Immerhin ist "Datenschutz" kein Nischenthema mehr

Wir sind das Volk - ihr seid nur gewählt!

Der Bericht auf "netzpolitik.org" über die "Freiheit statt Angst"-Demo in Berlin klingt fast schon ein wenig euphorisch:
Größte Demonstration für Datenschutz in Deutschland.

Allerdings ist das Medienecho nach wie vor verhalten, und das liegt sicher nicht nur daran, dass am selben Tag ein Fußballländerspiel mit deutscher Beteiligung stattfand und in Österreich der Kärtner Landeshauptmann Jörg Haider so starb wie er lebte: mit hoher Geschwindigkeit nach rechts abgekommen.

Dass das Medienecho so moderat ist, ist meiner Ansicht nach kein Zufall. Die Angaben zur Zahl der Teilnehmer differierten stark: Die Veranstalter sprachen von bis zu 100.000 Teilnehmern. Die Polizei zählte hingegen "in der Spitze maximal 15.000". tagesschau.de: Tausende protestieren gegen Überwachung. Auch wenn die Zahlenangaben der Veranstalter sehr optimistisch angesetzt sind, geht die Diskrepanz weit über das Übliche hinaus. Viele Teilnehmer haben sich, wahrscheinlich oft spontan, unterwegs dem Zug angeschlossen, deshalb ist jede Zahlenangabe mit Vorsicht zu genießen. Da es aber gerade "Unter den Linden" schön öfter Großveranstaltungen mit einigermaßen bekannter Teilnehmerzahl gab, lässt sich abschätzen, dass "maximal 15.000 Teilnehmer" tief gegriffen ist. Ansonsten lässt sich zur Berichterstattung nur sagen, dass es die üblichen Routine-Pressemeldungen sind - irgend so 'ne Demo über irgend so ein unspannendes Thema.
Immerhin: im Unterschied zum letzten Mal wurde keine Rangelei am Rande medial zu "massiven Ausschreitungen" aufgebläht.

Auf einen sehr wichtigen Punkt machte Sven Lüders, als Bundesgeschäftsführer der Humanistischen Union einer der Organisatoren, in einem Interview auf tagesschau.de aufmerksam:
tagesschau.de: Teile von FDP, Grünen und die Linkspartei stehen auch auf der Liste der Demo-Unterstützer. Sind das aus Ihrer Sicht die Guten?

Lüders: In vielen Datenschutzfragen fühlen wir uns natürlich den Oppositionsparteien näher. Aber natürlich wissen wir auch, dass es in der Politik immer einfacher ist, aus der Opposition zu agieren. Ich erinnere nur daran, dass viele Anti-Terror-Gesetze und die einheitliche Steuernummer unter Rot-Grün verabschiedet wurden.
Es geht beim Thema "Datenschutz" nicht um "Gut und Böse", es geht um Interessen. Und Interessen können sich, gerade in der Politik, sehr schnell ändern. Solange die FDP, die "Grünen" und "die Linke" mit Bürgerrechtsthemen punkten können, werden sie gegenüber der "großen Koalition der Verfassungsfeinde" harte Opposition sein. Das kann sich aber ändern, denn keine der Parteien der Opposition ist (noch) eine echte Bürgerrechtspartei.
Eine Regierung ist nicht automatisch an einem denkendem und politisch aktivem Volk interessiert. Im Gegenteil - ein denkendes und politisch aktives Volk ist für die Regierenden unbequem und für viele "Entscheider", egal, ob in offiziellen Ämtern oder nicht, sogar gefährlich.
Was bedeutet, dass der Schwerpunkt der Bürgerrechtsbewegung außerparlamentarisch sein muss.

Der Hauptgrund, weshalb "Datenschutz" kein "Nischenthema" mehr ist, ist wahrscheinlich der, dass die einzelnen Bürger allmählich merken, dass weder die staatliche noch die privatwirtschaftliche Datensammelwut in ihrem Interesse liegt - und dass die Sicherheitsgesetze ihre Bürgerrechte einschränken.

