5:47 Uhr ab München Hauptbahnhof - Gedanken zur ICE-Katastrophe vor 10 Jahren
Am 3. Juni 1998, 5:47 Uhr verließ der ICE 844 "Wilhelm Conrad Röntgen" den Münchner Hauptbahnhof. Sein Ziel: Hamburg-Altona. Er sollte dort nie eintreffen, denn um 10:59 Uhr prallt der entgleiste 3. Wagen gegen einen Brückenpfeiler, bei Eschede in der südlichen Lüneburger Heide. 111 Menschen starben, 88 wurden schwer verletzt beim bisher schwersten Eisenbahnunfall Deutschlands. Chronologie: Ein Radreifen führt zur Katastrophe (NDR).
Ich erfuhr vom Unglück aus dem Radio, bei der Arbeit. Es muss um 11 Uhr 30 gewesen sein, als NDR 2 sein Programm unterbrach. Zunächst war es für mich "irgend eine" Katastrophenmeldung, auf die ich reagierte, in dem ich das Radio ausstellte - lenkt nur von der Arbeit ab. (Im Nachhinein muss ich sagen: ich lenkte mich mit Arbeit ab.) Zuhause, am Nachmittag, schaltete ich den Fernseher ein, und in dem Moment hörte der Unfall von Eschede auf, "irgend eine" Katastrophe zu sein.
Ich fuhr damals relativ oft von Hamburg nach Hannover und zurück - zwar nur selten im ICE, aber die "Stelle" war mir vertraut - denn auf Höhe des Bahnhofs Eschede begegnen sich fahrplanmäßig die ICEs, und ich habe oft genug im Nahverkehrszug auf dem Nebengleis auf verspätete ICEs gewartet. Es hätte also leicht noch viel schlimmer kommen können - aber der Gegenzug war zwei Minuten vor dem Fahrplan, der ICE 844 hatte eine Minute Verspätung - deshalb begegneten sich die Züge nicht in Eschede, und es stand auch kein wartender Zug auf dem Nebengleis.
Wie am Morgen versuchte ich mich durch "Arbeit" abzulenken und zugleich die "Angelegenheit" auf eine "sachliche Ebene" zu bringen: Es wirkt vielleicht bizarr, aber ich holte meinen Taschenrechner und meine Physik-Formelsammlung und berechnete. Ich berechnete, wie viel kinetische Energie der Zug bei 200 km/h hatte (den Zahlenwert habe ich mir nicht gemerkt, war aber überrascht, wie groß er war), die beim ungebremsten Aufprall auf den Brückenpfeiler in "Verformungsarbeit" umgewandelt wurde. Ich berechnete auch die Verzögerungskräfte, der die Insassen im dritten Wagon ausgesetzt waren. In diesem Moment versagte meine "Ablenkungstaktik" - weil mir klar wurde, dass der Aufprall einem Sturz aus 160 Meter Höhe entsprach. Ich war Jahre zuvor Augenzeuge eines Suizides gewesen, ein junger Mann sprang vom Hochhaus - aus etwa 40 Meter Höhe, auf Beton. Selbst von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, wo ich stand, bot der Leichnam einen einen Brechreiz erregenden Anblick. Ich musste auch an einen Motorradfahrer denken, der beim Überholen einer Kolonne ungebremst in eine sich plötzlich öffnende Fahrertür raste - ich fuhr auf der Gegenfahrbahn. Obwohl ich mitbekam, wie der Motorradfahrer starb (denn der Körper wurde so stark deformiert, dass er den Aufprall unmöglich hätte überleben können), meldete ich mich aus Feigheit nicht als Zeuge. Der Eckel vom Selbstmord und die Selbstvorwürfe, die ich mir wegen meiner "Zeugenflucht" machte, kamen wieder hoch. Denn die arme Menschen im 3. Wagon hatte es viel schlimmer erwischt als den Selbstmörder oder den Motorradfahrer: sie wurden bei lebendigem Leib in Fetzen gerissen!
