S-Bahn, Lügen und Videos

Ab diesem Monat sollen Aufnahmen von Videoüberwachungskameras der S-Bahn Hamburg permanent gespeichert werden. Jedenfalls steht das so in einer Pressemitteilung der Hamburger S-Bahn hervor. Auch wenn jetzt angesichts der Tatsache, dass das eindeutig gegen das Bundesdatenschutzgesetz, das Bundespolizeigesetz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verstößt, die S-Bahn Hamburg zurückrudert, bleiben Fragen offen.

Susanne Härpfer rätselt in ihrem Beitrag auf
telepolis: 400.000 Augen zudrücken, wozu die intensivierte Video-Überwachung gut sein soll. Zumal das mündliche Dementi der Bahn-Security nur halbherzig klang: Michael Dominidiato, der Leiter des ServiceCenter Security, sagte zwar, dass alle Bilder, die in den S-Bahnen aufgezeichnet würden, nach 72 Stunden überschrieben würden, aber er sagte auch, dass man schon gern eine permanente Echtzeit-Beobachtung einführen, doch das werde zur Zeit "noch geprüft."

Videoüberwachung darf nur an sogenannten "gefährlichen Orten" erfolgen. Die S-Bahn aber betont ausdrücklich, dass die S-Bahn kein gefährlicher Ort sei. Dominidiato behauptete sogar: "Sie müssten eine Million mal mit der S-Bahn fahren, um einmal mit Gewalt in Berührung zu kommen".

Als S-Bahn-Benutzer halte ich diese vollmundige Aussage Dominidiatos für stark übertrieben. Sicher ist die S-Bahn zur Hauptverkehrszeit sicher, aber es ist gar nicht so lange her, dass ich, als ich bemerkte, dass am anderen Ende des Wagons jemand geschlagen wurde, mit feuchten Fingern den Notruf ins Handy tippte - feuchte Finger, weil ich verdammt Schiss hatte, dass ich das nächste Opfer sein würde.
Ich erinnere mich auch noch, und zwar ungern, an eine auf einem Polizeirevier verbrachte Nacht, wegen eines S-Bahn-Suizides, den ich zufällig mitbekommen hatte. Die Vernehmung deshalb, weil die Polizei davon ausging, dass der Mann, der vor der anfahrenden S-Bahn gelandet und zerquetscht worden war, eventuell gestoßen worden sein könnte - das Video der Überwachungskamera würde das naheliegen. Die Polizisten reagierten übrigens ausgesprochen sauer auf meine - wahrheitsgemäße - Aussage, ich hätte, als ich den Mann springen sah und ich nichts tun konnte, einfach weggesehen. Ich bin kein Held.
Übrigens sind Vorfälle, bei denen Menschen vor fahrende Züge gestoßen werden, keine Seltenheit - gerade eine Woche vorher hatte es in der S-Bahn Station Reeperbahn einen spektakulären, aber glücklicherweise glimpflich abgelaufenen Fall dieser Art gegeben.

Wenn man sich die Polizeiberichte in den Hamburger Zeitungen ansieht, dann ist die S-Bahn zwar kein extrem gefährlicher Ort, aber man muss nicht "eine Million mal fahren", um Gewalttaten zu erleben.
Trotzdem - eine permanente Speicherung der Videos, selbst wenn darüber nur "laut nachgedacht" wird, ist unverhältnismäßig.

Warum also?
Für kritische Datenschützer ist klar, wozu die Überwachungskameras eingeführt werden: "Das dient der präventiven Terrorismusbekämpfung. In einer der wichtigsten Großstädte Deutschlands werden so alle erfasst, die mit dem öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs sind. Da entsteht ein gewaltiges Bild-Potential, das nach dem Debakel des Biometrie-Versuchs in Mainz neuen Analysen dienen kann."
Ich teile diese Auffassung nicht ganz - und zwar, weil es, um die biometrische Gesichtserkennung weiterzuentwickeln, dieses "gewaltigen Bild-Potenzials" gar nicht bedarf. Ich vermute, dass es nur ganz am Rande um Terrorismus geht.
Welche Gründe führt die S-Bahn für die Überwachung an?
Neben dem "subjektives Sicherheitsgefühl", dass die Überwachungskameras angeblich den Fahrgästen vermitteln sollen, steht in der Pressemitteilung "Sie dienen der Ermittlung von Straftätern bei Gewalttaten und Fällen von Vandalismus."

Die Schäden durch mutwillige oder grob fahrlässige Beschädigungen der Wageneinrichtungen sind für den aufmerksamen Bahnfahrer kaum zu übersehen. Die Ü-Kameras sollen offensichtlich davor abschrecken. Wenn bei der Bahn-Security jemand psychologisch ein kleines Stück weiter denkt (was immerhin möglich wäre), fällt ihm sicherlich ein, dass Menschen, die sich beobachtet fühlen, anders, und zwar disziplinierter, verhalten, als solche, die sich nicht beobachtet fühlen. Dank Überwachungskamera keine Rangeleien, Schmierereien oder auch nur hochgelegte Füße in der S-Bahn! Auch wenn es fraglich ist, ob sich die 3 Millionen Euro für die Videoüberwachung so je amortisieren werden.

Da aber so ein Schuss mit Kanonen (vom Kaliber einer Panzerhaubitze) auf Spatzen / Spatzendreck nicht zu rechtfertigen ist, kommt das Argument "Terrorismus" sicher zum Zuge. Immerhin wagt es kaum noch jemand, einen Koffer einfach in den Gang zu stellen. Die Gefahr, für den anschließend erfolgten Polizeieinsatz, die Sperrung der Bahnstrecke, die Evakuierung der Fahrgäste und den Einsatz der Bombenentschärfer zivilrechtlich zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist einfach zu groß. (Strafrechtlich gibt es den Tatbestand der "fahrlässigen Vortäuschung einer Straftat" zum Glück noch nicht. Aber es gibt schon "Sicherheitsexperten", die laut über solche Gesetze nachdenken.)

Auch ist die Rechtslage der Kooperation zwischen S-Bahn und Bundespolizei unklar. Es sieht ganz so aus, als ob hier polizeiliche Aufgaben "privatisiert" werden.
Auf der Pressekonferenz der S-Bahn Hamburg fragen wir vor diesem Hintergrund nach der Rechtsgrundlage für Kooperation von S-Bahn und Bundespolizei. Da werden die Pressesprecher der Bahn rabiat, verbieten ihrem Security-Mann Michael Dominidiato weiterzureden und fordern: "Brechen Sie das Interview sofort ab, Fragen nach der Bundespolizei haben nichts mit der S-Bahn zu tun." In der Pressekonferenz hatten sie noch das Gegenteil präsentiert.
Es wird gelogen, dass sich die Bahnschwellen biegen. Und zwar schlecht!

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