nicht mit Masochismus verwechselt werden.

Auslöser (nicht zu verwechseln mit den Ursachen) von Autoaggressivität sind meist Nichtigkeiten - manchmal aber auch traumatische Erlebnisse, die von Außenstehenden nicht immer als solche erkannt werden. Alltägliche Missgeschicke, wie etwa eine verpatzte Prüfung oder manchmal auch nur eine Verspätung, werden als persönliche Katastrophe empfunden. Zu Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit kommen oft Wut, Angst und Verzweiflung. Diese Stimmung steigert sich zu Selbst-Hass und dem starken Bedürfnis, sich selbst zu verletzen.
Die Betroffenen schämen sich meistens für ihr Verhalten und fühlen sich oft schuldig.

Es scheint tatsächlich so zu sein, dass junge Frauen besonders oft mit dem Drang zur Selbstverletzung zu kämpfen haben. Ein Grund kann darin liegen, dass Mädchen im Teenageralter in der Regel "reifer" sind als Jungen: Mädchen sind eher bereit, Fehler bei sich selbst zu suchen. Hinzu kommt: Mädchen leben in unserer Gesellschaft immer noch ihre Wut nicht an anderen Menschen oder Gegenständen aus, sondern sie richten Aggressionen gegen sich selbst - weil sie selbst das einzige "erlaubte" Ziel für Aggression sind.
Aber das sind relative Unterschiede. Die dadurch, dass Männer und erwachsene Frauen meistens weniger leicht erkennbare Formen der Autoagression wählen als jugendliche "Ritzerinnen", noch deutlicher Hervortreten.

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