Vor diesem Hintergrund wird auch das sehr streng gehandhabte Fotografierverbot am Unfallort und die zeitweilige Nachrichtensperre bzw. das Interviewverbot verständlich. Aber wie so oft wurde deshalb die "Medienwirklichkeit" dem tatsächlichen Schrecken des Ereignisses nicht annähernd gerecht.
Es versagte aber nicht nur meine persönliche Methode der Krisenbewältigung - so wie die jeweils bevorzugte Methode bei vielen Menschen versagt haben wird. Viel schlimmer ist, dass die juristische Krisenbewältigung jämmerlich versagte.
Im August 2002 erhob die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung Anklage gegen zwei Mitarbeiter der Deutschen Bahn und einen Ingenieur des Herstellers. Im Falle eines Schuldspruchs hätte die Männer mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen müssen. Streng genommen waren das "kleine Fische", "Bauernopfer" oder die sprichwörtlichen "Letzten, die die Hunde beißen", weshalb ich nicht überrascht war, dass das Verfahren nach 53 Verhandlungstagen im April 2003 gegen Zahlung einer Geldbuße von jeweils 10.000 € eingestellt wurde. Ein unbefriedigendes Ergebnis - denn weil sich sich der Prozess, wie in unserer Kultur üblich, auf die Schuld konzentrierte, fiel der Aspekt der Verantwortung weitgehend unter den Tisch. Als Angehöriger eines Opfers wäre mir die verhängte Geldbuße zu "billig" gewesen, zumal sich die Anklagten im Prozess nicht gerade kooperativ gezeigt hatten.
Aber das ist nur ein Randaspekt des juristischen Trauerspiels. Weil in Deutschland nur natürliche Personen strafrechtlich belangt werden können, und keine Unternehmen wie die DB, bleiben die eigentlichen Verantwortlichen für die Katastrophe strafrechtlich unbelangt. Jene, denen ein gutes Image des "Produktes ICE" wichtiger war als die Sicherheit der Fahrgäste. Jene, die am falschen Ende, nämlich an der Sicherheit, sparten. Jene, die außer der Verantwortung, die sie trugen und nicht tragen wollten, auch Mitschuld am Tod von 111 Menschen traf, denn es gibt eindeutige Hinweise, dass das Management der Bahn Druck auf die Hersteller und die eigenen Ingenieure ausgeübt hatte, als die neuen Radreifen, deren Mängel zu Katastrophe führten, entwickelt wurden. Wie die Hinterbliebenen hätte ich mir den Bahnvorstand auf der Anklagebank gewünscht.
Auch die Schadenersatzregelung halte ich für unbefriedigend. Das Schmerzensgeld je Familie lag pro Getötetem bei 30.000 D-Mark. Das ist angesichts der Ausmaßes an Fahrlässigkeit und Vertuschung, ja der mutmaßlichen bewussten Inkaufnahme eines tödliches Risikos durch die Bahn eher lächerlich.
Anders als bei anderen Unfällen erwies sich der Staat und die Justiz im Umgang mit den Opfern eines schweren Unfalls als unfähig - oder unwillig - zu einer angemessenen Regelung. Ich bin, wie der Anwalt der Hinterbliebenen, der Ansicht, dass den Opfern des Eschede-Unglücks ein zweites Unrecht zugefügt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde der Hinterbliebenen mit der Begründung ab, keinerlei Verstöße gegen Grundrechte erkannt zu haben.
