Gedanken über Magie (1)

"Magie ist die Kunst, die Sinnenwelt willkürlich zu gebrauchen." Novalis

"Magie ist die Wissenschaft und Kunst, das Bewusstsein willkürlich zu Verändern."Dion Fortune

Gestern war Walpurgisnacht - oder Beltaine, wie dieses "Hexenfest" bei Neuheiden unter Rückgriff aufs Keltische genannt wird. Anlass für mich, einige meiner Gedanken zu Magie und Zauberei (das sind ähnliche, aber nicht ganz deckungsgleiche Begriffe) kund zu tun.

Vorweg muss ich eins klarstellen: weder Magie noch Zauberei - so wie ich diese Begriffe verstehe - haben auch nur das Geringste mit "Übernatürlichem" Geschehen, mit "Wundern", die zeitweilig die Naturgesetze außer Kraft setzen, oder mit "unerklärbaren Fähigkeiten, die nur Eingeweihten zukommen" zu tun. Womit geschätzte 95 % der "Esoterik"-Literatur und geschätzte 80 % der "PSI"-Literatur vom Tisch bzw. Regal wären. Und ca. 9 von 10 Fernsehsendungen und Internet-Seiten zu diesem Thema.

Wer eine "Einführung in die Magie" erwartet, den muss ich ebenfalls enttäuschen. Ich empfehle zu diesem Thema einen schon älteren Text von Jens Scholz, der glücklicherweise nicht in den Weiten des Webs verschollen gegangen ist: "Einführung in die Magie". Einer der wenige Internet-Texte über Magie, die mit Sinn für Ironie und einer gehörigen Portion Skepsis gelesen sein wollen. (Man sollte jeden Text über Magie mit Sinn für Ironie und einer gehörigen Portion Skepsis lesen - auch diesen hier!) Sehr empfehlenswert, obwohl ich in einigen Details anderer Ansicht bin als Jens, und ich vermute, dass er manches heute anders oder gar nicht schreiben würde.

Ich beginne meine Überlegungen mit dem Thema "schwarzmagische Angriffe" und einem Blick nach Indien. Während hierzulande Menschen, die behaupten, "magische" (im Sinne von "übernatürliche") Fähigkeiten oder "PSI"-Kräfte zu haben, sich z. B. damit begnügen, Löffel zu verbiegen und dazu Geschichten zu erzählen, bei denen sich die Balken biegen, sind die Behauptungen der Kollegen im an "Wunder" und "Wundertäter" gewöhnten Indien von ganz anderem Kaliber. Es gibt Tantriker, die behaupten, auf magische Weise töten zu können.
Tantra ist bei uns im "Westen" eher im Zusammenhang mit Sexualpraktiken bekannt. Dennoch töten Tantiker nicht etwa dadurch, dass sie ihr Opfer mit viel Ausdauer in den Herztod durch sexuelle Überanstrengung treiben. Auch sollte man die indischen Tantriker nicht mit ihren esobärmlichen europäischen Gegenstücken verwechseln - die hiesigen Traurigen Tantriker sind schlimstenfalls tödlich langweilig.
Nein, ich meine indische Tanktriker vom Format eines Pandit Surinder Sharma. Sharma behauptet, im Auftrag hochrangiger Politiker zu stehen und für sie zu zaubern - unter anderem als "magischer Auftragskiller". Nach eigenen Angaben ist er in der Lage, jeden beliebigen Menschen innerhalb von drei Minuten durch Gedankenkraft töten zu können.
Sanal Edamaruku, Präsident von Rationalist International, war da skeptisch und forderte am 3. März dieses Jahres auf India TV den vorgeblich mächtigsten Tantriker des Landes heraus, seine Kräfte zu beweisen:

Hier einige Ausschnitte aus der über zweistündigen Live-Sendung. (Schon an dieser Dauer ist zu erkennen: Das mit den "drei Minuten" war wohl nichts!) Immerhin haben die vergeblichen Bemühungen des Schwarzmagiers einen großen Unterhaltungswert:
Sanal Edamaruku Challenges Tantra Part 1
Sanal Edamaruku Challenges Tantra Part 2

Sanal Edamaruku überlebte, obwohl der Tantriker sogar unfaire Mitteln (körperliche Angriffe) anwendete. Er wirkte sogar sehr amüsiert. Der Moderator brach das Experiment schließlich ab und erklärte den Tantriker zum Verlierer. Noch in selben Nacht gewährte Sanal dem Schwarzmagier eine Revanche beim "Tantra der absoluten Zerstörung".
Sanal Edamaruku Challenges Tantra Part 3.
Im Grunde unnötig zu erwähnen: Pandit Surinder Sharmas schwarzmagisches Killer-Ritual - das aus der Bollywood-Version eines Voodoo-Gruselfilms stammen könnte - bleibt abermals erfolglos.

Ein ausführlicher Bericht bei "Rationalist International": Bulletin Nr. 171 (10. März 2008) - Die Große Tantra-Herausforderung.
(Gefunden über hpd bzw. GWUP: Skeptiker vs Magier: Tod durch Tantra?)

Nun gingen die vollmundigen Behauptungen Pandit Surinder Sharmas nicht allein auf seinen Größenwahn zurück. Uma Bharati (ehemalige Ministerpräsidentin des indischen Staates Madhya Pradesh) beschuldigte ihre politischen Gegner in einer öffentlichen Erklärung, ihr mittels Tantra Schaden zugefügt zu haben. Tatsächlich hatte die unglückliche Frau innerhalb weniger Tage ihren Lieblingsonkel verloren, sich an ihrer Autotüre den Kopf gestoßen und ihre Beine mit Wunden und Pusteln bedeckt gefunden.