Datenschutz und Bürgerrechte sind auch moralische Themen. Dennoch halte ich auch in diesem Fall die anscheinend typisch deutsche Neigung, politisch-ethische Fragen "moraltheologisch", in Begriffen von "Sünde", "Schuld" und "Sühne" usw. abzuhandeln, für falsch.
"Moraltheologische" (Schein-)Argumente in Sachen Datenschutz kommen meistens von Seiten der politisch Verantwortlichen. Zum Beispiel kontern Befürworter der Vorratsdatenspeicherung (oder der Online-Überwachung, oder des zentralen Melderegisters usw. usw.) Vorwürfe, die geplante Regelung würde das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken, gern mit dem Hinweis, dass "die Bürger" doch sehr viel mehr intime Daten freiwillig "im Internet" preisgeben würden. Motto: "Datensünder dürfen sich nicht beklagen".
Das entscheidende Wort ist "freiwillig". Was ich z. B. auf diesem Blog von mir preisgebe, das entscheide allein ich. Und ob ich etwa per "Twitter" freiwillig eine Art kommentiertes Bewegungsprofil von mir veröffentliche, hängt allein von mir ab - niemand zwing mich dazu, niemand überredet mich dazu. (Ich sehe von der traurigen Tatsache ab, dass "private" Datensammlungen von den Fahrlässigkeit und der Unkenntnis vieler Bürger profitieren.)

Weil die "Gegenseite" gern mit bloßer Moraltheologie argumentiert, halte ich es für politisch unsinnig und wenig effektiv, es bei moralischen Verurteilungen zu belassen, oder ein "Gut-Böse"-Schema aufzustellen. Wenn unsere Bürgerrechte eingeschränkt werden, dann nicht, weil da ein paar finstere Typen eine Diktatur ermöglichen wollen, sondern aus klar erkennbaren Interessen heraus. Kundendaten werden schließlich auch nicht aus Schikane gesammelt sondern z. B. um gezielt zu werben, aber auch aus Angst vor nicht einschätzbaren Kreditrisiken. Hinter der behördlichen "Datensammelwut" steckt meistens nur das Streben nach mehr Effizienz - und die Angst davor, dass der Bürger jede Gelegenheit zum Missbrauch eiskalt ausnützt. Hinter dem Interesse an "mehr Sicherheit" steht immer Angst - und nicht immer ist diese Angst berechtigt.
Ich gehe davon aus, dass selbst unser Bundesinnenminister Schäuble es "gut meint" - sogar beim Einsatz der Bundeswehr im Inneren z. B. gegen Aufständische. (Aufständische gegen was?) Ihm mit moralischen Bedenken zu kommen oder an sein Gewissen zu appellieren ist daher zwecklos - sein Gewissen ist rein, er zählt sich zu "den Guten" (was er sogar ausdrücklich sagt).

Eine Demo kann nicht die Welt verändern - im besten Fall erzeugt sie Aufmerksamkeit. Moralische Appelle, wie sie auch auf dieser Demo zu hören waren, sind allenfalls gut für unsere Moral - politisch bewirken sie nichts!

Es kommt darauf an, jeden Tag gegen den Abbau unsere Rechte zu arbeiten, dem gegen staatlichen und privatwirtschaftlichen Druck, unsere Rechte aufzugeben, unsere Interessen entgegensetzen.

Nachtrag: Manches ändert sich nie. Die Berliner Morgenpost z. B. unterbietet nicht nur die Zahlenangaben der Polizei ("Mehr als 10.000 Menschen demonstrierten (...)" - nach Polizeiangaben (siehe oben) waren es 15.000) und der Veranstalter ("die Veranstalter spachen von 50.000 Teilnehmern" - Sie sprachen von 100.000!), sondern stellt auch die Vorratsdatenspeicherung falsch dar. Die Bildunterschriften unter der Klickstrecke haben es in sich: "Die Aggression der Demonstranten fokussierte sich auf Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble" - "Auch vor Geschmacklosigkeiten wurde nicht zurück geschreckt" - "Einige Poster zielten auch auf den US-Präsidenten George W. Bush, der offenbar auch für den "deutschen Überwachungsstaat" verantwortlich sein soll." ("Offenbar" wird den Demonstranten etwas in den Mund gelegt, was niemand behauptet hat.) "Freiheit ist für die Demonstranten wichtiger als Sicherheit." Der Bericht der "Mopo" beruht offensichtlich, wie auch die Berichte zahlreicher anderer Zeitungen, auf dieser Meldung von AFP, in der auch die fehlerhaften Zahlenangaben zu finden sind: Zehntausende demonstrieren in Berlin für mehr Datenschutz.

Allerdings berichteten andere Medien deutlich fairer. Hervorheben möchte ich die Berichte des Deutschlandfunks, von SpOn und (beinahe selbstverständlich) von Heise.
Trotzdem ist das Medienecho, gemessen an der Relevanz des Themas, enttäuschend.

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