Der Eindruck, dass die Hinterbliebenen sich der Deutschen Bahn AG gegenüber hilflos sahen, weil genügend politische "Hausmacht" und die (finanziellen) Interessen eines staatseigenen Unternehmens im Spiel waren, bleibt. (Mehr zum Prozess: Hintergrund: Ein Prozess ohne Urteil (NDR))
Ich erfuhr vom Unglück aus dem Radio, bei der Arbeit. Es muss um 11 Uhr 30 gewesen sein, als NDR 2 sein Programm unterbrach. Zunächst war es für mich "irgend eine" Katastrophenmeldung, auf die ich reagierte, in dem ich das Radio ausstellte - lenkt nur von der Arbeit ab. (Im Nachhinein muss ich sagen: ich lenkte mich mit Arbeit ab.) Zuhause, am Nachmittag, schaltete ich den Fernseher ein, und in dem Moment hörte der Unfall von Eschede auf, "irgend eine" Katastrophe zu sein.
Ich fuhr damals relativ oft von Hamburg nach Hannover und zurück - zwar nur selten im ICE, aber die "Stelle" war mir vertraut - denn auf Höhe des Bahnhofs Eschede begegnen sich fahrplanmäßig die ICEs, und ich habe oft genug im Nahverkehrszug auf dem Nebengleis auf verspätete ICEs gewartet. Es hätte also leicht noch viel schlimmer kommen können - aber der Gegenzug war zwei Minuten vor dem Fahrplan, der ICE 844 hatte eine Minute Verspätung - deshalb begegneten sich die Züge nicht in Eschede, und es stand auch kein wartender Zug auf dem Nebengleis.
Wie am Morgen versuchte ich mich durch "Arbeit" abzulenken und zugleich die "Angelegenheit" auf eine "sachliche Ebene" zu bringen: Es wirkt vielleicht bizarr, aber ich holte meinen Taschenrechner und meine Physik-Formelsammlung und berechnete. Ich berechnete, wie viel kinetische Energie der Zug bei 200 km/h hatte (den Zahlenwert habe ich mir nicht gemerkt, war aber überrascht, wie groß er war), die beim ungebremsten Aufprall auf den Brückenpfeiler in "Verformungsarbeit" umgewandelt wurde. Ich berechnete auch die Verzögerungskräfte, der die Insassen im dritten Wagon ausgesetzt waren. In diesem Moment versagte meine "Ablenkungstaktik" - weil mir klar wurde, dass der Aufprall einem Sturz aus 160 Meter Höhe entsprach. Ich war Jahre zuvor Augenzeuge eines Suizides gewesen, ein junger Mann sprang vom Hochhaus - aus etwa 40 Meter Höhe, auf Beton. Selbst von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, wo ich stand, bot der Leichnam einen einen Brechreiz erregenden Anblick. Ich musste auch an einen Motorradfahrer denken, der beim Überholen einer Kolonne ungebremst in eine sich plötzlich öffnende Fahrertür raste - ich fuhr auf der Gegenfahrbahn. Obwohl ich mitbekam, wie der Motorradfahrer starb (denn der Körper wurde so stark deformiert, dass er den Aufprall unmöglich hätte überleben können), meldete ich mich aus Feigheit nicht als Zeuge. Der Eckel vom Selbstmord und die Selbstvorwürfe, die ich mir wegen meiner "Zeugenflucht" machte, kamen wieder hoch. Denn die arme Menschen im 3. Wagon hatte es viel schlimmer erwischt als den Selbstmörder oder den Motorradfahrer: sie wurden bei lebendigem Leib in Fetzen gerissen!
Bis zum Wochenende konnten erst 19 von 98 bis dahin geborgene Todesopfer identifiziert werden, obwohl vier Teams fast rund um die Uhr an der Zuordnung der Leichenteile arbeiteten. Viele Todesopfer waren grauenvoll verstümmelt, viele Körperteile wurden einzeln geborgen. Hans Dieter Tröger, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts der Medizinischen Hochschule Hannover und Pathologe sagte, nur in 15 Prozent der Fälle hätten er und sein Team „halbwegs vorzeigbare Fotos“ machen können.Aus der Wikipedia: ICE-Unglück von Eschede. Wer einmal mitbekommen hat, was alles ein Gerichtsmediziner für ein "vorzeigbares Foto" hält, weiß, was diese nüchterne Worte wirklich bedeuten!