Wie kann ein Killer-Tantriker erfolgreich sein, auch wenn sein Hokospokus einer experimentellen Prüfung nicht standhält? Es gibt keinen Grund, herablassend über die "abergläubischen Inder" zu lachen, denn die grundlegende Mechanismen funktionieren auch bei uns.
Es geht hierbei nicht um Magie (und schon gar nicht um irgendwelche "übernatürlichen Kräfte") als vielmehr um psychologische Tricks. Jens Scholz erklärt es so:
Nun gibt es aber auch noch ganz andere "magische Angriffe": Du findest einen toten Frosch unter deiner Fußmatte oder eine Rune auf dem rechten Hinterrad. Oder jemand ruft an und raunt ein "der Teufel wird dich morgen holen!" in den Hörer. Oder du weißt, wer dich zu seinem Opfer erkoren hat und der macht jedes mal so komische Handbewegungen, wenn er dich sieht und geht dann böse grinsend davon.

Das ist dann wirklich etwas, wogegen du dich wehren musst. Allerdings geht es hier nicht um Magie, sondern um psychologische Kriegsführung. Denn was derjenige versucht, ist klar: Er setzt bedrohlich wirkende Signale, die dich beunruhigen und dadurch unkonzentriert machen sollen. Und wenn du unkonzentriert bist, passieren dir immer öfter kleine Missgeschicke, die dich um so mehr davon überzeugen, dass hier etwas nicht stimmt. Nun ist das Ego leider ein wenig doof, denn es kombiniert leider ein wenig zu einfach: Der Typ da hat gesagt, dass es mir übel ergeht, mir ist heute das Butterbrot zweimal runtergefallen, ergo der hat Schuld und beeinflusst mich (hat er ja auch gesagt). Das führt zum nächsten Schritt: Die Missgeschicke werden immer mehr, die Unsicherheit immer größer, die Überzeugung, dass dich der Kerl dort "magisch angreift" immer gewisser und so weiter. Irgendwann marschierst du über die Straße und übersiehst vor lauter Zappeligkeit den Laster, der dich prompt auf den Kühler nimmt...
Tantriker würden eine eine solch furchterregende Atmosphäre schaffen, dass selbst Menschen, die wüssten, dass nichts an der schwarzen Magie dran sei, aus Angst zusammenbrechen könnten, kommentierte ein Wissenschaftler in der Sendung. Es würde enormen Mut und starkes Selbstvertrauen erfordern, sie herauszufordern, indem man tatsächlich sein Leben aufs Spiel setzt. Indem er das tat, hätte Sanal den Bann gebrochen und denen, die seinen Triumph erlebt haben, viel von ihrer Angst genommen.

Es hätte also durchaus sein können, dass ein Probant, der sich nicht wie Sanal absolut sicher war, dass der Magier ihm nichts anhaben könne, entweder irgendwann so viel Angst bekommen hätte, dass er aufgegeben hätte oder psychisch zusammengebrochen wäre.

Es gibt, außer der völligen und bis tief in Unterbewusstsein reichenden Überzeugung "der Typ kann mir nichts anhaben", verbunden mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, noch andere Methoden, sich vor vermeintlichen und tatsächlichen "magischen Angriffen" zu schützen. Jens schlägt eine Art "Schutzschirmvisualisierung" vor, die auch bei Alltagsärger wirkt. (Sie wirkt tatsächlich.) Auch die von Außenstehenden gern belächelten Schutzkreisrituale haben in diesem Kontext einen Sinn - weniger als Schutz gegen "schwarze Magie" denn als Trick zur psychologischen Selbstverteidigung. Fromme Menschen können es auch mit Beten versuchen - in solchen Fälle hilft Beten wirksam und sofort!

Ein Rezept, das auch aus Märchen und Mythen bekannt ist, hilft besonders gut, und Sanal wendete es intuitiv mehrmals gegen den "Schadenzauber" Sharmas an:
Lachen bannt!
Wenn man die bösen, bösen und ach so mächtigen Schwarzmagier / bösen Hexen / Killer-Tantriker einfach nicht ernst nimmt, sie als die lächerlichen Figuren erkennt, die sie sind, dann haben sie kein Quentchen Macht.

Das gilt nicht nur für die Möchtegern-Schwarzmagier dieser Welt, sondern zum Beispiel auch für "dämonische", suggestive, ihr Publikum zuerst gefangen nehmende und dann an der Nase herumführende Redner.

Meisterhaft setzte Charlie Chaplin diese Mittel in seinem Film "Der große Diktator" ein, und zwar in seiner berühmten Parodie auf eine typische Hitler-Rede, gehalten in einer wage deutsch und sehr nach Hitler klingenden, grotesken Phantasie-Sprache. Damit lenkt Chaplin die Aufmerksamkeit auf die perfekt nachgeahmte Körpersprache und auf die im Grunde einfachen schauspielerischen Tricks Hitlers.
Wer einmal richtig über diese Parodie gelacht hat, der wird wahrscheinlich später auch das "Original" so lächerlich finden, wie es tatsächlich war.
Wenn heute Hitlers Redestil, und damit auch der Stil seiner zahlreichen Nachahmer, bei den meisten Zuhörern eher lächerlich als "ergreifend" oder "dämonisch" wirkt, dann ist das zum großen Teil Chaplins Können zu verdanken.

In meinem Sinne ist Chaplins ein genialer Magier - ohne Tricks und doppelten Boden, ohne Psi-Phänomene und übernatürliche Kräfte.

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