Vor diesem Hintergrund wird auch das sehr streng gehandhabte Fotografierverbot am Unfallort und die zeitweilige Nachrichtensperre bzw. das Interviewverbot verständlich. Aber wie so oft wurde deshalb die "Medienwirklichkeit" dem tatsächlichen Schrecken des Ereignisses nicht annähernd gerecht.
Es versagte aber nicht nur meine persönliche Methode der Krisenbewältigung - so wie die jeweils bevorzugte Methode bei vielen Menschen versagt haben wird. Viel schlimmer ist, dass die juristische Krisenbewältigung jämmerlich versagte.
Im August 2002 erhob die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung Anklage gegen zwei Mitarbeiter der Deutschen Bahn und einen Ingenieur des Herstellers. Im Falle eines Schuldspruchs hätte die Männer mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen müssen. Streng genommen waren das "kleine Fische", "Bauernopfer" oder die sprichwörtlichen "Letzten, die die Hunde beißen", weshalb ich nicht überrascht war, dass das Verfahren nach 53 Verhandlungstagen im April 2003 gegen Zahlung einer Geldbuße von jeweils 10.000 € eingestellt wurde. Ein unbefriedigendes Ergebnis - denn weil sich sich der Prozess, wie in unserer Kultur üblich, auf die Schuld konzentrierte, fiel der Aspekt der Verantwortung weitgehend unter den Tisch. Als Angehöriger eines Opfers wäre mir die verhängte Geldbuße zu "billig" gewesen, zumal sich die Anklagten im Prozess nicht gerade kooperativ gezeigt hatten.
Aber das ist nur ein Randaspekt des juristischen Trauerspiels. Weil in Deutschland nur natürliche Personen strafrechtlich belangt werden können, und keine Unternehmen wie die DB, bleiben die eigentlichen Verantwortlichen für die Katastrophe strafrechtlich unbelangt. Jene, denen ein gutes Image des "Produktes ICE" wichtiger war als die Sicherheit der Fahrgäste. Jene, die am falschen Ende, nämlich an der Sicherheit, sparten. Jene, die außer der Verantwortung, die sie trugen und nicht tragen wollten, auch Mitschuld am Tod von 111 Menschen traf, denn es gibt eindeutige Hinweise, dass das Management der Bahn Druck auf die Hersteller und die eigenen Ingenieure ausgeübt hatte, als die neuen Radreifen, deren Mängel zu Katastrophe führten, entwickelt wurden. Wie die Hinterbliebenen hätte ich mir den Bahnvorstand auf der Anklagebank gewünscht.
Auch die Schadenersatzregelung halte ich für unbefriedigend. Das Schmerzensgeld je Familie lag pro Getötetem bei 30.000 D-Mark. Das ist angesichts der Ausmaßes an Fahrlässigkeit und Vertuschung, ja der mutmaßlichen bewussten Inkaufnahme eines tödliches Risikos durch die Bahn eher lächerlich.
Anders als bei anderen Unfällen erwies sich der Staat und die Justiz im Umgang mit den Opfern eines schweren Unfalls als unfähig - oder unwillig - zu einer angemessenen Regelung. Ich bin, wie der Anwalt der Hinterbliebenen, der Ansicht, dass den Opfern des Eschede-Unglücks ein zweites Unrecht zugefügt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde der Hinterbliebenen mit der Begründung ab, keinerlei Verstöße gegen Grundrechte erkannt zu haben.
Der Eindruck, dass die Hinterbliebenen sich der Deutschen Bahn AG gegenüber hilflos sahen, weil genügend politische "Hausmacht" und die (finanziellen) Interessen eines staatseigenen Unternehmens im Spiel waren, bleibt. (Mehr zum Prozess: Hintergrund: Ein Prozess ohne Urteil (NDR))
MMarheinecke - Dienstag, 3. Juni 2008
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